Abschied vom kleinen Unterschied
Gibt es sie wirklich, die wesensmäßigen Unterschiede zwischen Männern und Frauen? Um diese Frage ausreichend beantworten zu können, sollten wir uns erst einmal klarmachen, was man unter einem Geschlecht eigentlich versteht und wozu die Unterscheidung von Männern und Frauen in unserer Gesellschaft dient – also, wozu wir sie im täglichen Zusammenleben brauchen.
VON FRAUEN UND MÄNNERN
Es liegt auf der Hand, dass die Geschlechterbezeichnungen »Mann« und »Frau« immer dann herangezogen werden, wenn es um die biologischen Verschiedenheiten geht. Will man etwa die Fortpflanzungsvorgänge der Gattung Mensch erklären, kommt man um die von der Natur gegebenen Geschlechterunterschiede nicht herum. Schon lange bevor der Mensch auf der Bühne der Evolution auftauchte, war die genetische Ausstattung zahlreicher Lebewesen auf je zwei Vertreter einer Art aufgeteilt. Einer von beiden liefert die für die Fortpflanzung notwendige Samenzelle, der andere die Eizelle. Aufgrund dieses biologischen Arrangements sind zahllose Variationsmöglichkeiten für den Gen-Pool möglich. Das wiederum erhöht die Überlebenschancen einer Art. Eine Folge dieser Aufteilung ist, dass bei der Gattung der Säugetiere immer der weibliche Part den Nachwuchs in sich trägt und gebärt. Als Mann bezeichnet man den nicht gebärenden, zeugenden Elternteil.
Typisch männlich? Typisch weiblich?
Ganz anders sieht die Sache bei den sozialen Merkmalen aus, die »Mann« und »Frau« zugeschrieben werden. Hinsichtlich der Eigenschaften, die beide Geschlechter benötigen, um in Beziehungen miteinander klarzukommen, hat die Natur kaum Vorgaben gemacht. Welche Fähigkeiten Männer und Frauen entwickeln, welches Verhalten erlaubt und verboten ist, das hängt nicht von Genen oder Hormonen ab, sondern von der jeweiligen gesellschaftlichen Organisation, in der sie leben. Aus diesem Grund hat sich die Vorstellung davon, was männlich und was weiblich ist, im Lauf der Zeit und abhängig von den jeweiligen Lebensumständen stets verändert. Stärker, als dies den meisten von uns bewusst ist.
Wie eine Gesellschaft die Rollen bestimmt
Könnte man den Lebensalltag aller ehemaligen, jetzigen und zukünftigen Völker und Kulturen dieser Erde auf einen riesigen Globus projizieren, dann würde einem sofort die soziale Bestimmung männlicher und weiblicher Eigenschaften ins Auge fallen. Diese sind sehr unterschiedlich: So könnten wir bei bestimmten Kulturen beobachten, dass sich Männer für Frauen schön machen, um begehrenswert zu erscheinen und andere, bei denen es sich genau umgekehrt verhält. Bei anderen Völkern würde man Frauen sehen, die allein die politische Verantwortung tragen, während Männer davon ausgeschlossen sind und wieder andere, bei denen das Gegenteil der Fall ist.
Dann gäbe es Verbände, die in Sippen leben und andere mit Kleinfamilienstrukturen. Dabei würde der Beobachter feststellen, dass die Frauen in den Sippen sehr viel unabhängiger von Männern sind und stärker und selbstbewusster als Frauen in Kleinfamilien. Auch würde man Frauen sehen, die ihre empfindliche Haut vor Staub und Sonne schützen, aber auch andere, die Rennwagen fahren oder als Soldatinnen in den Krieg ziehen. Auf dem Globus der Geschlechter könnte man kein einziges Verhalten ausmachen, das grundsätzlich für ein bestimmtes Geschlecht reserviert ist und das dem anderen unmöglich wäre.
Lediglich aus der begrenzten Sichtweise einer einzelnen Kultur und einer bestimmten Zeit heraus mag die Verhaltensfestlegung der Geschlechter nicht als sozial bestimmt, sondern als naturgegeben erscheinen. Auch in unserer Kultur sieht vieles naturgegeben aus, das aber eigentlich sozial vorbestimmt ist. So mag es zwar zutreffen, dass Männer meist über mehr Muskelkraft verfügen als Frauen. Aber was daraus folgt, hängt allein von den sozialen Gegebenheiten ab. Die Körperkraft eines Menschen spielt nur bezogen auf Kampf- und Kriegshandlungen oder bei schwerer körperlicher Arbeit eine Rolle und dort auch nur bei einer unterentwickelten Technik, etwa wenn es um den Kampf zwischen zwei Menschen geht. Geht es Gewehr gegen Gewehr oder gar Drohne gegen Drohne, dann nutzt Muskelkraft nichts, weshalb Frauen heutzutage in den Armeen dem Handwerk des Tötens ebenso effektiv nachgehen, wie Männer das tun. Auch schwere körperliche Arbeiten werden seit Jahrzehnten größtenteils von Maschinen übernommen.
Herrschaftsverhältnisse = Geschlechterverhältnisse
Auch bei der Frage, ob sich nun Männer oder Frauen besser eignen, um die politischen Geschicke einer Gemeinschaft zu lenken, handelt es sich um keine der jeweiligen biologischen Ausstattung, sondern allein um eine der jeweiligen Herrschaftsverhältnisse. Wer in einer Gesellschaft die politische Verantwortung trägt, beispielsweise in einem kleinen Stamm die Geschicke seiner Sippe lenkt oder einem Land als PremierministerIn vorsteht, ist nicht erblich dazu bestimmt. Dies hängt in jedem Fall von der Selbstorganisation der jeweiligen Gesellschaft ab.
Dass sich die Geschlechter hinsichtlich ihrer sozialen Eigenschaften nicht unterscheiden und Männer und Frauen gleichermaßen zu jedem erdenklichen Verhalten imstande sind, ist für viele Menschen immer noch schwer vorstellbar, nicht zuletzt deshalb, weil hierüber zahllose Mythen kursieren. Auch werden von den Vertretern einer biologistischen Begründung für geschlechtsgebundenes Verhalten, – also einer, die auf die biologischen Unterschiede von Mann und Frau und daraus angeblich resultierende menschliche Verhaltensweisen und gesellschaftliche Zusammenhänge abhebt – oft falsche oder scheinwissenschaftliche Darstellungen verbreitet. Aufgrund neuerer Studien fällt es allerdings immer leichter, diese rückwärtsgewandten Argumentationen zu entkräften. Solche und andere Beispiele zeigen, dass es sich bei der Definition von Geschlechtern immer um gesellschaftliche Konstruktionen handelt, deren Festlegungen sich je nach den herrschenden Umständen wandeln können. So etwas wie ein »natürlich« männliches oder weibliches Verhalten gibt es schlicht und einfach nicht. Dies jedoch in aller Ausführlichkeit darzustellen würde den Rahmen dieses Buches sprengen. An dieser Stelle möchte ich aber auf andere Quellen und Veröffentlichungen, wie etwa »Die Geschlechterlüge« der Neurowissenschaftlerin Cordelia Fine verweisen siehe >. Diese widmen sich dem Einfluss von Genen, Hormonen oder Gehirnstruktur auf die Geschlechter und lassen nicht mehr viel von einem vorgegebenen geschlechtsspezifischen Verhalten übrig.
SCHLUSS MIT ÜBERHOLTEN KLISCHEES
Eine bei Biologisten beliebte Behauptung lautet, Frauen seien aufgrund ihrer naturgegebenen Ausstattung mit weniger sexueller Lust (Libido) ausgestattet als Männer und daher naturgemäß auch treuer. Dies habe ich ausführlich in meinem Werk »Von wegen Venus und Mars« widerlegt, siehe >.
Die Biologin und Spiegel-Autorin Rafaela von Bredow fasst weitere Fakten zusammen, die ganz und gar nicht zur These der sexuell antriebslosen Frau passen: »Warum – falls das Naturgesetz vom treuen Kuschelheimchen ohne große Libido tatsächlich Gültigkeit hätte – versuchen dann Männer auf der ganzen Welt, Frauen mit eingeschnürten Füßen (China), verschleierten Gesichtern und Körpern (wie in islamischen Kulturen) und abgetrennter Klitoris (in einigen Regionen Afrikas und in den USA als ›Berichtigung‹ an weiblichen Säuglingen mit größerer Klitoris) vom Fremdgehen abzuhalten? (Quelle: Der Spiegel 30 / 2000, »Das wahre Geschlecht«)«
Die von der Natur zu Zurückhaltung, Passivität und eingeschränkter Lust verurteilte Frau, von der das Bundesverfassungsgericht noch im Jahr 1957 behauptete: »Schon die körperliche Bildung der Geschlechtsorgane weist für den Mann in eine mehr drängende und fordernde, für die Frau mehr hinnehmende und zur Hingabe bereite Funktion auf«, gibt es nur in den Köpfen konservativer Forscher und oberflächlicher Autoren. Frauen sind sexuell genauso aktiv und fordernd wie Männer – wenn sie es wollen und gelassen werden. Das belegen auch die folgenden Ausführungen des Ethnologen Hans Peter Duerr (siehe >): »Die Mädchen und Frauen der Kaulong auf Neubritannien [Papua-Neuguinea] beispielsweise galten in sexueller Hinsicht als äußerst aggressiv und draufgängerisch, und diese Eigenschaften wurden bereits in der frühen Kindheit erzieherisch unterstützt, während man die Buben anhielt, sich gegen die Mädchen nicht zu wehren, sondern zu fliehen. In fortgeschrittenem Alter boten die jungen Mädchen den Männern Tabak oder gekochte Nahrung für ihre Liebesdienste und zeigten sie sich unwillig, griffen die Mädchen häufig zu Gerten oder Stöcken und schlugen auf die jungen Männer ein oder bedrohten sie mit dem Messer, wobei sich diese nur mit Worten zur Wehr setzen durften.«
Verhalten ist veränderbar
Sie sehen, kein menschliches Verhalten ist naturgegeben, sondern immer sozial veränderbar. Denn wäre ein Mann genetisch auf ein bestimmtes Rollenverhalten festgelegt, so wäre er auf Gedeih und Verderb an diese Vorgaben gebunden und könnte sich nicht aus diesem Korsett befreien. Das Gleiche gilt natürlich auch für Frauen. Dann bräuchten Sie sich als Partnerin Ihres Mannes und Leserin dieses Buches auch keine Gedanken über den Umgang mit Ihrem Mann zu machen, denn es wäre ja nur ein ganz bestimmter, rollenspezifischer Umgang miteinander möglich. Ihr Mann wäre dann wie alle anderen Männer und so, »wie diese eben sind«, und keine Frau der Welt – Sie auch nicht! – könnte deren...