Geleitwort
Menschen sind unterschiedlich, Menschen haben aber auch sehr viel Gemeinsames. Diese banale Erkenntnis stellt uns tagtäglich vor neue Herausforderungen und vor Probleme: Probleme sind Chancen – in Arbeitskleidung! Eine pragmatische Definition von Problem lautet auch: Abweichung zwischen einem vorgefundenen »Ist« und einem angestrebten »Soll«. Gäbe es diese Abweichung nicht, gäbe es auch die Chance einer Veränderung nicht. Menschen können sich verändern, aber nicht beliebig, sondern – wenn sie authentisch sein wollen – in einem je nach Persönlichkeit mehr oder weniger breit gesteckten Rahmen. Die lang währende Diskussion zwischen den »Vererbungsfetischisten« (alles ist genetisch bedingt) und den »Behavioristen« (die menschliches Verhalten durch Beobachtung der von außen kommenden Reize sowie deren Einflüsse erklären) gilt zwar seit Jahren mit der salomonischen »50 zu 50«-Regel als abgeschlossen; praktisch kann sich im Einzelfall aber durchaus auch eine »20 zu 80«-Regel als zutreffend herausstellen.
Die Unterschiedlichkeit von Menschen und das Akzeptieren dieser Verschiedenheit als eine essenzielle Problematik ist seit geraumer Zeit eine internationale Herausforderung. Erfreulicherweise hat sich 2006 in einer Vielzahl von Nationen eine Unternehmensinitiative mit der Zielsetzung gegenseitiger Akzeptanz entwickelt: Unter der generellen Thematik »Diversity« wurde die »Charta der Vielfalt« deklariert. Diversity war bereits vor Jahrzehnten in den USA – dem ethnischen Schmelztiegel der Welt – ein zentrales Thema, wurde aber meiner Erinnerung nach schon damals nur sehr eingeschränkt, und zwar vor allem im Hinblick auf ethnische Aspekte, betrachtet.
Bezogen auf das Thema dieses Buches – die Persönlichkeitsanalyse – greift auch die »Charta der Vielfalt« noch erheblich zu kurz. Es geht in der Deklaration u.a. darum, zukünftig eine diskriminierende Behandlung von Menschen zu vermeiden. Aufgelistet werden acht »Dimensionen der Verschiedenartigkeit«: Nation, Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, physische Fähigkeiten (Behinderungen), ethnische Zugehörigkeit sowie Religion/ Weltanschauung und Identität. Die Prioritäten werden allerdings durchaus unterschiedlich gesehen: Von 19 im Jahr 2012 befragten DAX-Unternehmen gaben jeweils knapp 20 Prozent »Geschlecht«, »Ethnie« und »Alter«, 15 Prozent »Behinderung« und 10 Prozent der »sexuellen Orientierung« eine Priorität. Das Schlusslicht bildete Religion (8 Prozent).
In der »Charta der Vielfalt« fehlt jedoch das für das Zusammenleben von Menschen entscheidende Kriterium: die Akzeptanz der dem Verhalten zugrunde liegenden unterschiedlichen Charaktere bzw. Eigenschaftsbündel. Genau dieser Aspekt steht bei den Persönlichkeitsanalysen im Vordergrund. Aus diesem Grund stellt die Beschäftigung mit diesem Thema eine wertvolle Bereicherung der Diversity-Diskussion dar und ist darüber hinaus eine entscheidende Hilfe in allen Fragen der Kommunikation sowie in der Personal- und Organisationsentwicklung, für Partnerschaften und für die individuelle Entwicklung und Selbstverwirklichung.
Hierzu kann eine kleine, aber wichtige definitorische Klärung einen grundlegenden Beitrag leisten: In der Regel sprechen wir von »Stärken« und »Schwächen«, meinen aber mit Letzteren vorwiegend eigentlich »Nicht-Stärken«, die subjektiv oft als Schwächen empfunden, aber von der Umwelt nicht als störend wahrgenommen werden. »Schwächen« dagegen – interpretiert als Übertreibungen unserer Stärken – können Beziehungen ggf. erheblich beeinträchtigen. So kann etwa aus einem gesunden Selbstbewusstsein Arroganz entstehen, aus Vielseitigkeit Verzettelung, aus Hilfsbereitschaft ein Helfersyndrom oder aus Ordnungsliebe Pedanterie, um nur je ein Beispiel aus vier grundlegenden Eigenschaftsbündeln zu nennen. Bekannt ist dieses Phänomen auch in der Heilkunde: Es ist eine Frage der Dosis, ob eine Substanz tödlich wirkt oder heilt.
Diese essenzielle Erkenntnis können durchaus alle bewährten Instrumente zur Analyse der Persönlichkeitsstruktur bieten, letztlich auch – wenngleich nicht expressis verbis – die Unterscheidung zwischen Schwächen und Nicht-Stärken: Letztere sind – ebenso wie die Stärken – weitgehend genetisch fundiert, Erstere dagegen »hausgemacht«, also änderungsfähig. Diese Erkenntnis bringt das »Gelassenheitsgebet« – eine uralte Weisheit – sehr eindrucksvoll zum Ausdruck:
Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
»Wir haben die Temperamente«, sagt etwa Goethe: »Wir haben alle vier in uns, aber in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen.« Diese Unterschiedlichkeit bedingt rund sieben Milliarden einzigartige Menschen, die sich alle in ihren Stärken und naturgemäß auch in ihren Nicht-Stärken unterscheiden.
Diese Erläuterungen zur großartigen Gemeinsamkeit aller Menschen waren in der Einführung zur ersten Auflage des Buches »Persönlichkeits-Modelle« enthalten, das ich 2002 gemeinsam mit Lothar J. Seiwert und Martina Schimmel-Schloo im GABAL Verlag herausgegeben habe. Bereits vor über zehn Jahren hat mich die Vielfalt von Persönlichkeitsprofilen – vor allem ihre Bedeutung für den Einzelnen, für die Unternehmen und nicht zuletzt für unsere Wirtschaft und Gesellschaft – fasziniert und zugleich motiviert, eine Übersicht über die seinerzeit marktrelevanten Modelle vorzulegen.
In Helmut und André Jünger, die inzwischen den von mir gegründeten GABAL Verlag übernommen hatten, fand ich für diese Idee aufgeschlossene Verleger und in einem der Starautoren des GABAL Verlags einen kompetenten und am Projekt sehr interessierten Mitherausgeber. Um die Authentizität der unterschiedlichen Konzepte zu gewährleisten, haben wir bereits damals das Prinzip der Selbstdarstellung durch die Protagonisten der einzelnen Instrumente genutzt.
Es sind nunmehr zwar neue und unsere Erkenntnis bereichernde Instrumente hinzugekommen, aber die generelle Aussage gilt nach wie vor: Alle Menschen haben gemeinsame Eigenschaftsbündel, unabhängig davon, ob diese als Dreiermodell präsentiert werden (von Ayurveda bis Struktogramm/ Biostruktur-Modell), als statistisch fundiertes Fünfermodell oder als das jahrtausendealte Viererkonzept der Elemente oder Körpersäfte (Hippokrates) bis zu den Temperamenten von Galenus, worauf sich – mit wenigen Ausnahmen – die heute angebotenen Instrumente weitgehend zurückführen lassen.
Der nun vorliegende deutlich erweiterte und überarbeitete dritte Marktüberblick über die führenden Persönlichkeitsanalysen erfasst etwa die doppelte Anzahl von Instrumenten (statt 11 inzwischen 21). Die Erfahrung zeigt, dass die Ergebnisse unterschiedlicher Instrumente entsprechend unterschiedlich sind: Es gibt nicht »die« beste Analyse, da es jeweils auf Zielsetzung, Methode und Kontext ankommt. Hinzu kommt, dass sich die einzelnen Analysen weder zwangsläufig gegenseitig ausschließen noch bestätigen müssen; sie können durchaus miteinander kombiniert werden, insbesondere, wenn sie Unterschiedliches messen. Es kann nicht ein einziges Instrument geben, das die Persönlichkeit eines Menschen ganzheitlich erfassen kann, es bedarf unterschiedlicher Tools für unterschiedliche Facetten der menschlichen Persönlichkeit. Die Tatsache, dass dieses Buch nun eine große Anzahl unterschiedlicher Instrumente vorstellt, ist ein großer Gewinn für Leser und Anwender.
Mit diesem von Markus Brand, Frauke Ion und Sonja Wittig herausgegebenen Werk wird eine wichtige Hilfe geboten – im Hinblick auf Transparenz und zur Befriedigung menschlicher, darüber hinaus aber auch systemischer Bedürfnisse nach Selbsterkenntnis. Der besondere Nutzen von Persönlichkeitsanalysen ist heute nicht zuletzt darin zu sehen, dass Menschen besseren Zugang zu sich selbst und zu anderen und gerade auch zu deren Unterschiedlichkeit finden – was wiederum auf den Aspekt der Diversity Bezug nimmt. Und hier besteht nicht gerade selten eine Blockade im Kopf, die ich gern wie folgt kennzeichne:
Ich weiß, wie ich denke und fühle – und ich bin normal!
Wenn du anders denkst und fühlst, kannst du doch (logischerweise) nicht normal sein!
Mit diesem Standardwerk dürfte es nicht zuletzt gelingen, Dogmatismus und Konkurrenzdenken aufzubrechen – beides Dinge, die im Markt der Persönlichkeitsanalysen nach wie vor anzutreffen sind. Darüber hinaus kann ein Beitrag dazu geleistet werden, künftig noch stärker über die Schwelle einer einzelnen Persönlichkeitsanalyse hinaus zu denken und stärker auf einen synergetischen und vernetzten Zugang zu setzen. Mithilfe einer möglichst passgenauen, diagnostikgestützten Personal- und Persönlichkeitsentwicklung kann Einzelpersonen, Teams und Organisationen zu mehr Erfolg und Zufriedenheit verholfen werden, etwa im Sinne der Definition im STUFEN-Konzept:
Erfolg ist die Zufriedenheit aufgrund von Art und Grad der Zielerreichung.
Zufriedenheit ist auch die Grundlage für körperliche und seelische Gesundheit. Insoweit erscheint es mir bemerkenswert, dass Martin Seligman, Urheber der Positiven Psychologie, seinen Zielbegriff »Glück« in »Zufriedenheit« geändert hat. Dieses Ziel dürfte auch für die vorliegende Publikation gelten. Das Werk kann darüber hinaus eine Grundlage sein für weitere Diskussionen über »Sinn und Unsinn der Nutzung von Persönlichkeitsanalysen in der Weiterbildung« – wozu bei einer von den Herausgebern initiierten Podiumsdiskussion auf der GSA Convention 2014 bereits ein Anfang gemacht wurde.
Prof. Dr. Hardy...