I.
____
Das Phantom der Oper
Jacob Miller liebte Toronto. In Gedanken war er jeden Tag dort. Er war zwar Amerikaner und lebte in einer schneereichen Stadt in den USA, aber in seinem Büro zu Hause hing eine kanadische Flagge mit den breiten roten Streifen und dem roten Ahornblatt. Und ein Papierausdruck der Flagge war an die Wand zwischen Küche und Esszimmer geklebt. Auch an der Heckscheibe seines Wagens war eine Flagge befestigt, die seine Vorliebe verriet. Wenn er sich im Winter sportlich kleidete, zog er am liebsten eine Jacke an, auf deren Rücken groß und unübersehbar das Blatt genäht war.
Hätte er im Lotto gewonnen, hätte er sich zur Ruhe gesetzt und wäre nach Toronto gezogen. Und hätte er seine eigene Welt erfinden dürfen, wäre der gesamte Planet von dieser Stadt beherrscht gewesen. »Als unser Sohn zur Welt kam, wollte ich ihm gern einen Namen mit T und R am Anfang geben«, erzählte er und musste über sich selbst lachen. »Tristan, Troy, Trice. Den Grund dafür verriet ich meiner Frau nicht. Ich sagte also nicht: ›Weil mich das an Toronto erinnert.‹ Sie erklärte: ›Wir werden ihn nicht Tristan nennen, denn dann würden ihn die anderen Kinder auslachen. Und auch nicht Troy. Und was für ein Name soll Trice denn bitte sein?‹«
Toronto war ein Ort, an dem jeder akzeptiert wurde. Als er während der Neunziger mit gut zwanzig einmal dort gewesen und über die Yonge Street spaziert war, hatte er jugendliche Punker gesehen, Eltern mit Kinderwagen, Bettler mit Bechern in der Hand, Prostituierte in hautengen Klamotten, händchenhaltende Schwule, alles mischte sich, alle liefen auf den Bürgersteigen aneinander vorüber, tolerierten sich, ja, aber da war noch mehr als das: Sie schienen sich stillschweigend willkommen zu heißen. Er hatte den Bettlern etwas in die Becher geworfen. Toronto, so schien es ihm, war sogar ein Ort für Monster. Eine Stadt für Männer wie ihn.
Jacob besaß ein adrettes Holzhaus nicht weit vom Zentrum der Stadt, in der er aufgewachsen war. Im Wohnzimmer rankten sich Zimmerpflanzen vom Kaminsims. Über dem Grün hing ein Flachbildfernseher an der Wand. Die Möbel waren gemütlich und zugleich stilvoll. Ein kleiner weißer Hund trippelte über den Teppich, während die Asche eines Terrier-Beagle-Mischlings, um den er nach einem Jahrzehnt immer noch trauerte, in einem goldfarbenen Kistchen im Regal stand.
In der Einfahrt spielte er während der schneefreien Monate mit seinem Achtjährigen Basketball. Ben war ein Einzelkind. Dunkelhaarig und zart. Sie warfen auf einen höhenverstellbaren Korb, den Jacob gekauft und so aufgestellt hatte, dass der Junge gut damit zurechtkam. Jacob war selbst nie sehr sportlich gewesen, aber Ben hatte ihm kürzlich beigebracht, wie man mit dem Basketball PIG spielte. (Jeder Fehlwurf bedeutet einen Buchstaben, und wer als Erster drei Fehlwürfe hat, hat verloren.) »Das ist leicht, Pop!«, rief er. »Ganz leicht!« Und so warfen und plauderten sie, plauderten und warfen. Ben hatte im fünften Monat noch im Mutterleib einen Schlaganfall erlitten und war mit einer zerebralen Bewegungsstörung zur Welt gekommen. In den Wintermonaten übte Jacob mit ihm das Skifahren.
Seit sechzehn Jahren war er mit Bens Mutter verheiratet. Er fand sie wunderschön, als sie sich kennenlernten, und daran hatte sich bis heute nichts geändert. »Männer sagen zu mir: ›Du bist ein Glückspilz.‹« Sie hatte volles schwarzes Haar, eine olivfarbene, glatte Haut und große dunkle Augen. Sie war zierlich und dennoch sehr weiblich gebaut. Sie stammte aus einer Kleinstadt, und bei ihrer ersten Verabredung hatte er sie in ein Restaurant ausgeführt, das ihr umwerfend erschien. Bei einem Abendessen, das viel teurer war, als sie es gewohnt war, und bei dem er ihr von seinen Erfolgen als Vertreter erzählte, hatte sie ihm von ihrer Arbeit am Ticketschalter einer Fluglinie erzählt. Als Mitarbeiterin durfte sie gratis fliegen, was er wiederum glamourös fand. »Diese hinreißende Frau«, erinnerte er sich, »stellte mich auf einen Sockel, genau wie ich sie.«
Er hielt sie beide nach wie vor für ein wunderbares Paar. »Wir sind sehr häuslich«, sagte er und zählte die Dinge auf, die sie gern gemeinsam taten: auf der Veranda sitzen und Ben beim Radfahren oder Herumkurven mit seinem Elektroscooter zusehen, auf Handwerksausstellungen gehen und für den Südwesten typische Keramik mit dem Motiv einer flötespielenden Figur namens Kokopelli darauf sammeln. Nach sechzehn Jahren riefen sie sich während der Arbeit immer noch drei- oder viermal täglich gegenseitig an.
Jacob hatte sich mindestens zwei erheblichen Hindernissen zum Trotz ein angenehmes, liebevolles Leben eingerichtet. Das eine war seine Lernbehinderung von so hohem Grad, dass er mit Mitte vierzig kaum besser lesen und rechnen konnte als die meisten Viertklässler. Als Kind hatte er eine dicke Spezialbrille mit verschiedenfarbigen Gläsern bekommen. Dieses clowneske Ding hatte er fast den ganzen Schultag lang tragen müssen.
Doch das Hilfsmittel nützte nichts. Das Einzige, was ihm half, im Unterricht mitzukommen, war, dass Klassenkameraden ihm Texte und Aufgaben auf Tonband aufnahmen. Abends im Bett hörte er sich die Bänder an. Als Jacob Ende dreißig war, diente er dem Chef der Psychiatrischen Klinik an der Johns Hopkins University als Anschauungspatient für seine Studenten. Mit Jacobs Zustimmung setzte der Psychiater ihn in eine Gruppe von sechzig Schulkindern und forderte ihn auf, sich vorzustellen, er habe siebzehn Äpfel, von denen er fünf verschenke – wie viele blieben ihm übrig? Jacob konnte die Frage nicht beantworten. Es gab noch weitere ähnliche Aufgaben, und er las einen kurzen, einfachen Text stockend vor, verstand ihn aber nicht. Nachdem die Studierenden darauf mit kaum verhohlenem Entsetzen reagierten, hielt der Psychiater ihnen einen Vortrag über Bewältigungsstrategien. Denn Jacob kam bestens zurecht und war in seinem Job erfolgreich. Er versorgte seine Kundschaft in einem riesigen Gebiet entlang der Großen Seen tadellos mit den von ihm gehandelten Waren und hatte ein ganzes Team von Juniorvertrieblern unter sich. Gewissenhaft sorgte er dafür, dass seine Buchhaltung nie in Unordnung geriet. Er hätte sein Geschäft inzwischen fast ausschließlich über Telefon und Internet betreiben können, aber weil er sich stets sorgte, dass jemand unzufrieden mit ihm sein könnte, fuhr er jeden Tag stundenlang herum, um persönlich zu erscheinen – ein etwas kleinwüchsiger Mann, von kräftiger Statur, ordentlich angezogen mit Jackett und Rollkragenpulli oder Krawatte. Er schüttelte Hände und plauderte ein paar Minuten, fragte die Kunden, ob es irgendwelche Beschwerden gebe, und versicherte ihnen, er würde sich um alles kümmern.
Das zweite Hindernis hatte mit Sex zu tun.
Jacob war gemäß dem psychologischen Fachausdruck paraphil. Der Begriff Paraphilie setzt sich aus den griechischen Wörtern für »abseits« (pará) und »Liebe« (philía) zusammen. Seine Liebe oder sein Verlangen war auf etwas gerichtet, das außerhalb der Normalität lag. Er fühlte sich zu Frauenfüßen hingezogen. Sie waren für ihn wie Brüste, Beine, Po und Genitalien zusammen. Er wollte sie unbedingt berühren, halten, betrachten, lecken, an ihnen saugen, seinen Penis gegen sie pressen, daran reiben. Schließlich sollte die Frau sie so aneinanderlegen, dass die Fußgewölbe eine Art Möse bildeten – damit er sie vögeln konnte.
Ich möchte zwei Dinge im Hinblick auf die Terminologie klarstellen. Erstens würden einige psychiatrische Experten zum Thema Sex – Sexologen, wie man die Nachfolger Kinseys nennt – darauf beharren, dass Jacob kein Paraphiler war, sondern eine Paraphilie hatte. Der Unterschied bezieht sich auf Identität im Gegensatz zu einer Erkrankung. Entweder wurde er durch die Paraphilie definiert oder sie war etwas, das ihn heimsuchte, ihn nicht losließ, ihn diktatorisch unterwarf, aber ihn nicht stärker als Person ausmachte als jeden Patienten mit einer beliebigen Krankheit.
Zweitens hätte Jacob Ausdrücke wie »ficken« oder »Möse« niemals benutzt. Er war ein irgendwie schüchterner und sehr auf Anstand bedachter Mann. Wenn er den Vorgang schon in Worte fassen musste, sagte er »Verkehr«.
Anständig und lüstern zugleich, schämte er sich für sein Verlangen. Eine seltsame und fast vollständige Substitution war da vor sich gegangen, und jetzt, zumindest kam es ihm so vor, war er ganz und gar anders als andere Männer. Gesichter interessierten ihn zwar, und auch die Figur einer Frau war für ihn nicht bedeutungslos. Sprach er von der Schönheit seiner Frau, meinte er das, was andere Männer auch meinten. Doch ohne die Füße gab es kein konkretes Verlangen. Wenn er sich an das erste Date mit seiner Frau erinnerte, vermochte er sich nicht daran zu erinnern, welche Kleider sie getragen hatte, auch wenn alles vom Knöchel aufwärts durchaus attraktiv gewesen sein muss. Woran er sich jedoch ganz genau erinnerte, das waren die vorne offenen Schuhe mit halbhohem Absatz und einem cremefarbenen Lederstreifen oberhalb der Stelle, wo ihre Zehen ansetzten.
Diese erotische Deformation machte ihn in seinen eigenen Augen abscheulich. Er klammerte sich an die Vorstellung von einer Erkrankung, während er in den Strudel der Identitätsfindung stürzte. Trotzdem gab es Psychiater und Psychologen, Kliniker und Wissenschaftler, die ihm eine Gabe attestierten. Sie erklärten mir, was die erlebte Intensität anginge, gebe es keinen Vergleich zwischen der Erfahrung von jemand wie Jacob und denjenigen, die sie »normophil« nannten. Über das schiere Verlangen, den gierigen und exaltierten erotischen Hunger, den nie ganz...