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Dabei gewesen.

Erinnerungen

AutorThomas Chorherr
VerlagVerlag Kremayr & Scheriau
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783218009799
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Seit mehr als 60 Jahren ist Thomas Chorherr Journalist mit Leib und Seele. Seit 1955 bei der 'Presse', war er fast zwanzig Jahre lang 'Presse'-Chefredakteur, danach Herausgeber, und hat auf diese Weise die politische Medienlandschaft wesentlich geprägt. Er berichtete über die ungarische Revolution 1956 und über den Prager Frühling 1968, interviewte vor dem Mauerfall deutsche KP-Politiker und danach die Politiker des wiedervereinigten Deutschland. Mit Jassir Arafat hatte er ein nächtliches Rendezvous, mit Kreisky politisierte er im Taxi. Er traf die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. und sprach mit den südamerikanischen Diktatoren Pinochet und Videla. Er kannte alle Bundespräsidenten von Schärf bis Fischer, mit Kaisersohn Otto Habsburg speiste er ebenso wie mit Gewerkschaftschef Anton Benya. Das Zeitzeugnis, das er in diesem Buch ablegt, spannt den Bogen von den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs über die Zeit des Wirtschaftswunders und die Wende 1989 bis zu den heutigen bedrohlichen Umstürzen im Nahen Osten und vor den Toren Russlands. Eine faszinierende Zeitreise durch das 20. und beginnende 21. Jahrhundert!

Thomas Chorherr, geboren 1932 in Wien. Akademisches Gymnasium, Studium der Rechtswissenschaften, abgeschlossen 1957 mit dem Doktorat, dazwischen Studium der Politologie in den USA. Journalist seit 1952, Fernseh- und Radioautor, Redakteur der 'Presse' seit 1955, Chefredakteur 1976 bis 1995, Herausgeber bis 2000, seither Kolumnist. Ausgezeichnet u.a. mit dem Fernsehpreis des ÖGB und dem Leopold-Kunschak-Pressepreis.

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Leseprobe

Kinderjahre


Ein Herr in Hut und Mantel


Der Tag: 5. September 1961. Der Ort: der Gehsteig vor dem Hotel Bristol an der Wiener Ringstraße. Die Personen der Handlung: ein grauhaariger Herr in Hut und Mantel und ein junger Mann mit Schreibblock und Kugelschreiber in der Hand.

Der grauhaarige Herr ist 64 Jahre alt, der junge knapp 29. Der alte war Bundeskanzler, der junge ist Reporter der »Presse«. Lokalreporter, um genau zu sein. Der Grauhaarige ist am 11. März 1938 zurückgetreten. Er heißt Kurt Schuschnigg. Der junge Reporter ist von der »Presse« entsandt worden, um den alten österreichischen Ex-Politiker zu interviewen. Die Zeitung hatte – ich weiß nicht mehr, wie – den Aufenthaltsort Schuschniggs herausbekommen. Ich war der einzige, der ihn treffen konnte. Der diese historische Figur, die zu einem ersten kurzen Aufenthalt nach Wien gekommen war, interviewen sollte. Sollte, nicht konnte. Ich hatte den vorletzten österreichischen Regierungschef der Vorkriegszeit (der letzte war Arthur Seyß-Inquart) vor dem Hotel Bristol abgepasst. Er war kurz angebunden. Er sagte, dass er nichts zu sagen habe und vor allem nichts sagen wolle, grüßte höflich und verschwand im Hotel.

Das erhoffte Interview ist demnach eine Pleite geworden. Ich hatte gehofft, vom letzten politischen Exponenten des unabhängigen Österreich zu erfahren, was er über den viel zitierten Klerikofaschismus zu sagen habe. Es hätte mich interessiert – nicht nur als Journalist, sondern auch als geschichtlich interessierter Österreicher.

Stattdessen verbrachte ich die nächste Zeit mit einer Erinnerungs- und Gewissenserforschung. Sollte ich über den Mini-Kurzbesuch Schuschniggs schreiben, ohne mit ihm gesprochen zu haben? Hätte ich im Archiv genug Material gefunden, um mit dem, was ich aus dem Geschichtsunterricht mitbekommen hatte, eine Geschichte – Story, wie wir zu sagen pflegten – zu formulieren? Hatte der erwähnte Geschichtsunterricht genügend Material geboten? Oder, um es kurz zu fassen: Was wusste ich damals, anno 1961, als Redakteur der »Presse« und zudem junger Doktor der Rechtswissenschaften, von Kurt Schuschnigg?

Besser noch: Was wusste ich überhaupt von Geschichte, von der österreichischen zumal? Vielleicht mehr als andere. Aber genug? Was heißt genug? Kann man genügend Geschichtswissen absorbieren, inhalieren, aufhäufen? Noch einmal: Die Erinnerung ist eine Tochter der Zeit. Und wieder wird da der Begriff »Geschichtskultur« aktuell. Man könnte auch sagen: »gefärbtes Geschichtswissen«. Das Wissen um die Vergangenheit entspringt den Umständen der Gegenwart. Die Zeitgeschichte, wie wir sie verstehen und wie sie an den Universitäten gelehrt wird (bisweilen, ja meist, von voreingenommenen Lehrern), ist Geschichte, eingespannt in den Schraubstock historischer Wünsche: Nicht, wie es war, sondern wie es hätte sein sollen, ist die Aussage.

Und wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen. Das Sprichwort ist, scheint mir, an Wahrheitsgehalt nicht zu übertreffen. Nur dass der Gesang der Alten bisweilen ein dissonanter ist, und sich die Dissonanzen über Generationen fortsetzen.

Schuschnigg hat eine Woche nach dem nicht stattgefundenen Interview einen Vortrag über den Ständestaat gehalten. Ich war nicht dabei.

Mein Vater, der Marineur


Mein Vater, geboren 1894, war mit Leib und Seele das, was man damals »Marineur« nannte. Er hatte einen Dienst in der Österreichisch-Ungarischen k. u. k. Kriegsmarine zum Berufsziel gemacht. In Pola, dem Kriegshafen der Monarchie, hatte er die sogenannte Maschinenschule absolviert – jenes Institut, das das technische Schiffspersonal ausbildete. Anno 1912 wurde er »ausgemustert«, als »Jahrgangserster«, als bester seiner Altersgruppe, wie mir meine Großmutter voll Stolz auf ihren Sohn immer wieder erzählte. Die Eltern der jeweiligen Jahrgangsersten durften auf Kosten des k. u. k. Kriegsministeriums nach Pola reisen und an der Ausmusterungsfeier teilnehmen.

Mein Vater wurde als Maschinenmaat einem Torpedoboot zugeteilt; zwei Jahre lang durchkreuzte er das Meer, zumeist die Adria, bis zum August 1914. Interessant: Er hat mir eigentlich nie von seinen Kriegserlebnissen erzählt, obgleich er mit Leib und Seele Marineur geblieben ist, auch als das große Reich mit seinen Küsten zu einem kleinen Binnenland geschrumpft war. Die »Marineure« der k. u. k. Kriegsmarine hatten bis weit in die Vierzigerjahre hinein einen großen Stammtisch in einem Wiener Gasthaus.

Ein Bild vom Torpedoboot meines Vaters (von ihm selbst gemalt) hatte meine Mutter schließlich der Tischrunde gespendet. Als Künstler war er ein Dilettant, aber in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes. Er hat Kunst als Vergnügen – diletto – ausgeübt. Und er war darin überaus bewandert. Er hat gemalt, modelliert, er hat mir ein Marionettentheater gebastelt, das im wahrsten Sinne des Wortes alle Stückeln gespielt hat. Und er hat vorzüglich Geige gespielt.

Aber er hat nicht viel vom Krieg erzählt, obwohl er viel zu berichten gehabt hätte. Zum Unterschied von meiner Mutter, die es tat – oft und gerne. Sie berichtete etwa, dass sie immer wieder auf dem Gehsteig der Mariahilfer Straße gestanden war, als Kaiser Franz Josef in offener Kutsche und nur von einem Adjutanten begleitet von Schönbrunn in die Hofburg fuhr. Die Herren zogen die Hüte und die Damen knicksten, erzählte meine Mutter. Und sie selbst knickste auch – immer wieder. Einmal habe der Kaiser sogar grüßend die Hand an den federgeschmückten Hut gelegt – und sie bezog den Gruß natürlich auf sich selbst. Sie war damals noch keine zwölf. Und sie hat – apropos Geschichte! – noch erlebt, wie der erste Mensch, der Amerikaner Neil Armstrong, am 21. Juli 1969 den Mond betrat. Sie war dabei – das Fernsehen machte es möglich.

Als ich geboren wurde, gab es noch kein Fernsehen. »Wir 32er erblickten das Licht der Welt in einer düsteren Zeit. Doch inmitten aller Angst vor Arbeitslosigkeit und Sorge ums Überleben waren wir für unsere Eltern ein Lichtblick, der ihnen neue Kraft gab: 102.277 Mal begrüßten wir im Jahr 1932 irgendwo in Österreich mit einem kleinen, kläglichen Schrei unsere glücklichen Eltern.« Im Wartberg-Verlag ist 2011 in der Reihe »Kindheit und Jugend in Österreich« der Band »Wir vom Jahrgang 1932« erschienen. Es stimmt, die Zeit war düster, wie ich später immer wieder las. Aber sie war vor allem unsicher.

Kindheit in der »Systemzeit«


Gegen Ende des Jahres geboren, war ich in der »Systemzeit« im Kindergarten- und Vorschulalter. Systemzeit – so wurden in meiner Familie die Jahre zwischen 1933 und 1938 bezeichnet, die später gerne »Austrofaschismus« genannt wurden. Der Historiker Gerhard Jagschitz warnt vor schnellen Urteilen. In dem von Erika Weinzierl und Kurt Skalnik herausgegebenen Band I von »Österreich 1918–1938 – Geschichte der Ersten Republik« schreibt er: »Das Fehlen von Antisemitismus und Antiklerikalismus in der offiziellen Politik sowie der mangelnde Imperialismus allein können noch nicht ausreichen, Bedenken über die vorbehaltlose Etikettierung mit dem Begriff Faschismus zu haben. In Österreich fehlte die Identität von politischer und militanter Organisation.«

Jagschitz ist in der Tat unsicher, was den »Ständestaat« betrifft und was die Kennzeichen dieser sogenannten »Systemzeit« waren. Der Begriff »Austrofaschismus« werde mitunter global und unreflektiert angewendet, schreibt er. Mein Vater, als Geschäftsmann später Präsident der sogenannten »Kleinkaufmannschaft«, war jedenfalls Mitglied der »Vaterländischen Front«, der damals existierenden Einheitspartei. Von Handelsminister Stockinger erhielt er einen Orden. Ich habe ihn später unter seinen Dokumenten gefunden – mitsamt der Verleihungsurkunde, die das väterliche Bemühen um das österreichische Geschäftsleben rühmte. War diese Vaterländische Front das, was man heute »faschistisch« nennen würde? Sie war, las ich später bei Jagschitz, »als einzige zugelassene politische Willensorganisation nur der unzulängliche Versuch eines faschistischen Instrumentariums, das erst von dem im Entstehen begriffenen autoritären Staat überhaupt geschaffen wurde.«

Mein Vater, der k. u. k. Marineur, verheiratet mit der Tochter eines Juden, wovon ich später erzählen will: Keine Spur von Faschismus in meiner Familie.

Aber erlebte Geschichte? Für mich noch nicht. Bis auf Weiteres. Klerikofaschismus? Ich war im Vorschulalter. Regime und Kirche – das fiel dem Kind nicht auf. Dass an Prozessionen auch Abteilungen der bewaffneten Macht teilnahmen, schien selbstverständlich. Als zu Fronleichnam (es muss wohl 1937 gewesen sein) vor der Elisabethkirche auf der Wieden, dem vierten Wiener Bezirk, eine Kompanie des Bundesheeres mit eichenlaubgeschmücktem Stahlhelm auf Kommando vor dem »Allerheiligsten« einen Ehrensalut abfeuerte, war dies offenbar nichts Ungewöhnliches. Trotzdem – ich erinnere mich noch genau – zuckte ich zusammen. Ob ich zu weinen begann, weiß ich nicht mehr.

Aber ich weiß, dass ich ganz sicher meine Tränen hinuntergeschluckt hätte. Ich bin immer schon ein Sonntagskind gewesen. Ein echtes noch dazu. Um zwölf Uhr Mittag geboren. Sonntagskinder, heißt es, haben nebst vielem anderen auch ein gehöriges Maß Optimismus in die Wiege gelegt bekommen. Ich habe ihn später immer wieder gebraucht. In der »Systemzeit« noch nicht. Aber für sie war ich ohnehin zu klein – in jeder Beziehung.

Der Zahnarzt Dr. Reisberg


Die Erinnerung geht weiter: zu einem Balkon im zweiten Stock eines gutbürgerlichen, der zweiten Ringstraßenzeit entstammenden Wohnhauses gegenüber der Oper. Zeit der Handlung: der 14. März 1938. Personen der Handlung: Zahnarzt Dr. Reisberg, seine Frau,...

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