1 Migration – ein Überblick
1.1 Begriffsbestimmung
Um bei dieser komplexen Thematik den Überblick zu bewahren, sind klare Definitionen erforderlich. Auf die Frage, wer ein Migrant ist, gibt Machleidt (2007, S. 3) die vielleicht eingängigste Antwort: „Migranten sind Überschreiter von Kulturgrenzen und Wanderer zwischen ethnischen Welten. Migranten sind die Symbolfiguren des Fremden schlechthin. Was aber ist Migration und wer ist ein Migrant? Wir kennen die Definition schon lange: Migration bedeutet die Verlagerung des ständigen Aufenthaltsortes für lange Zeit oder auf Dauer in eine andere Kultur. Migration geht mit dem Verlassen der Ursprungskultur und dem prozessualen Hineinwachsen in die Aufnahmekultur einher. Migranten sind demnach alle Personen, die ihren Wohnsitz freiwillig oder unter Zwang in ein anderes Land verlegen wie Aus-, Zu-, Abwanderer, Arbeitsmigranten (Gastarbeiter), (Spät-)Aussiedler, Exilanten, Vertriebene, Kriegsflüchtlinge, Kontingentflüchtlinge, Asylsuchende, politisch Verfolgte, illegale Zuwanderer und Remigranten.“
Unter dem Begriff werden demzufolge „sehr unterschiedliche Lebensschicksale mit äußerst heterogenen Bedingungen, Motivationen und Erfahrungen zusammengefasst, die lediglich als dünne Gemeinsamkeit haben, nicht der Mehrheitsgesellschaft anzugehören, sondern primär aus einer anderen Region, einem anderen Land bzw. einem anderen kulturellen Umfeld zu kommen.“ (Assion 2005, S. 133).
Die Gruppe der Migranten unterscheidet sich also u. a. hinsichtlich der folgenden Aspekte (vgl. Kizilhan 2007, S. 55):
- sozioökonomischer Status
- Aufenthaltsdauer im Aufnahmeland (1., 2., 3. Generation)
- Wanderungsmotive (Familienzusammenführung, Arbeitsmarkt, Flucht, traumatische Erfahrungen etc.)
- Rechtsstatus
- kulturelle Hintergründe
Merke: Migration bedeutet nicht nur, seine Heimat bzw. sein Geburtsland zu verlassen, sondern ebenfalls vertraute – auch stützende Systeme – hinter sich zu lassen und sich in neue hineinzufinden! Migration ist eine Erfahrung, in der sich eine Familie oder ein Individuum auf eine Reise durch viele Phasen und soziale Systeme begibt und sich dabei eine neue Heimat schafft (vgl. Eimmermacher et al. 2004, S. 9; von Wogau 2004, S. 46).
Mit Blick auf die historischen und aktuellen Entwicklungen fand in Deutschland der Begriff „Menschen mit Migrationshintergrund“ zunehmend Anwendung, der deutlich weiter greift.
Definition: Einen Migrationshintergrund haben Ausländer, im Ausland Geborene und nach dem 1. Januar 1950 Zugewanderte, Eingebürgerte sowie Kinder, bei denen mindestens ein Elternteil in eine der genannten Kategorien fällt.
Abb. 1: Personengruppe mit Migrationshintergrund (Quelle: Robert Koch-Institut 2008, S. 11)
Im Jahr 2007 (vgl. Bundesministerium des Innern 2008, S. 15 ff.) hatten 15,1 Mio. der insgesamt 82,4 Mio. Einwohner in Deutschland einen solchen Migrationshintergrund. Davon waren etwa 7,8 Mio. Deutsche und ca. 7,3 Mio. Ausländer. Der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung lag bei 18,4 %.
Eine Differenzierung der Personen mit Migrationshintergrund zeigt, dass die größte Gruppe mit 36,9 % Menschen mit eigener Migrationserfahrung stellen, d. h. die selbst nach Deutschland zugewandert sind. 11,3 % der Personen mit Migrationshintergrund sind Menschen, die in Deutschland geboren wurden (zweite oder dritte Generation). Insgesamt besitzen 48,2 % der Personen mit Migrationshintergrund nicht die deutsche Staatsangehörigkeit.
Deutsche mit Migrationshintergrund stellen dagegen 51,8 % der Personen mit Migrationshintergrund. Davon entfallen 20,9 % auf selbst zugewanderte Eingebürgerte und 3,0 % auf Eingebürgerte ohne Migrationserfahrung. 11,1 % aller Personen mit Migrationshintergrund sind deutsche Zuwanderer, die nicht eingebürgert wurden. Bei den restlichen 16,8 % handelt es sich um Deutsche ohne eigene Migrationserfahrung. Dies sind zum einen Kinder von Eingebürgerten, Spätaussiedlern oder Ausländern, zum anderen Kinder mit einseitigem Migrationshintergrund, bei denen nur ein Elternteil Eingebürgerter, Spätaussiedler oder Ausländer ist. Insgesamt sind etwa zwei Drittel der Personen mit Migrationshintergrund selbst Migranten (erste Generation), während knapp ein Drittel bereits in Deutschland geboren wurde (zweite oder dritte Generation).
Mit etwa 2,5 Mio. Menschen stellen Personen türkischer Herkunft die größte Gruppe innerhalb der Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Dies entspricht einem Anteil von 16,5 % an allen Personen mit Zuwanderungsgeschichte. 6,2 % haben einen russischen, 5,6 % einen polnischen und 5,0 % einen italienischen Hintergrund. Dabei zeigt sich, dass insbesondere Personen mit einem Migrationshintergrund aus den ehemaligen Anwerbestaaten überproportional häufig keine eigene Migrationserfahrung besitzen, d. h. bereits in Deutschland geboren sind. So sind 43,4 % der Personen italienischer, 40,8 % türkischer und 38,4 % griechischer Herkunft nicht selbst nach Deutschland zugewandert. Dagegen zählen bislang noch relativ wenige Personen polnischer (15,2 %), rumänischer (12,4 %), russischer (7,2 %) und kasachischer (4,1 %) Herkunft zur zweiten oder gar dritten Generation.
Abb. 2: Ausländer nach der häufigsten Staatsangehörigkeit (Statistisches Bundesamt)
Persönliche Migrationsgeschichte
Frau Elvira Visnjic, Migrationspädagogin an der LVR-Klinik Düren, erzählt im Folgenden ihre ganz persönliche, ereignisreiche Migrationsgeschichte:
„Mein Vater kam 1970 als Arbeitsmigrant nach Deutschland. Wenn ich ihn frage warum, dann lautet die Antwort: ‚Ich wollte eigentlich schon immer nach Amerika!‘. Die Sehnsucht nach Amerika ist seine ganz persönliche Geschichte. Er ist ein Nachkriegskind in Zeiten von Titos Jugoslawien und migrierte in das Land des ‚Feindvolkes‘, zu den Faschisten, die Hans oder Heinz hießen, pedantisch ‚jawohl‘ und ‚Achtung!‘ schrien – so die verständnislose Version seiner Eltern. Er aber machte sich auf den Weg, um sich einen Traum zu erfüllen, ein Stück weit, nachdem er sozusagen jahrelang vorher in Jugoslawien binnenmigriert war, die Welt zu sehen.
Er entschied sich relativ schnell, seine Frau, meine Mutter, nachzuholen – gegen die Vorurteile seiner Familie, denn Deutschland galt als unmoralisch, erst recht für eine Frau.
Beide erwartete sofort ein Arbeitsvertrag! ‚Wir waren jung und gesund, sie haben nur die Gesunden genommen‘, sagt meine Mutter. Sie meint damit die Kontrolluntersuchungen, um zu überprüfen, ob der zukünftige Gastarbeiter überhaupt arbeitstauglich ist. Ich glaube, diese Untersuchung bei einem Arzt war sogar ihre erste.
Nach meinem Vater kam fast das ganze Dorf, der ganze (männliche) Clan väterlicherseits, hinterher gereist; es reizte die Aussicht, maximal ein Jahr in einer Fabrik zu arbeiten, Geld zu sparen und wieder zurück in die Heimat zu gehen.
Rückblickend wissen wir jetzt aber: Aus einem Jahr wurden dreißig, vierzig Jahre. Als ich im Jahre 1973 geboren wurde, wurde der Anwerbestopp für ‚Gastarbeiter‘ ausgemacht. Die Ölkrise hatte die Welt fest im Griff, ich aber wurde noch als Baby in die liebevolle Obhut meiner Großeltern – natürlich dem patriarchalischen System folgend – väterlicherseits gegeben. Meine Eltern entschieden erneut, nur noch ein Jahr, höchstens, zu arbeiten, um dann als Kleinfamilie im eigenen Haus in einer Stadt mit Universitäten (wegen uns Kindern) nach Jugoslawien zu remigrieren.
Es kam, wie bei vielen Migranten dieser Generation, ganz anders, denn vor meinem fünften Geburtstag kam ich wieder zurück zu meinen Eltern nach Deutschland, mein eigentliches Geburtsland. Hinter meinen kleinen Schritten in die Migration verbarg sich im Grunde ein Gesinnungswandel innerhalb unserer Familie: Die Entscheidung fiel für Deutschland, es gab kein greifbares Zurück mehr. Meine Eltern waren in den Achtzigern immer noch jung, Krankheit galt als dem Alter vorbehalten, das Privileg der Jugend war der Glaube an immerwährende Gesundheit. Das deutsche Gesundheitssystem nahmen sie damals nur bei Impfungen der Kinder bzw. während den drei Schwangerschaften und Geburten meiner Mutter in Anspruch.
Meine Großmutter war im Dorf als Heilkundige bekannt, wenn z. B. jemand aus der Nachbarschaft Ängste, Schlafstörungen oder Sorgen hatte, kam er zu ihr; sie kannte Koranrezitationen oder andere Verse, beherrschte die Methode des Bleigießens und heilte seelische Erkrankungen auf diese überlieferte Weise. Die Großmutter meiner Mutter konnte angeblich sogar die Gelbsucht bei jungen Mädchen heilen.
Heilkundige, Geistliche, sei es nun ein orthodoxer Pope oder ein muslimischer Hodscha, werden immer noch, auch parallel zum westlichen Gesundheitssystem, in Anspruch genommen. Der Glaube an den sowohl positiven als auch negativen Einfluss äußerer Faktoren auf den Körper, die Krankheit und die Gesundheit eines Menschen ist auf dem Balkan tief verwurzelt. Auf der einen Seite gelten bestimmte archaische Heilrituale oder...