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Ein Stift. Schön anzusehen, aber trotzdem nichts weiter als ein Stift. Ein Füllfederhalter von Cartier, edel glänzend, schwerer als ein Kugelschreiber, mit dem Wappen von Milan (dem AC Mailand) darauf. Aber eben halt nur ein Stift. Gefüllt mit blauer Tinte, simpler blauer Tinte. Ich sah ihn, drehte ihn hin und her, spielte ein wenig damit − wie ein Kind mit seinem ersten Teddybären. Ich betrachtete ihn von allen Seiten, versuchte, ihm seinen tieferen Sinn zu entlocken. Zu begreifen. Ich bekam Kopfweh, so intensiv versuchte ich zu verstehen. Ich glaube, mir perlte sogar der eine oder andere Schweißtropfen von der Stirn. Am Ende aber kam mir die Erleuchtung. Das Rätsel war gelöst: Es war nur ein Stift. Sein Erfinder hatte keine tieferen Geheimnisse in ihm verborgen. Mit Absicht? Wer weiß.
»Ich bitte mir jedoch aus, dass du ihn nicht dazu benutzt, um deinen neuen Vertrag bei Juventus zu unterschreiben.«
Wenigstens einen guten Spruch hatte Adriano Galliani parat. Als Abschiedsgeschenk hatte ich zwar ein wenig mehr erwartet als diese Anspielung, die nicht eines gewissen Humors entbehrte, aber immerhin. Zehn Jahre bei Milan vorbei. Einfach so. Doch ich habe gelächelt. Denn das kann ich, und gut. »Und danke für alles, Andrea.«
Während der Vizepräsident des Klubs noch hinter seinem Schreibtisch hervortönte, ließ ich den Blick durch sein Büro schweifen, in dem ich mich blind zurechtgefunden hätte. Es war sozusagen die Schatzkammer des alten Milan-Hauptquartiers in der Via Turati: Hier hatte ich glückliche Momente verlebt, mit anderen Füllern und anderen Verträgen. Und doch hatte ich bestimmte Fotos an den Wänden nie oder nur so am Rande bemerkt. Bilder, die mit dem Nimbus der Lässigkeit von der Bürde der Geschichte sprachen. Alle möglichen Fotos hingen da, meist waren darauf einzigartige und anscheinend nicht zu wiederholende Erfolge verewigt. Von Pokalen, die in den Himmel gestemmt wurden. Um damit die finstere Wolkenwand wieder mal einen Meter weiter wegzuschieben. Sie zogen mich runter, aber nicht allzu sehr. Ich wollte das Risiko nicht eingehen, mich bei Milan zu langweilen. Daher war ich bei diesem letzten Treffen zwar traurig, aber es hielt sich in Grenzen. Wie mir ging es auch Galliani. Und meinem Berater Tullio Tinti. Wir haben uns ohne Bedauern getrennt. In ungefähr einer halben Stunde war ich draußen. Wenn man verliebt ist, braucht man Zeit. Ist das Gefühl erstorben, ist eine gute Ausrede besser.
»Andrea, unser Trainer Allegri glaubt, dass du künftig nicht mehr vor der Abwehr spielen kannst. Er hat eine andere Rolle für dich vorgesehen: immer noch im Mittelfeld, aber auf der linken Seite.«
Dazu muss man wissen: Ich fand, dass ich mein Bestes immer noch auf der Position vor der Abwehr geben konnte. Ein Tiefseefisch kann in der Tiefe atmen. Wenn man ihn unter die Oberfläche versetzt, kommt er zwar zurecht, aber es ist nicht mehr dasselbe.
»Wir haben die Meisterschaft schließlich auch gewonnen, während du auf der Bank gesessen hast oder auf der Tribüne. Außerdem hat sich die Politik im Verein seit diesem Jahr geändert. Jeder, der älter als dreißig ist, bekommt nur noch einen Zwölfmonatsvertrag.«
Und noch eine Kleinigkeit: Ich habe mich nie alt gefühlt, nicht einmal in jenem Augenblick. Erst im Laufe des Gesprächs drängte sich mir allmählich der Eindruck auf, dass einige Leute mich hier gern als ausgelutscht hinstellen wollten. Und diese Sicht der Dinge verblüffte mich.
»Danke, aber dieses Angebot kann ich nun wirklich nicht annehmen. Außerdem will Juventus mir einen Dreijahresvertrag geben.«
Ich habe abgelehnt. Ohne über Geld zu reden an jenem Frühlingsnachmittag im Jahr 2011. Nie. In diesen dreißig Minuten mit Galliani wurde nicht über finanzielle Dinge gesprochen. Ich wollte einfach eine gewisse Bedeutung haben, wollte Schlüsselspieler sein in der Strategie des Klubs. Und nicht als Kandidat für eine baldige Ausmusterung gehandelt werden.
Der Zyklus war offensichtlich an sein Ende gelangt, und mich verlangte nach etwas Neuem. Die Alarmglocken hatten schon früher geschrillt. An einem Tag, an dem ich nach Milanello gekommen war, um zu trainieren. Mitten in der Saison (offensichtlich der letzten dort), die von zwei Verletzungen ruiniert worden war. Da merkte ich plötzlich, dass ich keine Lust hatte, mich umzuziehen und zu arbeiten. Ich verstand mich mit allen. Zu Allegri hatte ich ein normales Verhältnis. Das Problem war eher die Stimmung. Ich kannte die Mauern, die mir über all die Jahre Schutz geboten hatten. Nur sah ich immer öfter die Risse darin, konnte den Luftzug fühlen, der hereinwehte und mich fast krank machte. Der innere Drang weiterzuziehen, eine andere Luft zu schnuppern, meldete sich und wurde immer deutlicher. Die Poesie, die mich immer getragen hatte, verflachte allmählich zur Routine, und dies darf man nicht unterschätzen. Sogar die Fans, die mir jahrelang am Sonntag in San Siro applaudiert hatten (und auch am Samstag, am Dienstag und am Mittwoch), hatten vermutlich Lust auf etwas anderes. Sie wollten andere Gesichter in ihre Fußballalben kleben, andere Geschichten hören. Sie hatten sich mittlerweile an das gewöhnt, was ich machte, an meine Bewegungen, meine Ideen. Ich überraschte sie nicht mehr. In ihren Augen war das Außergewöhnliche Alltag geworden. »Den Pirlo machen« war in Italien ein geflügeltes Wort für jeden technisch brillanten, einfallsreichen Spielzug. Offensichtlich gelang mir das hier nicht mehr. Und das konnte ich nicht akzeptieren, fand es auch zutiefst ungerecht. Es verursachte mir Bauchschmerzen, nach meinem ursprünglichen spielerischen Impuls suchen zu müssen.
Ich habe darüber auch gleich mit Alessandro Nesta gesprochen, meinem Freund und Bruder, meinem Mannschaftskameraden, mit dem ich sogar meine Snacks teilte, von tausend Abenteuern mal ganz abgesehen. Zwischen der ersten und zweiten Halbzeit einer unserer zahllosen Playstation-Partien gestand ich ihm: »Sandrino, ich werde gehen.«
Er war nicht überrascht: »Das tut mir leid, aber ich glaube, es ist schon richtig.«
Er war der Erste, der es erfuhr, nach meiner Familie. Ich habe alles mit ihm besprochen, immer, jeden Schritt, in jeder Phase der Trauer. Manche Wochen waren schwieriger als andere. In mir lief der Countdown, aber es ist nie einfach, einen Ort zu verlassen, an dem du buchstäblich alles kennst, auch die verborgenen Geheimnisse. Eine kleine Welt für sich, die mir mehr gegeben als genommen hat. Und die für mich zweifellos mit starken Emotionen verbunden ist. Manchmal war ich niedergeschlagen und traurig, manchmal einfach nur tief gerührt. In jedem Fall aber habe ich eine Lektion vom Leben gelernt: Weinen tut gut. Tränen sind sichtbarer Ausdruck dessen, was du bist, sind deine unumstößliche Wahrheit. Und ich hielt sie nicht zurück. Ich weinte und schämte mich dessen nicht. Meine Bordkarte hatte ich eher im Kopf als in der Hand. Ich fühlte mich wie jemand, der am Flughafen steht, eine Sekunde bevor er sich noch einmal umdreht, um Freunden, Verwandten und Feinden ein letztes Mal zuzuwinken. Ob im Guten oder im Schlechten, irgendetwas lässt man immer zurück.
Ich sprach jeden Tag mit meinem Berater, vor allem in der Zeit des Abschiednehmens, doch irgendwie fehlte es mir am Willen, alles zu tun, um wieder auf die Beine zu kommen. Zumindest war er nicht mehr so stark wie früher. Ambrosini und dann Van Bommel übernahmen meinen Platz vor der Abwehr. Man war in meine Domäne eingedrungen (Es waren ja Freunde und es geschah alles zum Besten), aber dennoch. Ich war von meinem geliebten Grün verdrängt worden.
»Gibt es Neuigkeiten, Tullio?«
Es gab immer welche, gute und noch bessere. Je unwohler ich mich bei meinem Verein fühlte, desto mehr Anfragen gab es. Eine der eigenartigen Regeln des Fußballs. Ich war mehr oder weniger zum Kreuz auf der Schatzkarte geworden. Alle streckten ihre Fühler nach mir aus, sogar Inter, der Lokalrivale des AC Mailand. Das wäre allerdings ein Erdbeben in Mailand, das den Seismografen lahmlegen würde. Man rief meinen Berater an und stellte die einfache Frage: »Würde Andrea zu uns zurückkommen?« Tullio gab diese Frage wortwörtlich an mich weiter:
»Andrea, würdest du dorthin zurückkehren?«
Wir schlossen nichts von vornherein aus. Stets hatte ich dieselbe, für alle Anfragen passende Antwort parat:
»Hören wir mal, was sie wollen.«
Sie wollten mich. Aber sie waren langsam (beeindruckend, aber langsam). Bevor sie ernsthaft in Verhandlungen eintreten konnten, mussten sie abwarten, wie die Meisterschaft lief, und klären, wer in der nächsten Saison die Mannschaft trainieren würde bzw. welche Programme und Ziele der Verein festlegen würde. Ich hatte nur einmal direkten Kontakt mit Inter. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Es war an einem Montagvormittag, die Saison war gerade zu Ende gegangen.
»Hallo, Andrea. Leo am Apparat.«
Am anderen Ende der Leitung war Leonardo, damals Trainer von Inter Mailand.
»Ciao, Leo.«
»Hör mal, endlich ist alles geregelt. Ich habe von Präsident Moratti freie Hand bekommen. Jetzt können wir endlich miteinander verhandeln.«
Er erzählte mir tolle Sachen über Inter. Wie wohl er sich dort fühle und wie hart er arbeiten wolle. Das hätte durchaus eine schöne Herausforderung werden können. Faszinierend: dorthin zurückkehren, wo ich schon einmal gespielt hatte. Nach zehn Jahren bei Milan – neun davon mit unglaublichen Erfolgen - zur anderen Seite übergehen. Sogar dabei hätte Leonardo mir helfen können, wenn er nicht wenige Wochen später zum Verein der Scheiche Paris Saint-Germain gegangen...