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E-Book

Mein Israel.

Juden und Palästinenser erzählen

VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783518740361
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Der Berliner Fotograf Ali Ghandtschi machte sich auf den Weg nach Israel, um Schriftsteller und Künstler zu porträtieren und sich ein eigenes Urteil über das Land zu bilden. Irgendwann begann er - als Deutscher, Perser, Nichtjude in einer besonderen Position -, Fragen zu stellen und ein Tonbandgerät mitlaufen zu lassen. Um die Unterhaltung nicht gleich auf Politik zu lenken, bat er seine Gesprächspartner, ihm von ihrer Kindheit zu erzählen. Fast alle waren erfreut, dass sich jemand für persönliche Geschichten und nicht nur für die Politik interessierte. Und dennoch spannt sich der Bogen der Erinnerungen in diesem Band fast immer bis in die Gegenwart und berührt die derzeitige Lage. Da alles in Israel mit Politik zu tun hat, sind auch Kindheitserinnerungen politisch. Und auch die Bilder von Ali Ghandtschi zeugen von einem Alltag, der nur scheinbar alltäglich ist. Sie erzählen vom Übertönen, Ausstreichen und Rechthabenwollen. Von der Suche nach der einen Wahrheit. So ergibt sich aus der Vielzahl der unterschiedlichsten Stimmen - moderat religiöse, orthodoxe und säkulare Juden, Zionisten und palästinensische Israelis - ein Gesamtbild mit unerwarteten Perspektiven.

<p>Ali Ghandtschi wurde 1969 in Teheran, Iran, geboren. Seit 1995 arbeitet er als freier Fotograf. Ghandtschi fotografiert für nationale und internationale Musik- und Kulturmagazine, ist Festivalfotograf der Berlinale und der Berliner Festspiele. Er lebt und arbeitet in Berlin.</p> <p>Ali Ghandtschi wurde 1969 in Teheran, Iran, geboren. Seit 1995 arbeitet er als freier Fotograf. Ghandtschi fotografiert für nationale und internationale Musik- und Kulturmagazine, ist Festivalfotograf der Berlinale und der Berliner Festspiele. Er lebt und arbeitet in Berlin.</p> <p>Mirjam Pressler, geboren 1940 in Darmstadt, war eine der namhaftesten &Uuml;bersetzerinnen des Hebr&auml;ischen. Sie &uuml;bersetzte Werke von Aharon Appelfeld, Lizzie Doron, Batya Gur und David Grossman. Ihre gro&szlig;e, sprachlich wie literarisch weite Erfahrung war von gr&ouml;&szlig;tem Wert auch f&uuml;r die Erschlie&szlig;ung der israelischen Lebenswelt, wie Amos Oz sie &uuml;berliefert. F&uuml;r die &Uuml;bersetzung von Oz&rsquo; Roman <em>Judas</em> erhielt sie 2015 den Internationalen Literaturpreis &ndash; Haus der Kulturen der Welt. Pressler starb am 16. Januar 2019 in Landshut.</p>

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Leseprobe

Afrika
Alex Epstein


Ich bin in der Sowjetunion geboren und 1980 hierher gekommen, mit acht Jahren, zu einer Zeit, als es kaum Immigranten aus der Sowjetunion gab, denn die große Einwanderungswelle kam später, als der Ostblock auseinanderbrach. Natürlich wusste ich nichts von Israel. Ich hatte keine Vorstellung davon, was Israel war, wo Israel lag, was dort los war. Mein Vater sagte mir lediglich, ich würde viele neue Spielsachen bekommen. Darauf warte ich heute noch.

Als wir aus dem Flughafen kamen, sah ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Palme und begriff sofort, dass meine Eltern mich nach Afrika gebracht hatten. Ich war aufgeregt und dachte: Oh, Mann, das ist das Beste, was mir je passiert ist. Das Problem ist – man kennt ja die üblichen Probleme von Immigranten –, dass man immer Immigrant bleibt, man bleibt immer ein bisschen fremd, man bleibt immer ein bisschen anders als die anderen Leute.

Die Gärten von Samaria
Yuda Braun


Unsere Siedlung hat ungefähr tausendfünfhundert Bewohner und heißt Ginot Schomron, Gärten von Samaria. Klingt wie eine Wohngegend in Los Angeles. Aber sie ist alles andere als das! Die Siedlung liegt auf einem Berg, und vielleicht fünf Kilometer weiter unten, im Wadi, befindet sich ein palästinensisches Dorf. Die Mauern stammen aus Steinen dieser Gegend, ebenso die anderen Baumaterialien. Es sind keine städtischen Häuser, kein Zement, kein Beton, nichts. Der Anblick ist sehr schön. Altertümlich. Es gibt eine Quelle, in der wir als Kinder immer gebadet haben, wir waren gern dort. Die Quelle ist etwas außerhalb des Dorfs.

Eines Tages gingen wir hinunter und stahlen einen Esel. Unser Adrenalinspiegel stieg, wir hatten fünf Kilometer zu laufen, und zwar schnell, bevor der Besitzer des Esels zurückkommen würde. Verstehst du, es war keine nationalistische Aktion, nur ein Jungsstreich. Los, klauen wir doch mal einen Esel, das wird ein Spaß. Und nun hatten wir diesen Esel. Was sollten wir mit ihm anfangen? Da saßen wir also, drei Jungen, dreizehn oder vierzehn Jahre alt, und ich sagte: »Bei uns zu Hause kann er nicht bleiben, meine Mutter bringt mich um.« Der zweite Junge sagte: »Meine Eltern haben einen kleinen Garten. Ich weiß nicht, wo ich den Esel hintun sollte.« Der dritte Freund wohnte am Ende der Siedlung, am Wadi. Dort blieb der Esel ungefähr einen Monat lang. Er schiss überall hin und machte den ganzen Tag Lärm. Der Esel passte einfach nicht zu unserer Siedlung. Wir berieten, was wir tun sollten, wir mussten eine Lösung finden. Es gab verschiedene Vorschläge: Wir sollten ihn behalten. Wir sollten ihn verkaufen. Am Ende bekam ich kalte Füße und ging nicht mit. Aber die beiden anderen Jungen liefen mit dem Esel hinunter zum Dorf und verhandelten mit dem Besitzer. Sie wollten ihm den Esel zurück verkaufen. Der Mann war um die fünfzig oder sechzig. Ich war nicht dabei und weiß deshalb nicht, was wirklich passierte. Ich weiß nur, dass irgendwann ein palästinensischer Polizist mit einer Kalaschnikow auftauchte. Meine Freunde gaben den Esel zurück und gingen nach Hause. Der Polizist hatte nichts gesagt und nichts getan, er war nur da gewesen. Das war das letzte Mal, dass wir mit den Tieren der Palästinenser unsere Scherze getrieben haben. So etwas durfte man den Dorfbewohnern nicht antun. Aber schließlich hatte er seinen Esel zurückbekommen, wir haben doch nur eine Weile Babysitter gespielt.

Ali, lass mich doch hier bitte nicht wie ein Arschloch erscheinen.

Panik
Sigalit Landau


Ich kann mich erinnern, dass wir 1982 den Gang zu den Luftschutzkellern geprobt haben. Die Sirenen heulten. Es gab zwölf Schulklassen und drei Luftschutzkeller, und die Lehrer sollten jeweils vier Klassen in einem Keller unterbringen. Aber in einem Keller waren acht Klassen, und die Kinder sprangen auf uns drauf. Die Kinder, die oben waren, zertrampelten die Kinder darunter. Viele kamen ins Krankenhaus. Ein Kind starb. Auf mir zerbrachen Gläser. Die Kinder drängten herein, und die beiden Lehrer, die auch im Raum waren, konnten nicht helfen. Alle drängten. Es war ein Notfall, die Sirenen heulten. Man musste sich verhalten, als wäre es ein echter Alarm.

Ein Luftschutzkeller ist kein sicherer Ort. Im letzten Krieg hat niemand von uns das getan, was wir angeblich tun sollten. Die Menschen sind neurotisch, wenn es so weitergeht, wird wahrscheinlich nicht mehr vor Raketen gewarnt werden. Der Alarm ist schlimmer als die Raketen selbst. In der Zeit zwischen dem Alarm und dem Raketeneinschlag ist man wie gelähmt. Die Sirene versetzt einen so sehr in Panik, dass eine Bombe nichts dagegen ist.

Kranke Generation
Hava Pinhas-Cohen


Als ich 1973 zur Armee ging, begann ein Krieg, der mich und meine ganze Generation prägte. Tatsache ist, dass es meine Generation am schlimmsten getroffen hat. Wir nahmen am Krieg teil, aber das war nicht alles. Diese Generation hatte in ihrer Kindheit den Sechstagekrieg erlebt. Vor diesem Krieg hatte eine mythische Angst geherrscht, Israel könne aufhören zu existieren. Dass sich eine Katastrophe wie der Holocaust hier wiederholen könnte. Andererseits hatten wir das Gefühl, dass wir die Verantwortung für unser Leben selbst übernahmen. Man konnte es also von beiden Gesichtspunkten aus betrachten. Nach dem Sechstagekrieg herrschte ein Gefühl der Erlösung. Ich weiß noch genau, wie unser Schuldirektor am siebten Tag, direkt nach dem Krieg, sagte: »Plötzlich haben wir einen großen Himmel über uns!« Das war das damals vorherrschende Gefühl. Ich beurteile jetzt nicht, was richtig oder falsch war, das spielt keine Rolle. Ich sage auch nicht, was es politisch bedeutete.

Als ich im Gymnasium war, gab es im Sinai einen Krieg mit Ägypten, an der Grenze. Wir nennen ihn den Zermürbungskrieg. Er dauerte von 1967 bis 1970, das waren genau die Jahre, in denen ich das Gymnasium besuchte. Es ging einfach weiter, und jeden Tag gab es Tote. Ich weiß noch, dass es in der Schule eine Tafel mit den Namen der Gefallenen aus unserem Gymnasium gab, und fast jede Woche kam ein neuer Name dazu. Der Grenzkrieg war weit weg, zugleich aber auch hier, es gab sogar eine politische Bewegung dagegen. Dann, 1973, war ich Soldatin, und im Oktober fing der Jom-Kippur-Krieg an. Alle meine Freunde waren frisch eingezogen. Unser ganzer Jahrgang war dort. Unsere Generation war zerschnitten. Ich meine damit, dass bei uns immer jemand fehlt, wenn wir ein Klassentreffen von der Grundschule oder dem Gymnasium veranstalten. Nicht nur einer oder zwei fehlen, sondern mehr. In jeder Klasse fehlen etliche. Das ist also meine Generation. Und nicht erst heute, wo ich älter geworden bin, sehe ich unter den Menschen meines Jahrgangs viele, die entweder verkrüppelt oder seelisch gestört sind.

Meiner Meinung nach sind wir eine sehr kranke Generation. Erstens, weil wir Kinder von Flüchtlingen waren, von Überlebenden, das mussten wir überstehen, und dann noch wegen unseres eigenen Kriegs. Lauter Extreme. Und so ging es immer weiter, in den Achtzigern hatten wir den Libanonkrieg und dann die Intifada, und in den zehn Jahren dazwischen gab es einen heftigen Kampf zwischen dem rechten und dem linken Flügel. Israel Har'el war eine Leitfigur von Gush Emunim1, das andere Extrem war Schalom Achschaw2 vom linken Flügel. Man konnte sich nur selbst definieren, wenn man über politische Themen sprach. Aber dadurch, dass man sich für oder gegen etwas ausspricht oder ob man links oder rechts ist, ist man doch nicht man selbst.

 

1

  

Der Gush Emunim – »Block der Getreuen« – ist eine außerparlamentarische nationalreligiöse Organisation. Sein Ziel ist die Besiedlung des gesamten Gebietes, das den Juden nach biblischer Überlieferung von Gott versprochen wurde.

2

  

Schalom Achschaw – »Frieden jetzt« – ist eine außerparlamentarische Friedensbewegung, deren Ziel es ist, einen gerechten Frieden und eine historische Versöhnung mit dem palästinensischen Volk sowie den arabischen Nachbarn zu erreichen.

Tami und ich
Amal Murkus


Ich bin schon mit dreizehn als Sängerin bei Konzerten aufgetreten. Seit meiner Kindheit waren wir mit einer jüdischen Familie befreundet, die wie wir Mitglieder in der kommunistischen Partei Israels waren. Sie dachten wie meine Eltern. Sie glaubten an Frieden, an gleiche Rechte für alle und waren gegen die Besatzung. Und sie sprachen die gleiche Sprache der Humanität wie ich. Ich wuchs damit auf, diese jüdischen Freunde zu treffen, die keine Zionisten waren. Sie waren Teil dieses Landes. Sie haben eine Tochter, Tami, die eine gute Freundin von mir ist. Tami wurde im selben Jahr wie ich geboren, im selben Monat, fast in derselben Woche, und unsere Eltern sind einander ähnlich. Sie besuchte uns jeden Sommer. Sie kam von Ramat Gan1 zu uns, um eine Woche oder zehn Tage der Sommerferien bei uns zu verbringen. Ihr Vater stammte aus dem Irak und ihre Mutter aus Bulgarien.

Ich probte gerade in Nazareth, der großen palästinensischen Stadt, als Tami mich besuchte. Am Abend brachten uns die Musiker nach Kfar Yasif, in mein Dorf, ungefähr fünfunddreißig Autominuten entfernt. Unterwegs hatte das Auto ein Problem. Wir...

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