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E-Book

Soziale Arbeit mit psychisch kranken Kindern und Jugendlichen

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783170295070
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Die Soziale Arbeit mit seelisch behinderten und psychisch kranken Kindern und Jugendlichen bildet ein expandierendes Berufsfeld für Sozialpädagogen und Sozialarbeiter. Dieses Lehrbuch liefert dafür die wichtigsten Basisinformationen. Autoren aus Hochschule und Praxis machen die Anforderungen in den einzelnen Arbeitsfeldern der Psychiatrie, Jugendhilfe, Schule und Ausbildung transparent und vermitteln die notwendigen Kompetenzen für professionelles Handeln. Ausgehend von der Verknüpfung von medizinisch-psychiatrischem und sozialpädagogischem Wissen werden die Versorgungssysteme und ihre Aufgaben beschrieben, gefolgt von der ausführlichen Erörterung der sozialpädagogischen Fragestellungen, Arbeitsziele und Methoden in den diversen Handlungsfeldern.

Prof. Dr. Silvia Denner lehrt an der Fachhochschule Dortmund Sozialmedizin und Psychiatrie.

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Leseprobe

Zur Bedeutung von Neurobiologie, Psychodynamik sowie Medikation für sozialpädagogisches Fallverstehen und adäquate Hilfeprozesse


Silvia Denner

Im Rahmen der Erziehung, Bildung und Förderung der Entwicklung des jungen Menschen müssen Soziale Fachkräfte ein Fallverstehen entwickeln, das ihnen ermöglicht, professionell ihre Handlungen und Entscheidungen im Hilfeprozess zu planen und zu begründen.

Das sozialpädagogische Fallverstehen beinhaltet verschiedene Perspektiven:

  • Es ist vorrangig darauf ausgerichtet, subjektive Sinnzusammenhänge zu verstehen sowie Erziehung und Bildung zu ermöglichen.
  • Es bedient sich keines Diagnosemanuals, sondern ist eine schrittweise Annäherung mit immer hypothetischen Erkenntnissen.
  • Es bezieht sich sowohl auf das Klienten- als auch auf das Hilfesystem.
  • Es erfordert Perspektivenvielfalt (vgl. Adler, Schrapper, 2004, S. 91 ff.).

Ungeachtet der jeweils spezifischen Anliegen und Zielsetzungen der einzelnen Einrichtungen und Hilfesysteme, in denen Soziale Fachkräfte arbeiten, bleibt das sozialpädagogische Fallverstehen die Grundlage ihrer Arbeit. Darüber hinaus können Beiträge aus anderen Disziplinen das sozialpädagogische Fallverstehen bezüglich der komplexen Problematik von psychisch beeinträchtigten jungen Menschen ergänzen.

Im Folgenden werden dazu Beiträge aus der Hirnforschung (Kapitel: Neurobiologie), aus der psychodynamischen Therapieforschung (Kapitel: Psychodynamik und Interaktionsstil) sowie aus der Diskussion zur Medikation von Kindern und Jugendlichen (Kapitel: Auswirkungen medikamentöser Behandlung auf den Hilfeprozess) kurz und exemplarisch vorgestellt und hinsichtlich ihrer Relevanz für das sozialpädagogische Fallverstehen diskutiert.

1 Neurobiologie


Die Ursachen und der Verlauf von psychischen Störungen und Krankheiten sind durch vielfältige Faktoren bedingt. Fachkräfte der Sozialen Arbeit verfügen in der Regel über ein gutes Wissen über die Zusammenhänge von psychosozialen Faktoren bei der Entwicklung von psychischen Gesundheitsproblemen. Wie psychologische und psychiatrische Forschungen nachgewiesen haben, spielen aber auch biologische Faktoren – insbesondere neurobiologische Abläufe – bei der Entstehung sowie beim Verlauf von psychischen Störungen eine wichtige Rolle.

Unter neurobiologischen Abläufen sind die elektrischen, biochemischen und hormonellen Prozesse im zentralen Nervensystem zu verstehen, die das Denken, Fühlen und Handeln begleiten bzw. deren Grundlage bilden. Neurobiologische Störungen können Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung, ihrem Verhalten und ihrer psychischen Befindlichkeit schwer beeinträchtigen. Die Ursachen für neurobiologische Störungen sind sehr unterschiedlich. Sie können durch die genetische Ausstattung, durch schädigende Einwirkungen auf das sich entwickelnde Gehirn sowie durch traumatische psychosoziale Faktoren begründet sein. Alle genannten Faktoren stehen in Wechselwirkung mit der Umwelt. Die folgenden Ausführungen sollen diese Thematik an einigen Beispielen verdeutlichen.

1.1 Genetik


Für eine Reihe von psychischen Störungen wird angenommen, dass genetische Vorbelastungen wirksam sind. Dies gilt schon lange für die Schizophrenie, die manischdepressive Erkrankung und den Autismus. Aber auch für ADHS (Aufmerksamkeitsstörung), chronische multiple Tics (Tourettesyndrom), Essstörungen, Zwangsstörungen bis hin zu Persönlichkeitsstörungen werden genetische Einflussfaktoren beschrieben.

Die Bewandtnis für die Soziale Arbeit soll hier am Beispiel der Schizophrenie verdeutlicht werden. Die Schizophrenie ist eine psychische Erkrankung, die mit Halluzinationen, Wahn, Wahrnehmungsverzerrungen sowie Denk- und Sprachstörungen verbunden ist. Etwa 1 % der Bevölkerung ist davon betroffen. Die Störung kann als einmaliges Ereignis im Leben stattfinden, aber auch mehrmals auftreten. Bei chronischem Verlauf kann sie dazu führen, dass die betroffenen Jugendlichen ihre schulische und berufliche Ausbildung nicht abschließen können und sozial isoliert leben. Die Erkrankung geht mit einer Vielzahl hirnorganischer Veränderungen sowie biochemischer Auffälligkeiten im Neurotransmitterstoffwechsel einher. Als Ursache werden neben möglichen frühkindlichen Hirnschädigungen vor allem genetische Faktoren gesehen. Dies belegen viele Familien-, Adoptiv- und Zwillingsstudien. Mit dem Ausmaß der erbgenetischen Belastung steigt dementsprechend das Erkrankungsrisiko.

Tab. 1: Durchschnittliches Erkrankungsrisiko für Schizophrene (nach Gottesmann, 1993)

Verwandtschaftsgrad

Prozent

Allgemeinbevölkerung

1

Vettern

2

Neffen/Nichten

4

Halbgeschwister

5

Geschwister

9

Kinder (ein Elternteil krank)

13

Kinder (beide Elternteile krank)

46

Zweieiige Zwillinge

17

Eineiige Zwillinge

48

Eine genetische Vorbelastung muss aber nicht zwangsläufig zu einer psychischen Erkrankung führen. Vielmehr ist sie als biologisch angelegte Bereitschaft zu deuten, die sich unter vielfältigen biopsychosozialen Belastungen und Stressfaktoren manifestiert.

Biologische Stressoren sind u.a. Drogen, die deshalb ein Risiko bilden, weil sie in den Gehirnstoffwechsel eingreifen. Die Veränderung des Gehirnstoffwechsels beinhaltet bei genetisch vorbelasteten Jugendlichen die Gefahr, dass sich eine Schizophrenie entwickeln kann. Untersuchungen ergaben, dass junge Schizophrene, die in ihrer Vorgeschichte Cannabis konsumiert hatten, in jüngeren Jahren erkranken als Schizophrene ohne entsprechenden Konsum. Das heißt, der Cannabis-Konsum kann bei anfälligen Menschen den Ausbruch einer Schizophrenie beschleunigen (Arendt et al, 2005). Bei bereits an einer Schizophrenie erkrankten jungen Menschen besteht bei Cannabiskonsum ein größeres Risiko, dass die Krankheit chronisch verläuft (Grech et al, 2005). Ein weiteres biologisches Risiko, das zu einer Verschlechterung der Symptomatik bei den Betroffenen führen kann, ist eine Verschiebung des Tag-Nacht-Rhythmus, z.B durch nächtelange Diskothekenbesuche oder lange Flüge mit großer Zeitverschiebung.

Psychosoziale Stressoren sind belastende Lebensereignisse wie Verlustereignisse (z. B. Tod eines Elternteils, Scheidung der Eltern) oder extrem ungünstige persönliche Erfahrungen in Schule, Familie oder im engen Freundeskreis. So kann beispielsweise ein Jugendlicher mit einer schizophrenen Veranlagung in einer emotional stabilen Familie ohne Manifestation der Erkrankung bleiben, während sich sein Risiko zu erkranken bzw. krank zu bleiben in einer sehr konfliktreichen, emotional ambivalenten oder übergriffigen Familie unter Umständen erhöht.

Die Pubertät bildet eine biologische wie psychosoziale Belastung. In dieser Entwicklungsperiode müssen in einem engen Zeitraster viele neurobiologische Reifungsprozesse sowie neue psychosoziale Anforderungen bewältigt werden. Diese Reorganisation der körperlichen und der psychischen Struktur kann für den genetisch vorbelasteten Jugendlichen zu einer Überforderung werden, die die Erkrankung auslöst. So liegt auch der erste Häufigkeitsgipfel für die Schizophrenie in der Pubertät und dem jungen Erwachsenenalter (Remschmidt, 2006, S. 76).

Alle genannten Stressoren und Belastungen sind nicht als Ursache der Erkrankung zu verstehen, sondern als deren mögliche Auslöser zu werten.

Soziale Fachkräfte können das neurobiologische Risiko nicht aufheben, aber sie können bei der Berücksichtigung der besonderen Verletzlichkeit dieser Jugendlichen neue Entwicklungschancen bereitstellen. Die Aufgabe Sozialer Fachkräfte kann u. a. darin bestehen, diesen Jugendlichen zu helfen, Bewältigungsmechanismen und Stressvermeidungsstrategien zu finden und den bisherigen Lebensstil der veränderten Situation anzupassen. Auch die Eltern brauchen Unterstützung. Sie sind durch die krankheitsbedingten Veränderungen ihres Kindes sehr verunsichert und fragen nach den Ursachen und Konsequenzen der Erkrankung. Häufig leiden sie unter schweren Versagens- und Schuldgefühlen. Das Erziehungsverhalten der Eltern wurde in der Vergangenheit von vielen Wissenschaftlern und professionellen Helfern als alleiniger ursächlicher...

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