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E-Book

Räume der Gewalt

AutorJörg Baberowski
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783104010854
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Warum tun Menschen einander Gewalt an? In seiner eindringlichen und vieldiskutierten Studie »Räume der Gewalt« zeigt der bekannte Historiker Jörg Baberowski, Autor des mit dem Leipziger Buchpreis 2012 augezeichneten Buches »Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt«, warum ein Ende der Gewalt so schwer zu erreichen ist. Eigentlich sehnt jede Erklärung der Gewalt zugleich ihr Ende herbei. Das Leben soll schöner werden und die Gewalt aus ihm verschwinden. Doch die Gewalt war und ist eine für jedermann zugängliche und deshalb attraktive Handlungsoption - und kein »Betriebsunfall« oder »Extremfall«. Wer wirklich wissen will, was geschieht, wenn Menschen einander Gewalt antun, muss eine Antwort auf die Frage finden, warum Menschen Schwellen überschreiten und andere verletzen oder töten. Jörg Baberowski präsentiert nicht nur klare Einsichten über den sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Umgang mit Gewalt. Er zeigt zugleich, warum die Abwesenheit von Gewalt sowohl Sehnsucht als auch Utopie bleiben muss.

Jörg Baberowski, geboren 1961, studierte Geschichte und Philosophie und ist seit 2002 Professor für Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: ?Der Rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus? (2003), ?Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault? (2005) und ?Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt? (2012, im Fischer Taschenbuch 2014). ?Verbrannte Erde? wurde 2012 mit dem Preis des Leipziger Buchmesse ausgezeichnet und stand mehrere Wochen auf der »Spiegel«-Bestsellerliste. Zuletzt erschien von ihm ?Räume der Gewalt? (Fischer Taschenbuch 2018).

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Leseprobe

1 Was ist Gewalt, und wie kann man sie verstehen?


»Der Guerillakrieg schlängelte sich gen Süden durch den anhaltenden Regen Richtung Hauptstadt voran«, erinnerte sich der amerikanische Schriftsteller Denis Johnson, der im September 1990 Zeuge des liberianischen Bürgerkrieges wurde, »und eigentlich erwartete niemand, dass er je dort ankommen würde. Doch dann, Ende Juni, war er plötzlich da. Taylors Leute besetzten den Flughafen. Johnson näherte sich von der anderen Seite, eroberte die Stadt und isolierte den Präsidenten in seinem Amtssitz sowie einen Großteil der Armee in einem ein paar Häuserblocks umfassenden Gebiet in der Innenstadt. (…) Die Menschen begannen die Stadt zu verlassen. Die meisten britischen Diplomaten reisten ab. Alle französischen Diplomaten reisten ab. Ein halbes Dutzend Mitarbeiter des auswärtigen Dienstes der USA blieben, und die Marines errichteten Maschinengewehrstellungen rund um die Botschaft. In Monrovia ging der Strom aus. Es floss kein Wasser mehr. Die Lebensmittel wurden knapp. Der Bürgerkrieg entfaltete eine entsetzliche Brutalität. Als Taylors Männer in Hochzeitskleidern und Duschhauben, die sie auf ihren Raubzügen erbeutet hatten, mit der Armee um den Amtssitz des Präsidenten kämpften, breitete sich eine Atmosphäre aberwitzigen Grauens aus. Die Duschhauben waren gut gegen den Regen. Wozu die Hochzeitskleider gut sein sollten, wusste niemand. Indessen rasten Johnsons Soldaten, mit roten Baskenmützen und Haarteilen vom Perückenmacher auf dem Kopf, in frisierten Mercedes-Benz durch die Straßen und ballerten wild in der Gegend herum. Die Leute, die in der Nähe der britischen Botschaft wohnten, trauten sich schließlich, Johnsons Rebellen zu bitten, dass sie die Leichen ihrer Opfer nicht an ihrem Strand abladen möchten – wegen des Gestanks. Klar, sagten die Rebellen, geht in Ordnung. In Liberia gibt es kilometerlange Strände. (…) Die meisten Flüchtlinge machten sich zu Fuß auf den Weg, zuerst durch Taylors Territorium und dann nach Westen auf Liberias bestem Highway Richtung Sierra Leone, ein Menschenstrom wie nach einem Football-Spiel. Normalerweise ist das ein fünftägiger Marsch über einigermaßen ebenes Gebiet, doch er wurde beträchtlich erschwert, weil Taylors Rebellen – blutjunge Burschen der Volksstämme Gio und Mano, die meisten zwischen elf und fünfzehn Jahre alt und mit AK-47 und M-16-Gewehren bewaffnet – sich vorgenommen hatten, alle Krahn oder Mandingo sowie sämtliche Angehörigen der Armee des Präsidenten und der ehemaligen Regierung in der Menge ausfindig zu machen und zu töten. Nach etwa sechzig Kilometern, in der Stadt Klay, trafen die Flüchtlinge auf die erste Kontrollstelle. ›Riecht ihr das?‹, fragten die Rebellen. Sie meinten den Verwesungsgestank, der die Luft verpestete. ›Hoffentlich wisst ihr, wer ihr seid‹, sagten sie, ›sonst landet ihr da, wo der Gestank herkommt.‹ Wer nicht den richtigen Dialekt sprach, wer zu wohlhabend oder wohlgenährt aussah, wurde erschossen, geköpft oder mit Benzin übergossen und angezündet. Manche wurden im Mano River ertränkt. Die Flüchtlinge, die in Sierra Leone ankamen, erzählten von Kontrollstellen mit Zäunen rundherum, auf deren Pfählen abgetrennte Köpfe aufgespießt gewesen seien. (…) Das Vergewaltigen, Plündern und Morden war hier nicht schrecklicher als in anderen Bürgerkriegen; insofern jedoch die Gräuel dieses Krieges durch die Fäden des Aberglaubens mit gewissen dunklen Mächten verknüpft waren, bekamen sie etwas Unergründliches und Grausigeres.«[3]

Vier Jahrzehnte zuvor, im Februar 1944, notierte der Gefreite Willy Peter Reese, der seinen Heimaturlaub in Duisburg verbrachte, was ihm und seinen Kameraden wenige Wochen zuvor an der Ostfront widerfahren war. »Jäh setzte die große Symphonie des Krieges ein und brauste darüber hinweg. Wir hörten die Abschüsse der russischen Artillerie und das Echo von den Hügeln hinter feindlichen Gräben. Die Granaten schlugen weit im Hinterland ein. Der Widerhall donnerte, überlagerte sich in einem elementaren Dröhnen und hallte weiter wie ein Geisterchor. Dann krachten die ersten Einschläge im Wäldchen. Artilleriegranaten barsten dumpf und hart, grell heulten die Geschosse der Panzer und Panzerabwehrgeschütze heran und krachten schrill in die Explosion. Jäh zersprang die Granatwerfermunition. Dazwischen spannen Maschinengewehre ihr tödliches Netz. Die Salven russischer Nebelwerfer trommelten darein, ununterbrochen schrillte, stöhnte, pfiff, heulte, kreischte es heran, wuchs zum Orkan und ertrank in einem endlosen Donnern. Wir konnten die einzelnen Abschüsse und Einschläge nicht mehr unterscheiden. Das war das Trommelfeuer. Wir saßen im Bunker, fertig angezogen und die Waffen bereit. Nur zwei Lagen Balken und aufgeworfene Erde schützten uns, und wir fühlten uns doch von Lähmung und würgendem Warten erlöst. Die Schlacht hatte begonnen, und das Gefecht konnte nicht furchtbarer als dieser Auftakt sein. Der Bunker wankte und bebte. Ruhig sahen wir in das Wüten hinaus, in Feuer, fliegende Erdbrocken und Rauch. Schwarzer Staub stieg steil empor und fiel zerstreut zusammen. Ein Regen von Splittern und gefrorenem Lehm ging vor der Türe nieder. Graubraune, gelbliche, schwarze und lichtgraue Schwaden von Pulverdampf verwehten. Der Geruch ätzte unsere Lungen und biß in die Augen. So plötzlich wie er begonnen hatte, endete der tosende Spuk und verlagerte sich wieder ins Hinterland. Die Telefonleitungen waren zerfetzt, kein Melder durfte sich hinauswagen, aber wir wußten: jetzt stürmte die erste Welle der Russen gegen die Gräben vor uns heran. Wir eilten an den Granatwerfer, brachten unser Maschinengewehr in Stellung. Und sahen sie kommen: in weißer Tarnkleidung, in Gruppen und Reihen. Abwehrfeuer setzte ein. Wir sahen sie fallen, stocken und fliehen. Eine Stunde verging. Auch die zweite Welle brach im Feuer deutscher Maschinengewehre, Infanteriegeschütze und Granatwerfer zusammen. Dann senkte die Dämmerung sich herein. Weit vor uns lagen die Toten. Verwundete krochen zurück. Unsere Verletzten wurden zum Arzt getragen. Es war unheimlich still, nur ab und zu fiel ein Schuss wie ein Nachhall vom Lärm des Tages. Das Märchenwäldchen aber hatte sich verwandelt. Der Schnee war nicht mehr weiß: Von einer schwarzen Kruste von Pulverschleim überzogen, zerwühlt, mit Staub, Splittern und Erde gemischt, wodurch der helle Grund nur geisterhaft im frühen Abend schimmerte. Das Wäldchen schien wie gerodet. Entwurzelte Bäume lagen gehäuft, Trichter reihte sich an Trichter, und die Granaten hatten das gefrorene Gezweig von den Stämmen gefegt. (…) Schönheit und Leben des Wäldchens waren Opfer des Kriegs geworden, wie die Verwundeten und Toten umher. Wir Überlebenden aber liebten die Gefahr, die das mörderische Warten vertrieb. In der Materialschlacht bewies das Leben sich kräftiger in einer wilden Daseinslust. Der Krieg führte uns in einen traumhaften Bereich, und mancher, der friedlichen Herzens war, spürte eine geheimnisvolle Sehnsucht nach dem Furchtbaren in Dulden und Tat. Der Urmensch in uns wurde wach. Instinkt ersetzte Geist und Gefühl, und eine transzendente Vitalität nahm uns auf.«[4]

Ein Jahr später, am 15. April 1945, einem sonnigen Frühlingstag, erreichten britische Panzersoldaten das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Wenige Tage zuvor hatten sich Offiziere der britischen Armee mit Vertretern der Wehrmacht auf eine kampflose Übergabe des Lagers und seiner Umgebung geeinigt. Das Lager sollte britischem Kommando unterstellt werden, die Bewachung der Häftlinge aber in den Händen der Wehrmacht und der SS verbleiben. Denn es war eine Typhusepidemie im Lager ausgebrochen. Die britischen Offiziere hielten das Konzentrationslager offenkundig für einen Ort des zivilisierten Strafvollzuges. Denn sie hätten einer solchen Abmachung nicht zugestimmt, wenn sie gewusst hätten, was sie erwarten würde. Als die ersten britischen Soldaten das Lager betraten, bot sich ihnen ein Bild des Schreckens. »Keine Beschreibung« und »keine Photographie«, erinnerte sich ein Sanitätsoffizier, könnten davon eine Vorstellung vermitteln. Infernalischer Gestank, Berge von Leichen, die auf dem Gelände und in den Baracken lagen, ausgemergelte Gestalten in Sträflingskleidung, die auf der Erde herumkrochen und nach Essbarem suchten.

Josef Kramer, der Kommandant des Lagers, aber schien überhaupt nicht zu bemerken, wie schockiert die Befreier waren. Er versuchte nicht zu entkommen, als das Ende nahte. Stattdessen empfing er die Soldaten am Eingangstor und führte sie durch das Lager, »schamlos« und ohne die geringste Regung, wie sich ein britischer Offizier erinnerte. Niemand habe verstehen können, warum Kramer angesichts der Schandtaten, die er begangen hatte, nicht geflohen sei. Doch auch die SS-Wachen begriffen nicht, dass die Zeit des Tötens und Schlagens vorüber war. Als Häftlinge die Küche des Lagers bedrängten, prügelten Kapos auf sie ein, mehrere Menschen wurden von SS-Männern erschossen, obwohl sich bereits britische Soldaten im Lager befanden. Es sei unmöglich, die Ordnung im Lager aufrecht zu erhalten, ohne Gewalt gegen Häftlinge anzuwenden, entgegnete Kramer den Offizieren, die ihn fragten, warum weiterhin geschossen und geprügelt werde. Als ihm befohlen wurde, Akten aus seinem Büro zu holen, setzte er sich an seinen Schreibtisch und schlug ein Bein lässig über die Lehne des Stuhls. Er hielt sich immer noch für den Kommandanten des Lagers, sprach über die Verwaltung der Hölle, als sei es das Selbstverständlichste auf der...

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