Hinsichtlich des Schaffensprozesses ist zweifellos das Vorgehen der Romanfigur Édouard in „Les Faux-Monnayeurs“ hervorragend dokumentiert, geben doch die Auszüge seines tagebuchähnlichen „Journals“ detailliert Auskunft über seine Wahrnehmungen, ästhetischen Überlegungen und die Behandlung seiner Stoffe. Bevor der Frage nachgegangen werden kann, ob und inwiefern sein Schreiben auf die Kraft von Inspiration zurückzuführen ist, wird in einem Zwischenschritt eine wesentliche strukturelle und erzählerische Besonderheit dieses Romans beleuchtet: die „Mise en abyme“ der Geschichte mit der Entstehungsgeschichte des Romans. Dies ist erforderlich, da die dadurch bedingte Vielschichtigkeit die Anknüpfungspunkte und die Blickwinkel, literarisches Schaffen nachzuvollziehen, vermehrt. Insbesondere wird durch die Komponente der Introspektion der Prozess umfassend „von innen her“ einsehbar gemacht. Was bei Édouard „im Kleinen“ stattfindet, reicht weit über die Beschreibung einer Romanfigur hinaus.
André Gide selbst hat den Begriff in seinem Journal als Erster verwendet, sein Bekannter Lucien Dällenbach griff ihn auf und verhalf ihm durch seine Dissertation „Le récit spéculaire : essai sur la mise en abyme“ schnell zum Status eines Terminus technicus der Erzähltheorie. Folgendes Zitat aus der Dissertation veranschaulicht die hinter dem Begriff stehende Vorstellung:
J´aime assez qu´en oeuvre d´art [écrit Gide en 1893] on retrouve ainsi transposé, à l´échelle des personnages, le sujet même de cette oeuvre. Rien ne l´éclaire mieux et n´établit plus sûrement toutes les propositions de l´ensemble. Ainsi, dans tels tableaux de Memling ou de Quentin Metzys, un petit miroir convexe et sombre reflète, à son tour, l´intérieur de la pièce où se joue la scène peinte. Enfin, en littérature, dans Hamlet, la scène de la comédie; et ailleurs dans bien d´autres pièces. Dans Wilhelm Meister, les scènes de marionnettes ou de fête au château […]Aucun de ces exemples n´est absolument juste. Ce qui le serait beaucoup plus, ce qui dirait mieux ce que j´ai voulu dire dans mes Cahiers, dans mon Narcisse et dans la Tentative, c´est la comparaison avec ce procédé du blason qui consiste, dans le premier, à en mettre un second „en abyme.[50]
Mit diesem aus der Heraldik entnommenen Vergleich des „blason“, des Wappens, welches in seinem Inneren unzählbar oft das Abbild seiner selbst trägt, drückt Gide seine Faszination an dem Phänomen eines sich unendlich ineinander wiederholenden Gegenstandes oder Zustandes aus, an dem „retour de l´œuvre sur elle-même“[51]. Dällenbach entwickelt Gides Gedanken weiter und stellt zentrale Merkmale der Mise en abyme auf: Mittels ihrer ist es möglich, eine réflexion, hier im Sinne des Spiegeleffekts, hervorzubringen. Ihr Hauptcharakteristikum ist es, die formale Struktur eines Werkes durch deren Wiederholung deutlicher hervortreten zu lassen. Dabei sieht er die Mise en abyme nicht als exklusiv der Literatur zugehörig an.[52] Als eigene, recht allgemein gehaltene Definition der Mise en abyme, die auch noch in jüngerer Sekundärliteratur[53] verwendet wird, stellt Dällenbach Folgendes fest: „[…] est mise en abyme toute enclave entretenant une relation de similitude avec l´oeuvre qui la contient.“[54]
In dem hier zu behandelnden Roman gibt es mehrere Beispiele dafür, wie der Roman Édouards mit dem Roman Gides kongruiert, und besagter Spiegeleffekt eintritt. Das augenscheinlichste Beispiel für die Mise en abyme stellt die Tatsache dar, dass innerhalb des Romans an einem Roman mit dem Titel „Les Faux-Monnayeurs“ geschrieben wird, der das selbe Thema haben soll, nämlich das Scheiben eines Romans über das Schreiben[55]. Édouard wird dem Leser dabei einmal durch einen Erzähler dargestellt, welcher seinerseits, wie auf einer Wanderschaft, neugierig und ohne feste Route durch den Roman führt, wie folgende Stelle zeigt:
Le voyageur, parvenu au haut de la colline, s'assied et regarde avant de reprendre sa marche, à présent déclinante ; il cherche à distinguer où le conduit enfin ce chemin sinueux qu'il a pris, qui lui semble se perdre dans l'ombre et, car le soir tombe, dans la nuit. Ainsi l'auteur imprévoyant s'arrête un instant, reprend souffle, et se demande avec inquiétude où va le mener son récit.[56]
Ein Erzähler, der sich Schritt um Schritt unmittelbar „erlebend“ seiner Geschichte annähert und mit ihr ringt, und sich gleichsam „in Echtzeit" zu seinen Beobachtungen äußert[57], als lerne er die handelnden Personen zeitgleich mit dem Leser besser kennen, der aber auf der anderen Seite auch Ansätze von Allwissenheit zeigt[58]. Die Schilderung der Romanhandlung und der Charaktere wird aber nicht einzig dem Erzähler überlassen. Das massiv zitierte „Journal“ Édouards gibt nicht nur punktuell intime Einblicke über diesen selbst, sondern stellt von vornherein eine zweite, gleichberechtigte Erzählebene dar: Gefiltert bzw. eingefärbt und aufbereitetet durch die Subjektivität der Romanfigur Édouard, werden weite Teile der Romanhandlung einzig durch diesen dauernden Akt des „Voyeurismus“ dem Leser zugänglich. An Bernard, von dessen Voyeurismus durch das heimliche Lesen der Tagebücher der Leser gleichsam profitiert, zeigt sich exemplarisch die Wirkung eines derartigen Teilhabens an intimen Beobachtungen, an fremden, geheimen Blickwinkeln, nachdem er eine Passage über seinen besten Freund Olivier gelesen hat:
Olivier ne lui avait rien dit de tout ce que racontait ce journal. D´Armand et de Sarah, à peine soupçonnait-il l´existence. Comme Olivier se montrait différent avec eux, de ce qu´il se montrait avec lui![59]
Bernard macht beim Lesen folgende Erfahrung: “Son regard se brouillait. Il perdait souffle, comme s'il avait oublié de respirer tout le temps qu'il lisait, tant son attention était vive.”[60] Ihm bleibt also buchstäblich der Atem aus, derart faszinieren ihn die Einblicke, die er durch die für ihn nicht gedachte Lektüre erhält.
Die Szene, in der sich Olivier und Édouard nach dessen Aufenthalt in England zum ersten Mal wiedersehen, wird sowohl im Journal, als auch – weitaus detaillierter[61] – durch den Erzähler wiedergegeben – gleich so, als täte sich Édouard schwer, die peinliche Befangenheit, die bei dieser für ihn so wichtigen Begegnung herrschte, in Worte zu fassen. In seinem Journal, von dem er sagt, es sei sein „miroir qu´avec moi je promène“[62], vermerkt er:
Que cette conversation avec Olivier fut pénible! Et je m´en promettais tant de joie… Puisse-t-elle l´avoir laissé aussi peu satisfait que moi-même; aussi peu satisfait de lui que de moi. Je n´ai su pas plus parler moi-même, hélas! Que le faire parler. Ah! Qu´il est difficile, le moindre mot, quand il entraîne l´assentiment complet de tout l´être![63]
Durch diese lediglich summarische Schilderung der Szene in seinem Tagebuch versucht Édouard, die Begebenheit für sich persönlich auszuwerten, und sein Journal, sein Spiegel, dient ihm zum Fixieren der Realität: „Rien de ce qui m´advient ne prend pour moi d´existence réelle, tant que je ne l´y vois pas reflété.“[64] Wie indes Olivier diese Begegnung erlebte, und vor allem inwiefern die Befangenheit zwischen den Figuren die Dramatik und den Lauf des ganzen Romans determiniert, wird ausgiebig von dem gewissermaßen auf höherer Ebene involvierten Erzähler dargestellt und kommentiert. Hierauf wird in einem späteren Kapitel noch weiter eingegangen.[65]
Durch den Spiegeleffekt der Mise en abyme werden des weiteren alle Episoden und Intrigen mit dem Rest des Romans in Bezug gehalten, und auf diese Weise wird das zentrale Problem des Verhältnis‘ des „Ganzen“ und der „Teile“ ausgedrückt.[66] Dies ermöglicht es Gide,
[…] de jouer simultanément la carte de l’éclatement, de l’évolution, de l’enrichissement perpétuel [...] et celle de la cohésion, de la clôture, de l’unité, puisque le jeu des reflets compense le processus de « déconcentration » propre au genre romanesque en créant précisément un point de concentration, chacune des parties voyant se refléter, avec les questions qu’elle soulève, dans l’ensemble.[67]
Dass die Mise en abyme sogar die Grenzen...