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Niemand ist ein Zigeuner

Zur Ächtung eines europäischen Vorurteils

AutorWolfgang Wippermann
Verlagedition Körber-Stiftung
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783896844859
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Tief sitzen die Vorurteile gegen die Menschen, die man früher »Zigeuner« nannte. Nicht nur in Deutschland, in ganz Europa werden Sinti und Roma ausgegrenzt und diskriminiert, oft sogar verfolgt. Mit der Armutszuwanderung aus Südosteuropa wurde das alte Feindbild auch hierzulande wiederbelebt. Der Historiker Wolfgang Wippermann geht den Vorurteilen auf den Grund und differenziert religiöse, soziale, romantisierende und rassistische Motive. Zusammen bilden sie, so erklärt er, eine eigenständige Ideologie: den Antiziganismus. Der entsteht nicht etwa im Bodensatz der Gesellschaft oder ist historisch erledigt, diese Ideologie ist nach wie vor politisch gewollt: Sie dient der Abgrenzung vom vermeintlich Fremden und der Legitimation von Herrschaft. Wippermann fordert endlich Gerechtigkeit und gesellschaftliche Anerkennung für Sinti und Roma. Denn diese fortdauernde Diskriminierung verletzt den europäischen Wertekanon und muss genauso geächtet werden, wie es der Antisemitismus wird. Es wird Zeit, dass Europa begreift: Niemand ist ein Zigeuner!

Wolfgang Wippermann ist Professor für Neuere Geschichte. Er studierte in Göttingen und Marburg, war Gastprofessor in den USA, Österreich und China und lehrt seit 1978 an der Freien Universität Berlin. Er arbeitet schwerpunktmäßig zum Faschismus, zu Nationalsozialismus, Rassismus und religiösem Fundamentalismus. Wippermann ist Autor zahlreicher Monografien, Zeitschriften und Lexikonartikel. Zuletzt erschien »Luthers Erbe« (2014); für Aufsehen sorgte auch »Auserwählte Opfer? Shoah und Porrajmos im Vergleich« (2012).

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Leseprobe

»Wäsche weg! Die Zigeuner kommen!«
Einleitung


»Wäsche weg! Die Zigeuner kommen!« – rief meine Großmutter 1951 aufgeregt aus, als sich eine Gruppe von Roma unserem Haus näherte. Meine Großmutter nahm die noch feuchte Wäsche von der Leine und befahl mir, sofort ins Haus zu gehen. Folgsam, wie ich im Alter von sechs Jahren noch war, gehorchte ich meiner geliebten Großmutter, fragte sie aber, was das alles solle. Flüsternd und sich sogar bekreuzigend teilte sie mir mit, dass »die Zigeuner« furchtbare Menschen seien, die keineswegs nur Wäsche, sondern auch kleine Kinder stehlen würden. Dies weckte meine Neugier. In der Hoffnung, durch die »Zigeuner« aus der Herrschaft meines überaus strengen Elternhauses und vom gerade begonnenen Schuldienst befreit zu werden, lief ich ihnen nach. Leider vergeblich. Die »Zigeuner« haben mich nicht gestohlen. Sie zogen an mir vorbei. Ich habe ihnen nur sehnsüchtig und voller Neid auf ihre freie Lebensweise nachschauen können.

Mit dieser Geschichte aus meiner Kindheit habe ich beschrieben, was ich Jahre später als Historiker erforscht habe – die Antiziganismus genannte Feindschaft gegenüber jenen, wie sie sich selber nennen, Roma bzw. Sinti und Roma. Sie wurzelt in einer Mischung aus Angst und Neid und besteht aus Vorurteilen der Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, die von den Roma »gadsche« genannt werden.

An erster Stelle ist die Namensgebung zu nennen. Denn diese ist falsch und pejorativ. Roma sind keine »Zigeuner«. Dabei handelt es sich um eine Fremdbezeichnung, eine Zuschreibung, die negative Assoziationen auslöst und auslösen soll. Im Deutschen bezieht sie sich auf die Vorstellung, dass Roma ständig herumziehen und Gaunereien begehen würden, das Wort »Zigeuner« bedeutet eigentlich »Zieh-Gauner«. Obwohl dies falsch ist, war das Vorurteil für meine Großmutter eine Tatsache. Sie glaubte fest daran, dass »Zigeuner« vor allem kleine Kinder stehlen würden. Das sich hartnäckig haltende Vorurteil, wonach »Zigeuner« notorische Diebe und Kinderräuber seien, ist das zentrale Element des sozialen Antiziganismus.

Während dies keiner weiteren Erläuterung bedarf, bleibt jedoch zu erklären, warum sich meine Großmutter bekreuzigte, um sich und mich vor den »Zigeunern« zu schützen. Weil sie in den »Zigeunern« teuflische Wesen erblicken wollte, die sich mit dem Teufel verbündet hätten, um von ihm seine magischen Fähigkeiten zu erlernen. Ich sehe in der Verteufelung der Roma das zentrale Element des wiederum von mir so genannten religiösen Antiziganismus.

Zum religiösen und sozialen Antiziganismus kommt ein weiteres Vorurteil. Es handelt sich dabei um den auch von mir als Jungen geteilten Neid auf das angeblich »lustige Zigeunerleben« der Roma, die ständig herumziehen dürfen, statt sich wie alle anderen von anständiger und ehrlicher Arbeit zu ernähren – und ihre Kinder in Schulen zu schicken, wo sie zu dieser anständigen und ehrlichen Arbeit erzogen werden. Die Forschung bezeichnet dieses scheinbar positive Vorurteil als romantischen Antiziganismus.

Diese Erklärungen und Differenzierungen des Antiziganismus sind sicherlich richtig und wichtig, erklären aber nicht, warum diese Vorurteile gegenüber allen Roma bestehen. Meine Großmutter und ich kannten keinen einzigen und haben auch mit keinem der Roma gesprochen, die an unserem Haus vorbeizogen. Dennoch waren wir vom Wahrheitsgehalt der erwähnten Vorurteile gegenüber »den Zigeunern« überzeugt. Warum? Weil wir wie die meisten Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft davon überzeugt waren, dass alle Roma von Natur aus die gleichen negativen Eigenschaften aufwiesen. Dies ist eine genuin rassistische Denkungsart. Ich bezeichne das als rassistischen Antiziganismus, der den sozialen, religiösen und romantisierenden Antiziganismus ergänzt, aber keineswegs verdrängt hat.

Antiziganismus ist also eine Ideologie, die aus sozialen, religiösen, romantisierenden und rassistischen Elementen besteht und auf Vorurteilen über die diebischen, faulen, teuflischen und »rassisch minderwertigen« Roma beruht. Diese Ideologie bzw. dieses »falsche Bewusstsein« ist aber tief in der Mentalität der Mehrheitsgesellschaft verwurzelt und von Generation zu Generation tradiert worden. Die Ängste und Vorurteile gegenüber den Roma wurden von den Herrschenden aufgegriffen und instrumentalisiert, um von sozialen Missständen ablenken und politische Ziele rechtfertigen zu können. Roma wurden nicht nur zu Sündenböcken gemacht, sondern diskriminiert und verfolgt. Das wurde von den Angehörigen der Mehrheitsgesellschaften nicht nur gebilligt, sondern gefordert, weil der Antiziganismus in ihrer Mentalität fest verwurzelt ist.

Mit der Geschichte und Funktion des Antiziganismus als Ideologie, Mentalität und Politik habe ich mich seit mehr als dreißig Jahren beschäftigt und darüber sowie über den Völkermord an den Roma mehrere Aufsätze und Bücher publiziert. Zunächst davon ausgegangen, dass in erster Linie der deutsche Antiziganismus zum Völkermord geführt hat, haben meine Forschungen aber ergeben, dass es sich keineswegs nur um ein spezifisch deutsches Phänomen gehandelt hat.

Beides ist falsch. Beim Antiziganismus handelt es sich um ein gesamteuropäisches Vorurteil, und der Völkermord an den Roma ist als ein europäischer Genozid zu bezeichnen, weil er keineswegs nur von den Deutschen, sondern auch von den Angehörigen anderer europäischer Völker begangen worden ist. Dennoch ist der Antiziganismus nach 1945 nicht so geächtet worden wie der Antisemitismus, der zum Völkermord an den Juden geführt hat. Die Roma werden immer noch und in allen europäischen Ländern stärker abgelehnt, diskriminiert und verachtet als die Juden. Ein skandalöser Zustand. Niemand ist ein »Zigeuner«, und keiner darf als »Zigeuner« (oder »gypsy«, »gitano«, »tsigan«, »zigenar« etc.) beschimpft, diskriminiert und verfolgt werden. Es muss zu einer Ächtung dieses europäischen Vorurteils kommen.

Um diese Thesen beweisen und diese Forderungen begründen zu können, bin ich folgendermaßen vorgegangen. Zunächst wird im ersten Kapitel begründet, warum nicht nur die deutsche, sondern alle anderen europäischen Fremdbezeichnungen der Roma falsch und antiziganistisch konnotiert sind. Im zweiten Kapitel wird gezeigt, wie es in ganz Europa zur Feind- und Fremderklärung der Roma gekommen ist. Beides ist bis heute nicht überwunden worden. Die Roma werden, wenn auch nicht mehr als Feinde Europas, so doch als Fremde angesehen. Dies, obwohl sie bzw. ihre Vorfahren schon vor tausend Jahren nach Europa eingewandert sind. In den nächsten beiden Kapiteln wenden wir uns der Entstehung und Verbreitung des religiösen und sozialen sowie des rassistischen und romantischen Antiziganismus zu. Dies geschieht wiederum unter einer gesamteuropäischen Perspektive und in einer epochenübergreifenden Weise.

Im darauffolgenden Kapitel wird die Geschichte des intendierten und rassistisch motivierten Völkermordes an den Roma skizziert, der im Romanes, der Sprache der Roma, Porrajmos (= das Verschlungene) genannt wird. Wie bereits oben angedeutet, wird dabei auch auf die Kollaboration einiger europäischer Völker am Genozid der Roma verwiesen.

Beides – die europäische Kollaboration und die rassistische Motivation des Porrajmos – ist jedoch, wie im sechsten Kapitel gezeigt wird, nach 1945 geleugnet worden. Dies geschah, um den überlebenden Roma den Anspruch auf Wiedergutmachung zu verweigern, und wurde mit dem antiziganistischen Argument begründet, wonach es sich bei den ermordeten Roma um »Asoziale« gehandelt habe, die wegen ihrer »asozialen« Eigenschaften und nicht wegen ihrer »rassischen« Herkunft ermordet worden seien.

Von diesem Stigma sind die Roma in Westeuropa bis heute nicht befreit worden, auch wenn sich dazu niemand mehr bekennt. Sie werden zwar nicht mehr offen als Asoziale beschimpft, aber etwas verschämt zu einer »sozialen Randgruppe« erklärt, deren Angehörige aufgefordert werden, sich endlich in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren. Dieses Integrationsgebot ist vielleicht gut gemeint, basiert aber auf der falschen Annahme, dass sich die Roma bisher nicht integriert haben und das auch nicht wollen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Integration der Roma wird nicht von den Roma verweigert, sie wurde und wird zum Teil noch heute von Politikern in Europa verhindert, indem die Roma von der Mehrheitsgesellschaft separiert werden. Sie müssen ihre Kinder auf besondere und schlecht ausgestattete (Hilfs-)Schulen schicken, werden gezwungen, in besonderen und schlechten Wohnquartieren zu leben, und erhalten schlechtere Sozialleistungen als ihre Mitbürger. Die Separierung und Diskriminierung der Roma wird von vielen Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft begrüßt und gefordert. Für sie sind und bleiben die Roma eben ewige »Zigeuner« oder ständig herumziehende »Nomaden«. Dies ist, wie im siebenten Kapitel gezeigt wird, jedoch stärker in den westeuropäischen Ländern als in Deutschland der Fall.

In Osteuropa ist die Situation der Roma noch schlimmer. Hier werden die schon seit Jahrhunderten lebenden Roma nicht »nur« in rechtlicher und sozialer Hinsicht diskriminiert, hier sind sie offenen Verfolgungen ausgesetzt, die nicht nur mit Elementen und Motiven des sozialen (und religiösen), sondern auch des rassistischen Antiziganismus begründet werden.

Sowohl die Diskriminierung der Roma in Westeuropa wie ihre Verfolgung in Osteuropa hätte von Europa bzw. den verschiedenen europäischen Institutionen und Organisationen verhindert werden müssen. In mehreren ost- und westeuropäischen Ländern werden den Roma sogar die Minderheitenschutzrechte verweigert....

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