Sex, Statistiken und Hollywood
Echter, ungeschminkter Sex ist eines der letzten grossen Tabus. Und er interessiert die meisten Menschen brennend. Denn auch wenn das Thema in unserem Alltag überpräsent ist, kommen wir meist nur an eine retouchierte, inszenierte Version von richtigem Sex heran.
Sex ist eine aufregende Sache – im wahrsten Sinne des Wortes. Geht es um Sex, gehen die Emotionen hoch und die Meinungen auseinander. Lust, Neugier, Scham und hundert andere Gefühle und Gedanken sind mit dem Thema verbunden. Sex betrifft uns alle – irgendwie sind wir schliesslich entstanden –, und die allermeisten Menschen haben das Bedürfnis, ihre Lust in irgendeiner Form von Sexualität auszuleben.
Wie diese Sexualität schliesslich aussieht, ist ganz verschieden. Allein die Ideen und Vorstellungen davon, was Sex überhaupt ist, gehen auseinander. Für die einen ist Sex Geschlechtsverkehr, also die Vereinigung von Mann und Frau. Er umfasst den Akt, bei dem der Mann mit seinem erigierten Penis in die Scheide der Frau eindringt. Andere haben eine breitere Vorstellung davon, was Sex und vor allem auch Sexualität ist.
Eine etwas nüchterne, in ihrer Offenheit aber auch sehr schöne Definition sieht Sexualität als «die Gesamtheit aller Lebensäusserungen, die im Zusammenhang mit der Lust- und Fortpflanzungsfunktion auftreten und erlebt werden». Gemäss dieser Definition ist Sex nicht nur überall, er fängt auch schon sehr viel früher an, als die meisten Leute denken. Das Spendieren eines Drinks in einer Bar oder der intensive Blick in der Warteschlange vor der Kasse könnten nämlich schon ein bisschen Sex sein.
HINWEIS Welche Idee Sie auch immer von Sex haben – dieses Buch soll Sie dabei unterstützen, Ihre eigene, ganz individuelle Sexualität aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Ausserdem soll es Ihnen zahlreiche Tipps und Anregungen für Ihren Bettalltag vermitteln: handfeste (im wörtlichen und übertragenen Sinne), aber auch solche zu der Art und Weise, wie Sie über Sex denken.
Der Stellenwert von Sex
Wie wichtig ist Sex? Eine einfache Frage, deren Beantwortung jedoch knifflig ist. Denn Sex kann für ein und dieselbe Person im einen Moment alles entscheidend und schon im nächsten völlig unwichtig sein. Biologisch betrachtet ist die Antwort simpel: Sex ist essenziell, denn ohne ihn gäbe es uns alle nicht.
HINWEIS Weil er für das Fortbestehen eine zentrale Rolle spielt, gehört es zu den Grundbedürfnissen des Menschen, Sex zu haben. Das ist aber nicht alles. Guter Sex ist ganz einfach auch schön.
Den meisten Menschen dürfte es nicht ums nackte Überleben der Spezies gehen, wenn sie mit jemandem schlafen. Im Gegenteil. Eine stattliche Anzahl von Liebenden nimmt so einiges auf sich, damit Sex folgenlos bleibt, mindestens was die Familienplanung angeht (mehr zum Thema siehe Kapitel «Verhütung», Seite 60).
Triebe, Triebe
Warum also Sex? Warum der Aufwand, den einige Leute auf sich nehmen, um ihn zu haben? Warum der Stellenwert, den ihm unsere Gesellschaft gibt?
Sex ist – mindestens wenn er so passiert, wie man es sich wünscht – ganz einfach schön. Die Hormone, die während und nach dem Sex ausgeschüttet werden, sorgen für ein tiefes Glückserleben und ein Gefühl der Verbundenheit. Sex kann ein Zeichen von Liebe sein, berauschend, eine Quelle der Zufriedenheit, versöhnend, Stress abbauend, bestätigend. Er gipfelt, wenn möglich, im Orgasmus, in einem Erlebnis, das ein Mensch so nur im Rahmen der Sexualität erleben kann, sei es nun zu zweit oder alleine.
HINWEIS Nicht selten ist Sex der entscheidende Unterschied, der Partnerschaft von blosser Freundschaft trennt.
Aber: Nicht immer und nicht für alle ist Sex etwas Bedeutungsvolles, Weltbewegendes. Und auch das geht in Ordnung, wenn die Sexualpartner ehrlich sind, sich auf derselben Ebene begegnen und sich vom Sex dasselbe erhoffen. Sex – guter Sex – darf auch mal unglamourös und einfach nur auf die schnelle Befriedigung ausgerichtet sein. Trotzdem ist er oft etwas Exklusives, das die meisten Menschen nur mit einem sehr überschaubaren Kreis von Personen teilen – oft nur mit einer einzigen.
Sex und Wissenschaft – ein schwieriges Paar
In der Wissenschaft ist Sex ein relativ junges Gebiet. Zwar haben sich die Menschen seit jeher brennend für dieses Thema interessiert, und Forscher haben immer wieder Anläufe genommen, Licht ins Dunkel der Schlafzimmer zu bringen. Der Amerikaner Alfred Kinsey war in den 1940er-Jahren der Erste, der anfing, eine grosse Zahl von Männern und Frauen gezielt zu ihrer Sexualität zu befragen. Kinsey konnte mit seiner Arbeit einige Mythen aufklären, und er hat den Weg für die weitere Forschung geebnet. Ein interessantes Faktum am Rande: Alfred Kinsey war eigentlich Insektenforscher – den Beruf des Sexualwissenschaftlers gab es ja auch noch gar nicht.
Trotzdem kämpft die Wissenschaft noch heute mit grossen Schwierigkeiten, wenn es um Sex geht. Das Problem: Bei kaum einem Forschungsgegenstand wird wohl derart viel gelogen wie bei Auskünften rund um die Sexualität – sogar dann, wenn in Fragebögen absolute Anonymität garantiert wird.
INFO Weltweit widmen sich nur wenige seriöse Wissenschaftler der Erforschung der Sexualität.
Dieses Flunkern und «Frisieren» der Realität ist nicht nur ärgerlich für die Wissenschaft – wir schaden uns als Gesellschaft auch selber damit, weil eine Normalität gebildet oder zementiert wird, die eigentlich gar keine ist. Deshalb ist es umso wichtiger, dass Sie sich im Wirrwarr der Über- und Untertreibungen Ihre eigene Meinung bilden und für sich selber herausfinden, was gut und richtig ist. Das kann manchmal anstrengend sein, aber mit diesem Buch als Begleiter wird Ihnen diese Entdeckungsreise leichter fallen.
Wissenschaftlich kaum greifbar
Eine Schwierigkeit bei der Erforschung der Sexualität besteht darin, dass der Forschungsgegenstand «Sex» sehr komplex ist. Er befasst sich mit Dingen, die sich nicht ohne Weiteres normieren lassen. Emotionen spielen eine grosse Rolle – sogar dann, wenn sich die Involvierten vornehmen, Gefühle bei einer Bettgeschichte nicht zuzulassen. Vielleicht sogar besonders dann. Hinzu kommt, dass Wissenschaftler anders als in anderen Bereichen Menschen nicht einfach so beim Sex beobachten können. Zumindest nicht, ohne durch ihre Präsenz oder Aufzeichnungen das Geschehen massivst zu beeinflussen und die Ergebnisse dadurch zu verfälschen und zu entwerten.
HINWEIS Das heisst für die Wissenschaft, aber auch für jeden Einzelnen: Es ist fast unmöglich, «echten» Sex zu erleben und zu studieren – abgesehen vom eigenen.
Mangelware Information
Folglich ist es für Männer und Frauen schwierig, ehrliche, detaillierte und vor allem auch hilfreiche Informationen zum Thema Sex zu bekommen. Die meisten sind sich bewusst, dass Pornografie sexuelle Fantasien und keine echte Sexualität darstellt, aber eine andere Gelegenheit, Sex zu sehen, hat man nun mal kaum. Und nicht jeder kann und will ein offenes Gespräch mit Freunden und Bekannten suchen.
Dabei starten die meisten Menschen ihre sexuelle Karriere bereits mit einem Informationshandicap. Die Eltern können oder wollen vielleicht nicht detailliert Auskunft geben – und die Kinder wollen es aus dieser Ecke auch gar nicht hören. Sexuelle Aufklärung in der Schule wiederum ist ein flammend diskutiertes Politikum. Und Anlaufstellen, die Informationen darüber bieten, wie man als durchschnittliches, interessiertes Paar seine Lust leben und vielleicht auch steigern kann, sind extrem selten. Hier will dieser Ratgeber eine Lücke schliessen. In ihm stecken nicht nur viele pfannenfertige Tipps, die man sofort – oder dann halt später am Abend im Bett – ausprobieren kann. Er soll Paaren wie Singles auch das Rüstzeug geben, zu zweit oder allein die eigene Sexualität zu entdecken, zu pflegen und zu entwickeln.
Die grosse Sexlüge
Sex sells – das wissen Werber, Journalisten, Künstler und überhaupt alle, die etwas an den Mann oder an die Frau bringen wollen. Unser Alltag ist derart überflutet mit sexuellen Reizen, dass wir sie oft gar nicht mehr als solche wahrnehmen.
Allerdings ist der Grossteil des Sex, der uns im Alltag begegnet, ein völliges Kunstprodukt. Und damit sind nicht pornografische Überzeichnungen gemeint, sondern Sex in der Werbung, in der TV-Serie, im Spielfilm oder auch in der Literatur. Gezeigt wird nämlich nicht, was wirklich in den Schlafzimmern abgeht, sondern nur ein gestylter und aufpolierter Aspekt der ganzen Geschichte.
HINWEIS Die Präsenz von «künstlichem» Sex in den Medien beeinflusst unsere echte Sexualität empfindlich.
Leider nehmen wir uns diesen...