Vera Bachmann
Brief einer Leserin (11)
Dass die Jugend von heute auch nicht mehr das ist, was sie einmal war, das zumindest war schon immer so. Ob sie aber für die Verrohung der Sitten steht oder die Verheißung einer besseren Zukunft transportiert, das änderte sich im Lauf der Zeit immer mal wieder. Das Bild, das man von der Jugend jeweils hatte, sagt dabei meist mehr über die eigene Zeit und die eigene Generation aus als über die kommende. Und in dieser Hinsicht hat sich auch die Haltung dieser Publikationsreihe trotz aller Kursänderungen nicht gewandelt: Das Kursbuch, das laut seinem ersten Herausgeber Hans Magnus Enzensberger nie die Richtung vorgeben, sondern nur aktuelle Verbindungen anzeigen wollte, richtet seit seinem Bestehen den Blick auffallend oft auf die Gleise, die in die Zukunft führen. Der Blick auf die Jugend ist dabei ein doppelter, er verbindet Zukunft mit Vergangenheit. Denn eine Jugend hatten die meisten. Und so bestimmt die Erinnerung daran unweigerlich die Perspektive auf das Thema, und das umso stärker, je weiter die eigene Jugend zurückliegt. Die Frage nach dem, was kommt, wird gemessen an dem, was war.
Dass Jugend kein biografisches Zwischenstadium ist, sondern eine Lebenshaltung, die nicht an Altersgrenzen gebunden ist, diese Idee geht auf die vorletzte Jahrhundertwende zurück: Damals begann die Münchner illustrierte Zeitschrift Jugend, dieselbe als Lebensgefühl zu feiern, bebilderte sie bunt und wurde damit für eine ganze kunstgeschichtliche Epoche stilbildend: den Jugendstil. Das Kursbuch hat den Spieß dann umgekehrt und die jeweilige Kinder- und Jugendgeneration immer wieder daraufhin befragt, inwieweit sie noch und überhaupt das Versprechen von Zukunft, Leben und Erneuerung transportiert. Gerade wenn man sich die Thematisierung der Jugend ansieht, fällt die Kontinuität des Kursbuchs auf, das stets stark auf den politischen Zeitgeist reagiert und damit sehr unterschiedliche Bilder der kommenden Generationen entwirft.
So schreibt man 1969 über antiautoritäre Erziehung und die Kindererziehung in der Kommune, was heute recht fremd klingt: »Die durchschnittliche Kleinfamilie produziert anlehnungsbedürftige, labile, an infantile Bedürfnisse und irrationale Autoritäten fixierte Individuen. Diese Tatsache ist unabhängig vom guten Willen oder den Erziehungsmethoden der Eltern. Nur der radikale Bruch mit der Dreiecksstruktur der Familie kann zu kollektiven Lebensformen führen, in denen die Individuen fähig werden, neue Bedürfnisse und Phantasie zu entwickeln, deren Ziel die Schaffung des neuen Menschen in einer revolutionären Gesellschaftsordnung ist.«1
Dieser Ausgabe lag auch der Kursbogen mit dem Titel »Liebesspiele im Kinderzimmer« bei, eine Fotoserie der nackten Kinder der Kommune 2. Er war es unter anderem, der der 68er-Generation den Vorwurf pädophiler Tendenzen eingebracht hat, dabei richtet sich das Begehren hier nicht auf die Kinder als Objekt, sondern auf die Idee einer natürlichen Sexualität, die sich in der Kommune vermeintlich frei von gesellschaftlichen Zwängen und Manipulationen der Kleinfamilie entfalten kann. Der Bildbogen zeigt dabei etwas ganz anderes: Zu sehen sind nackte Kinder, die im Zimmer herumhüpfen. Die Bildunterschriften offenbaren, was es mit der freien Entfaltung dieser Kinder auf sich hat: »Der frühe Morgen, wenn die Erwachsenen noch schlafen, ist die Stunde zärtlichen Spielens für die Kinder.« Von wegen »schlafen«, in Wirklichkeit liegen die Erwachsenen längst mit der Kamera auf der Lauer, um die Kinder beim Unbeobachtetsein zu beobachten … Dem Verhalten der Kinder wird ein ihnen äußerliches Konzept übergestülpt: das der erwachsenen Sexualität, die sich nach kindlicher Unschuld und Natürlichkeit sehnt.
Die Kinder kann man anscheinend theoretisch nicht in Ruhe lassen. Nicht beim »zärtlichen Spielen« und auch nicht bei ihrer revolutionären Tätigkeit: 1973, im Kursbuch Kinder, kritisiert die amerikanische Autorin Shulamith Firestone zwar die Institution Kindheit als solche (durch Verweis auf ihre historische Bedingtheit) und fordert einen völligen Rückzug der Erwachsenengeneration (insbesondere der Frauen) aus der Sozialisation der Kinder. Die Großstadtgangs feiert sie als sich selbst organisierende Gruppen altersgemischter Kinder. »Wenn es im heutigen Amerika überhaupt irgendwo eine freie Kindheit gibt, dann in der Unterschicht, wo der Mythos [der Kindheit] am wenigsten entwickelt ist.«2 Doch dabei wird, heute unübersehbar, ein neuer Mythos entworfen: der der »Arbeiterkinder«, dem sich im gleichen Heft gleich mehrere Aufsätze widmen, zu »Schule im Leben der Arbeiterkinder«, »Arbeiterkinder und Solidarität« oder »Soziodramatische Spiele mit Arbeiterkindern«. Einerseits, so die Diagnose, habe man es hier mit einer freieren Jugend zu tun, die bürgerlichem Erziehungswahn weitgehend entzogen sei, andererseits müsse man sich besonders um sie kümmern, weil revolutionäres Bewusstsein eben nicht von selbst entstünde.
Bisher waren Kinder einfach da, man musste nur etwas aus ihnen machen. Diese Selbstverständlichkeit wird aus Perspektive der 1980er-Jahre problematisch, in denen das gesamte Konzept der Generativität infrage gestellt wird. 1983 erscheint im Kursbuch mit dem Titel Die neuen Kinder ein Artikel, der für das ganze Jahrzehnt zu stehen scheint: »Kinderwunsch im sauren Regen«. Eine neue Frage zieht sich durch die Artikel: Warum überhaupt Kinder, warum Zukunft angesichts von Umweltzerstörung, Kaltem Krieg und dem durch Verhütungsmittel gegebenen Zwang zur Familienplanung? Frauen, berichtet eine Therapeutin, erleben mitunter eine »mystische Einheit mit den Schmerzen der Natur«3 und können sich daher nicht vorstellen, Kinder zu bekommen. Und die Kinder, die da sind, benehmen sich auch seltsam. Liegt es an den Kindern oder ihren Müttern, dass Kinder so lange gestillt werden, bis zu vier oder fünf Jahre? Was soll aus ihnen werden? Das sind die Fragen, die die 1980er-Jahre umtreiben.
Glücklicherweise kamen dann offensichtlich doch noch weiter Kinder zur Welt. Die mussten sich dann in den 1990er-Jahren von ihren Geschichts- und Sozialkundelehrern fragen lassen, wieso sie eigentlich so phlegmatisch, unkritisch, so schlicht unpolitisch seien. 1995 erscheint ein Kursbuch mit dem Titel Generationenbruch. Mehr als über die Jugend erfährt man hier über die Erwartungshaltung derer, die sich ihrer annahmen. Die Protesthaltung, das politische Engagement der eigenen Jugendzeit dient als Messlatte, an der die Jüngeren sich einfach nicht messen lassen wollen. Augenreibend steht man vor einer Generation, die alles nicht so ernst nimmt. Gemächlich sitzt sie da und konsumiert völlig unkritisch, was man ihr vorsetzt. »Die Apokalyptiker und die Depris sind out«, stellt man fest, »abgelöst wurden sie von einer Generation neuer Chefjugendlicher, die alles können. Heute managen sie ein Café, morgen entwerfen sie ihre eigene Modelinie, übermorgen spekulieren sie an der Börse in Hongkong«, diagnostiziert Eckart Britsch.4 Immerhin geben sie es selbst zu, dass mit ihnen nichts los ist: »Zumindest aber heucheln wir – jetzt sag ich schon ›wir‹ – nicht dumm herum, von wegen Weltrevolution, fünf vor zwölf und so«, sagt Nadja, 22, in derselben Ausgabe. »In unserem Alter wirst du wenige finden, die noch irgendwas mit vollster Begeisterung ausüben«, fügt sie hinzu. Im Interview! Hat sie selbst gesagt, die Jugend. »Lifestyle ist alles, was uns bleibt«, lautet auch schon gleich der nächste Titel. Dass die Loveparade als politische Demonstration genehmigt wurde, wird von mehreren Autoren zum Symbol der Zeit erhoben. »Wann hat das eigentlich angefangen: unser Rückzug ins Private, unser Nischendenken, unser Desinteresse für die Welt, wenn es nicht gerade unseren Lieblingsitaliener oder wenigstens unseren nächsten Urlaubsort betrifft? Wann war das, als wir eine bezahlbare renovierte Altbauwohnung, mit Stuck an der Decke und Holzfußboden, in Schwabing, Eppendorf oder Schöneberg, zu unserem eigentlichen Lebensziel erklärten?«, fragt Walter Wüllenweber unter dem Titel »Die Hornhautgeneration oder wir 30jährigen«.5
Das war 1995, vor 20 Jahren. Wer jetzt noch keine Altbauwohnung in Schwabing hat, der findet keine mehr. Ansonsten steht den abgewatschten »Tekkno-Kids« der Hornhautgeneration längst eine neue Jugend gegenüber, die die Frage aufwirft: Wohin? Was bleibt noch zu tun im Zirkel der Abgrenzung von der Elterngeneration? Sind die Konvertiten aus euren Reihen die Antwort, seht ihr im IS die letzte Möglichkeit zur Rebellion und Abgrenzung? Seid ihr faul oder arbeitssüchtig oder essgestört? Interessiert ihr euch überhaupt noch für die Welt? Keine Angst, wir urteilen nicht über euch. Wir lassen euch selbst zu Wort kommen. Psst! Der frühe Morgen, wenn die Herausgeber noch schlafen, ist die Stunde zärtlicher Selbstreflexion der Jugend … Fühlt euch ganz unbeobachtet!
Anmerkungen
1 Bookhagen, Christel et al.: »Kindererziehung in der Kommune«. In: Kursbuch 17: Frau – Familie – Gesellschaft. Frankfurt am Main 1969, S. 149.
2 Firestone, Shulamith: »Nieder mit der Kindheit«. In: Kursbuch 34: Kinder. Berlin 1973, S. 21.
3 Kronau, Franziska: »Kinderwunsch im sauren Regen. Erfahrungen einer Therapeutin«. In: Kursbuch 72: Die neuen Kinder. Berlin 1983, S. 9.