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E-Book

Drogen

Die Geschichte eines langen Krieges

AutorJohann Hari
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl448 Seiten
ISBN9783104035680
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
»Hari vereint präzise Recherche mit einer zutiefst menschlichen Erzählung. Dieses Buch wird eine dringend notwendige Debatte auslösen.« Glenn Greenwald Der Krieg gegen die Drogen gilt inzwischen als gescheitert, der Handel mit Drogen ist ein blühendes Geschäft, alle Maßnahmen gegen den Konsum sind weitgehend erfolglos. Woran liegt das? Der britische Journalist Johann Hari begibt sich auf eine einzigartige Reise - von Brooklyn über Mexiko bis nach Deutschland - und erzählt die Geschichten derjenigen, deren Leben vom immerwährenden Kampf gegen Drogen geprägt ist: von Dealern, Süchtigen, Kartellmitgliedern, den Verlierern und Profiteuren. Mit seiner grandiosen literarischen Reportage schreibt Hari sowohl eine Geschichte des Krieges gegen Drogen als auch ein mitreißendes und streitbares Plädoyer zum Umdenken. »Hervorragender Journalismus, packend erzählt.« Naomi Klein »Phantastisch!« Noam Chomsky

Johann Hari, geboren 1979, gilt als einer der besten Nachwuchsjournalisten, u.a. hat er für »New York Times«, »LA Times«, »Guardian« und »Le Monde« geschrieben und wurde vielfach ausgezeichnet. Von Amnesty International UK wurde er zweimal zum Journalisten des Jahres ernannt, 2010 bekam er den Martha Gellhorn Prize for Journalism. Nach einer privaten und beruflichen Krise begab er sich 2011 auf eine drei Jahre dauernde Reise um die ganze Welt, um die Ausmaße und Langzeitfolgen vom Krieg gegen Drogen zu ergründen. Hari lebt und schreibt heute in London.

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Leseprobe

Kapitel 2 Sonnenschein und Schwächlinge


In Harry Anslingers Akten fielen mir die Namen einiger Personen auf, die er wiederholt als Ungeheuer beschimpfte, weil sie sein Werk zu sabotieren suchten und in ganz Amerika Drogen verbreiteten. Wer waren diese Menschen? Wer zum Beispiel war Edward Huntington Williams und wer Henry Smith Williams? Ich begann, ihrer Spur durch Akten, alte Prozessberichte und vergilbte Bücher zu folgen, und deckte in der Folge eine Geschichte auf, die meines Wissens seit nahezu 60 Jahren vollständig vergessen ist – dabei könnte sie unser Verständnis dieses Krieges für immer verändern.

Der Krieg gegen die Drogen begann in den Vereinigten Staaten – ebenso aber auch der Widerstand dagegen. Gleich zu Anfang gab es Menschen, die begriffen, dass der Drogenkrieg nicht das war, was man ihnen weismachen wollte – sondern etwas ganz anderes.

Und Harry Anslinger wollte sichergehen, dass wir die einzelnen Teile dieser Geschichte niemals wieder zusammensetzten.

 

Anfang der 1930er Jahre lebte im sonnigen Los Angeles Henry Smith Williams, ein Arzt mit langem, ernstem Gesicht. Er trug eine kleine Drahtbrille, durch die er auf die Welt und auf die Menschen herabblickte. Dieser Arzt teilte Harry Anslingers Hass. Er behauptete, Süchtige seien »Schwächlinge«, die gar nicht erst zur Welt hätten kommen dürfen, und schrieb, »der Gedanke, jedes menschliche Leben sei von einzigartigem Wert … und müsse folglich geschätzt werden, ist eine absurde Banalität. Die Welt wäre weit besser dran, wenn 40 Prozent ihrer Bewohner gar nicht erst geboren worden wären.« Seiner Meinung nach zerstörten Drogen das Leben, deshalb sollte niemand sie nehmen, niemals.

Wenn historische Entwicklungen einsetzen, gibt es manchmal eine Person, die lange vor allen anderen begreift, was diese für die Menschheit bedeuten – und manchmal zeigen sich diese Propheten in der unwahrscheinlichsten Gestalt.

Henry Smith Williams stand kurz davor, ein detailreiches Buch mit einer erstaunliche These zu präsentieren, eine, von der er glaubte, dass sie diesem neuen Krieg gegen die Drogen ein Ende bereiten würde. Obwohl Harry Anslinger in der Öffentlichkeit gegen die Mafia wettere, arbeite er insgeheim für sie, erklärte Henry Smith Williams. Man habe den Krieg gegen die Drogen nur aus einem einzigen Grund begonnen. Die Mafia bezahlte Anslinger für seinen Kreuzzug gegen die Drogen, da sie den Drogenmarkt beherrschen wollte. Das war der Schwindel des Jahrhunderts. Und er sollte nun endlich aufgedeckt werden.

Der lange Weg, der Henry Smith Williams zu dieser Überzeugung geführt hatte, begann eines Tages im Jahr 1931, als ein Mann zitternd die von Henrys Bruder Edward Huntington Williams geführte Klinik betrat. Da er offenkundig an den Symptomen eines Heroinentzugs litt, war er dort am richtigen Ort: Edward Williams galt weltweit als einer der herausragendsten Experten in Suchtfragen. »Der Mann ist ein Wrack und wird jeden Moment zusammenbrechen«, schrieb Henry Smith Williams. »Er ist leichenblass. Schweiß bricht ihm aus allen Poren. Er zittert am ganzen Leib. Sein Leben ist offensichtlich in Gefahr.«

Beide Brüder hatten es in ihren Praxen seit vielen Jahren mit Süchtigen zu tun. Auf seine sozialdarwinistische Art hielt Henry Smith Williams sie für Schwächlinge, die nur überlebten, weil die Gesellschaft dumm genug war, sie zu verhätscheln. Ohne Hilfe würden sie sterben, um Platz für stärkere Menschen mit besseren Genen zu machen. Sein Bruder Edward ertrug es jedoch nicht, sie leiden zu sehen – nicht, wenn er ihre Schmerzen lindern konnte. Deshalb hatte er auch geholfen, diese Klinik einzurichten – und deshalb sollte er in den Ruin getrieben werden.

»Kann denn der Arzt nichts machen? O ja, der Arzt weiß genau, was zu tun ist«, erklärte er. »Er weiß, dass er bloß einige Worte auf den neben ihm liegenden Rezeptblock zu schreiben braucht, und der Patient taumelt zur nächsten Apotheke, wo er das Heilmittel erhält, das ihn wundersamerweise wieder in eine Art Normalzustand versetzt und ihm körperliches wie geistiges Wohlbefinden zurückgibt.« Der Arzt kann ein Rezept für die Droge ausstellen, nach der sein Patient süchtig ist. Sie wird seinem Körper nicht schaden: Alle Ärzte sind sich darin einig, dass reine Opiate weder dem Körper als Ganzem noch einzelnen Organen Schaden zufügen. Sobald der Patient die Droge genommen hat, beruhigt er sich. Er funktioniert wieder. Er kann arbeiten, seine Familie lieben und sie auch wieder versorgen.

Also stellte Edward Williams das Rezept aus. Er hatte es schon viele Male getan und wusste das Gesetz dabei auf seiner Seite. Der Oberste Gerichtshof hatte ihn 1925 in diesem Wissen zudem bestätigt, da er urteilte, dass das Harrison-Gesetz der Regierung keineswegs erlaubte, Ärzte zu bestrafen, die meinten, im besten Interesse ihrer Patienten zu handeln, wenn sie ihnen Heroin verschrieben.

An diesem Tag im Jahre 1931 aber war der Patient nicht, was er zu sein vorgab. In Wahrheit arbeitete er für Harry Anslinger und gehörte zu dem Schwarm Lockvögel, die das Bureau landesweit ausgeschickt hatte, um Ärzte zu täuschen. Es handelte sich meist um verzweifelte Süchtige, denen das Bureau ein paar Dollar zusteckte, damit sie Ärzte dazu brachten, sie zu behandeln. Sobald das Rezept ausgestellt worden war, stürmte die Polizei die Praxis, und Edward Williams wurde verhaftet, ebenso wie landesweit 20000 weitere Ärzte. Es war eine der größten Angriffe auf die Ärzteschaft in der Geschichte der Vereinigten Staaten.

Die meisten Menschen, die sich das Bureau bislang vorgeknöpft hatte – Süchtige und Afroamerikaner –, waren kaum in der Lage gewesen, gegen die Behörde anzukämpfen. Henry Smith Williams aber zählte auf dem Gebiet der Medizin zu den anerkanntesten Autoritäten in den Vereinigten Staaten. Man sagte ihm nach, über die Chemie und Biologie von Blutkörperchen mehr als jeder andere Mensch in Amerika zu wissen. Er hatte eine 31-bändige Geschichte der Wissenschaft geschrieben und zahlreiche Einträge für die Encyclopedia Britannica verfasst, all dies in der geringen Freizeit, die ihm die Behandlung von mehr als 10000 Patienten ließ. Nachdem sein Bruder verhaftet worden war, begann Henry Smith Williams Nachforschungen anzustellen – und er fand etwas heraus, womit er nicht gerechnet hatte.

 

Während Henry Smith Williams zusehen musste, wie die Karriere seines Bruders durch die Polizei ein Ende fand, fiel ihm etwas auf, dem er nun zum ersten Mal Bedeutung beimaß.

Ehe es strafbar geworden war, Betäubungsmittel zu verkaufen, hatte Henry Smith Williams viele Patienten gehabt, die regelmäßig Drogen nahmen – aber damals waren die Verhältnisse noch ganz andere gewesen. Man kaufte Opiate, auch Morphium und Heroin, für wenig Geld beim nächsten Apotheker. Die Drogen wurden in Fläschchen als ›Heiltrank‹ oder ›Kleine Helferlein‹ für jedes Wehwehchen von Grippe bis Katzenjammer angeboten. Eines der beliebtesten Mittel hieß ›Mrs Winslow’s Soothing Syrup‹. Jede Unze des Sirups enthielt 65 Milligramm reines Morphium. Henry Smith Williams erinnerte sich, dass die meisten Menschen ihn ohne Probleme vertrugen. Und fast alle Kunden, selbst Süchtige, nahmen ihn nur in niedrigen Dosen ein.

»Niemand hielt diese Medizin für moralisch bedenklich«, erklärte Henry Smith Williams. Ein berühmter Anti-Alkohol-Aktivist war morphiumsüchtig, und niemand fand das seltsam oder verlogen. Es gab viele Frauen, erklärte er, die Tag für Tag Opiate in Form von ›Mrs Winslow’s Soothing Syrup‹ zu sich nahmen, aber »auf Knien für die verlorene Seele ihrer Tochter beteten, wenn sie Tabakflecken an deren Fingern entdeckten«.

So wie viele Menschen Alkohol trinken, ohne Alkoholiker zu werden, griffen viele Menschen zu diesen Fläschchen, ohne drogensüchtig zu werden. Für sie waren Opiate »Hilfsmittel für ein instabiles Nervensystem«, so wie manch einer von uns am Ende eines stressigen Tages ein Glas Wein trinkt. Eine geringe Zahl wurde süchtig – doch selbst die Mehrzahl der Süchtigen ging weiterhin ihrer Arbeit nach und führte ein relativ normales Leben. Ehe der Drogenkrieg in vollem Umfang begann, gingen laut einer offiziellen Regierungsstudie drei Viertel aller Süchtigen (nicht Drogenkonsumenten, sondern Süchtige) dauerhaften, respektablen Jobs nach. 22 Prozent waren wohlhabend, nur 6 Prozent arm. Infolge ihrer Sucht wirkten sie leicht sediert, und natürlich wäre es besser für sie gewesen, mit den Drogen aufzuhören, doch wurden sie selten kriminell oder verloren auch nur die Beherrschung. 1914 aber erließ man das Harrison-Gesetz, und 16 Jahre später begann Anslinger, die Dinge ins Rollen zu bringen.

Die Ärzte bekamen die Folgen des Politikwandels zu spüren. »Da gab es Abertausende Menschen jeder Gesellschaftsschicht, die süchtig nach Drogen waren, welche sich auf legalem Weg nicht länger besorgen ließen«, schrieb Henry Smith Williams. »Sie brauchten diese Drogen, wie ein Verdurstender Wasser braucht. Sie mussten sie unter allen Umständen haben, was sie auch kosteten. Kann man sich solch eine Situation vorstellen? Und sich dann ausmalen, dass die Drogen legal nicht mehr zu bekommen waren? (Die Gesetzgeber) müssen gewusst haben, dass ihr Gesetz – sollte es in Kraft treten – gleichbedeutend mit der Aufforderung...

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