2008
1. Januar
Ein neues Jahr beginnt, und ich setze mich hin, um zu schreiben. In meinem Tagebuch und den Briefen an meine Freunde versuche ich Ereignisse festzuhalten, die den Alltag prägen und die Komplexität unserer Situation aufzeigen.
Aber manchmal, wenn wieder etwas besonders Schlimmes passiert, gelingt es mir weder zu schreiben noch klar zu denken. Dann fühle ich mich dumpf und ausgelaugt. Dann möchte ich fliehen und mir einreden, es sei alles normal. Gründe zum Verzweifeln und zum Trauern gibt es genug. Ich sage mir aber: In meinem Kummer bin ich nicht allein, denn vielen Menschen geht es viel schlechter als mir. Dass wir uns elend fühlen, ist angesichts unserer Situation normal – weil unsere Sinnesorgane noch funktionieren. Weil wir fühlen, empfinden und spüren. Weil wir sehen und hören. Weil wir denken und Pläne und Träume haben und weil wir wirkliche Ängste kennen. Es ist normal, weil wir entschlossen sind, unsere Menschlichkeit zu behalten.
Ich suche dann nach Gedanken, die mich ermutigen, und sage mir: Ich glaube weiterhin daran, dass bessere Zeiten kommen. Ein Keimling braucht einen gewissen Reiz, damit ein neuer Spross emporwächst. Ich will hoffen, denn Hoffnung macht kreativ und verleiht Kraft, damit wir aktiv bleiben und noch aktiver werden. Die Hoffnung trägt.
Das Schönste, was wir im letzten Jahr erleben durften: Munîr und ich sind Grosseltern geworden. Unsere Tochter Ghâda hat am 15. August ihr erstes Kind, Rina, geboren. Dieses wundersame Ereignis bringt uns viel Freude und willkommene Aufgaben.
16. Januar
Die politische Lage ist verfahren und entmutigend. Seit vergangenem Sommer haben wir zwei palästinensische Regierungen, die miteinander verfeindet sind. Die eine wird von der national ausgerichteten Fatah-Bewegung gestellt und regiert als sogenannte Autonomiebehörde im Westjordanland. Die andere gehört der islamistischen Hamâs-Bewegung an und kontrolliert den Gazastreifen. Israel hat Gaza zu einer »feindlichen Entität« erklärt und das Gebiet seit 2006, nach der Entführung eines israelischen Soldaten, immer stärker abgeriegelt. Die Einfuhr lebensnotwendiger Güter für die mehr als 1,5 Millionen eingesperrten Menschen wurde drastisch reduziert.
Mehrere Anläufe, Fatah und Hamâs zu versöhnen, sind gescheitert. Das liegt auch daran, dass beide von fremden Mächten abhängig sind, die an einer Versöhnung kein Interesse haben. Die Fatah-Regierung unter Präsident Mahmûd Abbâs ist auf westliche Hilfsgelder angewiesen und kooperiert mit der Besatzungsmacht Israel, während die Hamâs vor allem von iranischer Unterstützung abhängig ist.
Fatah und Hamâs regieren, ohne grundlegende Menschenrechte oder rechtsstaatliche Prinzipien gesetzlich verankert zu haben, geschweige denn sie zu respektieren. Hunderte politischer Häftlinge der jeweiligen Gegenseite sitzen in ihren Gefängnissen. Der Streit zerstört die mühevoll erreichten demokratischen Ansätze. Meinungs- und Medienfreiheit sind stark eingeschränkt. Aus Angst vor Repressalien äussern die Menschen kaum noch Kritik. Sie sind tief enttäuscht von der Politik und misstrauen den Parteien.
2. Februar
Unser Sohn Anîs ist im Juli 2004, nach abgeschlossenem Medizinstudium in Innsbruck, nach Palästina heimgekehrt. Seither arbeitet er als Allgemeinarzt in Flüchtlingslagern, die von der UNO verwaltet und finanziert werden. Er hat dort einen Tagelohn und verdient im Monat weniger als 400 Euro. Davon kann man nicht leben. Daher hat er in Birzeit in der Wohnung seiner Grossmutter Tekla eine kleine Praxis aufgemacht, für Sprechstunden am Nachmittag und Notfälle. Die Patienten kommen von überall her, und kaum jemand bezahlt die bescheidenen zwei Euro Gebühr, die Anîs verlangt. Viele gehen davon aus, dass die Praxis eine Zweigstelle der Klinik im nahe gelegenen Flüchtlingslager Dschalasun ist, wo die Bewohner kostenlos behandelt werden. Andere sehen in Anîs den Jungen aus dem Dorf, den Freund des Sohnes, den Verwandten, Nachbarn, Schulkameraden, der von ihnen doch sicher nichts verlangt! Patienten mit schweren Leiden und arme Menschen behandelt er von sich aus unentgeltlich. Oft bezahlt er ihnen auch die Medikamente.
Im Flüchtlingslager läuft die medizinische Versorgung wie am Fliessband. Täglich sieht Anîs rund hundert Patienten, oft noch mehr. Da sie nichts zu bezahlen brauchen, kommen viele bloss, um sich zu treffen, zum Zeitvertreib. Einige fragen nach Antibiotika und Schmerzmitteln für mehrere Monate und wollen sie dann heimlich verkaufen. Für Anîs ist es ein ständiger Abwehrkampf. Einmal wurde es gar lebensgefährlich: Ein Mann bedrohte ihn, indem er ihm eine Pistole an die Schläfe hielt.
Seither sucht Anîs nach einer Möglichkeit, sich im Ausland zu spezialisieren. Wir Eltern sehen die Notwendigkeit, doch plagt uns der Gedanke, dass Anîs mit dreiunddreissig Jahren noch keine Braut hat und die ganze Stadt eine Frau für ihn sucht.
Für Christen in Palästina ist es schwer, eine Partnerin oder einen Partner zu finden. Das liegt schon daran, dass sie eine kleine Minderheit von weniger als drei Prozent sind. Zudem verhindern israelische Sperren und administrative Einschränkungen eine Begegnung in den wenigen Orten, in denen noch Christen leben. Früher trafen sich junge Leute an Weihnachten und Ostern zum Gebet, zu Familienbesuchen und anderen gesellschaftlichen Ereignissen in Jerusalem und Bethlehem. Inzwischen ist das nicht mehr möglich, weil uns die israelischen Besatzungsbehörden unterschiedliche Kategorien von Identitätskarten aufgezwungen haben, die unsere Mobilität eng begrenzen. So dürfen wir vom Westjordanland nicht nach Jerusalem, Israel oder Gaza. Selbst innerhalb des Westjordanlandes sind wir eingeschränkt und dürfen nicht ins Jordantal oder das Gebiet zwischen der Sperrmauer und der israelischen Grenze. Die dort lebenden Menschen oder auch die Bewohner von Gaza dürfen nirgendwohin ohne eine Genehmigung des Militärs, und die wird nur selten erteilt.
Gemeinsam feiern und gemeinsam trauern verbindet, entlastet und festigt die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft mit ihren Traditionen und Sitten. Doch gerade das will die Besatzungspolitik unterbinden. Wer heiraten möchte, dem bleibt nichts anderes übrig, als in der nächsten Umgebung, im eigenen Dorf zu suchen.
Seit seiner Rückkehr nach Birzeit ist Anîs immer wieder darauf angesprochen worden, dass er noch keine Frau hat. »Jetzt ist die Zeit gekommen, du musst heiraten. Wir wollen uns mit dir freuen«, sagten die Leute. »Das will ich auch«, antwortete er, »aber noch suche ich.« Alle wollten sie für ihn suchen, immer wieder kamen Vorschläge. Es wurde zur Nervenprobe. Anîs ärgerte sich, und wir Eltern hofften, er würde in Ruhe gelassen. Als er wütend darüber sprach, sagte ich ihm: »Die Leute meinen es gut, nimm sie so, wie sie sind, reagiere mit Humor.« Einmal waren wir an einem Fest im Garten der Kirche. Wo Anîs auch hinschaute, winkte jemand und zeigte auf ein Mädchen. Er beschloss mitzuspielen: Sobald ihn jemand auf eine junge Frau hinwies, zeigte er auf die andere Seite mit der Bemerkung, es gebe dort andere, die er im Blick habe. Allmählich beruhigten sich die Leute und gaben die Suche auf.
15. April
Ich bin auf Vortragsreise in der Schweiz. Als ich gestern in Bern unterwegs war, erhielt ich einen Anruf von Anîs: »Jamma, es hat geklappt, du kannst schon mal zu trillern beginnen.« Ich wusste sofort Bescheid und liess mitten auf der Strasse einen lauten Jubeltriller ertönen. »Ein Mädchen aus Birzeit?« Er bejahte. »Es ist diejenige, die du mir vor drei Jahren vorgeschlagen hast, Dima, die Tochter der Nachbarn.« Ich trillerte noch einmal. Die Leute, die an mir vorbeigingen, schauten mich erstaunt an, und ich sagte: »Mein Sohn hat seine Braut gefunden.« – »Wieso, war sie verlorengegangen?«, fragte eine Frau. Ich antwortete: »Nein, aber bei uns ist alles schwer, und wenn etwas klappt, dann freuen wir uns von Herzen.«
30. April
Nach meiner Rückkehr habe ich von meinen Kindern die ganze Liebesgeschichte erfahren. Ausgerechnet als es im Februar einmal schneite, sprang der zündende Funke über. Schnee ist bei uns aussergewöhnlich, und da man nicht darauf vorbereitet ist, fallen Arbeit und Schule aus, und alle stürzen ins Freie und spielen im Schnee. Munîr hatte an diesem Morgen Anîs geweckt und ihn gebeten, aufs Dach zu steigen, um den Schnee von den Sonnenkollektoren zu entfernen. Unser Sohn war nicht begeistert, denn es war sehr kalt. Vom Dach aus sah er die Nachbarn übermütig und mit lautem Geschrei im Schnee spielen. Gerade erst aus dem Schlaf gerissen und frierend, war er schlechter Laune und grüsste nicht. Als er sich danach im Haus beim Kaffee aufwärmte, war es ihm peinlich, dass er die Nachbarn vom Dach aus nicht gegrüsst hatte, und er ging nach draussen, um sich den im Schnee Spielenden anzuschliessen. Unter ihnen war auch Dima. Sie bewarfen sich mit Schneebällen, und dabei funkte es zwischen ihnen.
Offen aufeinander zuzugehen ist nicht möglich, es soll kein Gerede geben. Und für ein Mädchen gehört es sich erst recht nicht, den ersten Schritt zu tun; dies würde ein schlechtes Licht auf sie werfen. Nur seiner Schwester Ghâda vertraute Anîs sich an. Ghâda lud Dima zum Kaffee ein, um zu sondieren, ob sie frei sei und allenfalls offen für eine Freundschaft mit Anîs. Dima wollte eine Woche Bedenkzeit. Aber nach drei Tagen rief sie Ghâda an und sagte, dass sie und ihre Eltern eine Verbindung begrüssen würden. Ghâda organisierte ein paar geheime Treffen bei sich zu Hause, damit Anîs und Dima einander näher kennenlernen konnten. Als sie nach...