EINLEITUNG
Die Lage
Wir leben in wirtschaftsethisch abschüssigen Zeiten. Der Bürger steht fassungslos vor riesigen Staatsschulden, EU-Ländern, die diese Schulden nicht begleichen wollen, »Too big to fail«-Zynismen, mit denen sich Politik und Finanzindustrie wechselseitig schützen, und den Gehaltsexzessen einer kleinen Managerclique, die sich aus der Wertegemeinschaft der Zivilisierten längst verabschiedet hat. Permanent werden geheime Kartelle und Preisabsprachen von Unternehmen aufgedeckt, die sich ihrerseits als Opfer preisknebelnder Einkäufer schildern. Wir lesen von Manipulationen der Wechselkurse, Verrechnung falscher Preise, Strafverfahren für Topmanager, bonusgetriebener Beratung und von Städten, in denen Familien keine Wohnung mehr finden, während Spekulanten ganze Häuserblocks verrotten lassen. Das alles überzuckert von »There is no alternative«-Advokaten, die die Selbstabschaffung der Vernunft empfehlen. Ein bizarres Kaleidoskop zerstörter Ideale.
Man mag daran erinnern, dass die weitaus meisten Unternehmer und Manager verantwortungsvoll und gesetzlich korrekt arbeiten. Jedoch sind die Anstößigkeiten in den Medien derart omnipräsent, dass der Bürger den Eindruck hat, die ganze Wirtschaft sei korrupt. Wirtschaftlicher Erfolg, so des Bürgers Schlussfolgerung, verdankt sich nicht mehr bürgerlichen Tugenden wie Fleiß, Ausdauer, Talent und unternehmerischer Risikobereitschaft, sondern der Zugehörigkeit zu einer neofeudalen Kaste und ihrer Nähe zum Kapitalstock der Gesellschaft.
Das alles wirft Fragen auf, welche Formen des Wirtschaftens gesellschaftlich akzeptabel sind.
Diese Fragen stellen sich auch innerhalb der Unternehmen. Dort mehren sich ebenfalls die Zeichen der Überforderung. Ein Auszug aus der Anklageschrift: »Change« als Veränderung des Status quo gehört längst zum Status quo; der Wunsch nach Work-Life-Balance, die Klage über Arbeitsverdichtung, Kontroll-Exzesse, Burnout, die anhaltende Konjunktur der Chefbeschimpfungs-Bücher, ganze Regale mit Empörungsliteratur, Milliardenkosten durch Innere Kündigung und Dienst nach Vorschrift, irritierend hohe Umfragezahlen über Angestellte, die in der Illusion, woanders sei es besser, nach einem neuen Arbeitgeber suchen. Kein Zweifel, auch Unternehmen und Mitarbeiter haben sich entfremdet.
Reaktion der Politik und der Unternehmen
Die Politik reagiert auf diese Gemengelage mit Moralisierung der Wirtschaft: Mindestlohn und Mietpreisbremse, die Löhne und Mieten nicht mehr dem Spiel von Angebot und Nachfrage unterwerfen, sondern dem Gesetzgeber; Frauenquoten, die Leistung und Erfahrung durch Geschlecht ersetzen; Überlegungen, die maximale Einkommensspreizung innerhalb eines Unternehmens gesetzlich festzulegen; gedeckelte Managerboni, Unternehmen als Agenten der Steuerbehörden, eine Compliance-Bürokratie, die mittlerweile monströse Formen angenommen hat; Corporate Social Responsibility, Corporate Governance, Value Based Leadership – Anglismen, die für eine glänzende Oberfläche sorgen und Legimitätsfassaden bauen.
Geradezu täglich dichter wird das Netz staatlicher Regulierungen, Auflagen und Transparenzforderungen, allerorten explodieren Verbots- und Bevormundungsinstanzen, das Strafrecht verdrängt das Zivilrecht in einer gesellschaftlichen Gestimmtheit, in der man es »denen da oben« mal zeigen will. Hinzu kommt eine Gründungswelle für Wirtschaftsethik-Lehrstühle, die mit verbeamteten Professoren den gesinnungsbetrieblichen Überbau staatlich finanzieren. Immer stärker wird die Tendenz, die Wirtschaft vom moralischen Hochsitz aus zu gestalten, überall droht der erhobene Zeigefinger, soll über der unsichtbaren Hand des Marktes die sichtbare Faust des Staates schweben.
Unternehmer und Manager beklagen zwar das wirtschaftsfeindliche Klima, wollen aber auch zu den Guten gehören: Die Wertegesänge der »Codes of Conduct« schwellen ebenso an wie die Geschäftsberichte, deren Umfang sich in den letzten Jahren verdreifacht hat und in denen es nur so wimmelt von »Gemeinwohl« und »Verantwortung«. Das alles in geschlechtsblinden Formulierungen.
Reaktion der Menschen
Man muss diesen Besänftigungsaktivismus nicht allzu ernst nehmen: Das Marketingelement ist hoch zu veranschlagen, die Grenze zur Fiktion unscharf. Aber auch bei den Bürgern verbreitet sich in dem Maße, in dem Ökonomie und Gesellschaft in der Wahrnehmung vieler auseinanderklaffen, die Sehnsucht nach der Wiederherstellung der Einheit. Zumindest nach einem Ausgleich der Beziehung. Entsprechend beobachten sie die Unternehmen kritisch unter den Stichworten »soziale Verantwortung« und »Nachhaltigkeit« und beeinflussen die Märkte durch ihr Konsumverhalten. Keineswegs kommt es also, wie oft befürchtet, zu einer Verdrängung der Moral durch den Markt. Im Gegenteil: Überall mit Händen zu greifen ist die Sehnsucht nach »Balancen«, nach Rechtschaffenheit, Dauer, Ordnung und ruhiger Arbeit, nach Führungspersönlichkeiten mit »Maß und Mitte« (Wilhelm Röpke), nach einer Wirtschaft für das »ganze Haus« – und nicht nur für einige Privilegierte.
Falls nun auf den Begriff gebracht werden soll, was diese Sehnsucht bündelt, so wüsste ich nur ein Wort: Anstand. Ein älterer Jargon, ich weiß. Aber vielleicht eben deshalb passend. Die Menschen wollen Anstand – vor allem auch in der Unternehmensführung.
Anstand am Arbeitsplatz
Wer den Buchtitel Das anständige Unternehmen liest, denkt wahrscheinlich genau an diese Zusammenhänge – an Skandale, die ihren eigenen Erregungsroutinen folgen, an ökologische Fragen und Großprobleme im politisch-wirtschaftlichen Spannungsfeld. Zweifellos: Es gibt auf dieser Makro-Ebene Gestaltungsbedarf. Aber für kriminelle Handlungen, für Korruption, Kartellabsprachen oder Insiderhandel ist die Justiz zuständig, für die Entspannung des Publikums gibt es Ethik-Kommissionen, für die sich blähende Öko- und Werteorientierung die Öffentlichkeitsarbeiter in den Unternehmen.
Ich aber will zeigen: Das anständige Unternehmen geht anders. Aus zwei Gründen.
Erstens: Wirtschaftlicher Anstand realisiert sich gerade nicht in der Unterscheidung legal/illegal; dafür ist, wie gesagt, der Staatsanwalt zuständig. Und so notwendig gesetzliche Regelungen sein mögen, sie zerstören auch Verantwortung. Sie ersetzen Freiheit durch Zwang und Staatshörigkeit. Hingegen realisiert sich wirtschaftlicher Anstand auf der breiten (aber immer enger werdenden) Straße des Legalen. Da, wo wir nicht gezwungen werden, sondern verantwortlich sind; wo wir wählen können. Bei Seneca lesen wir: »Was das Gesetz nicht verbietet, verbietet der Anstand.« Anstand definiert mithin einen Handlungsraum innerhalb des gesetzlichen Rahmens.
Zweitens: Die Skandale sind abstrakte Medienereignisse. Konkret wird Wirtschaft vor allem am eigenen Arbeitsplatz. Da, wo Menschen Wirtschaft am unmittelbarsten erleben und wo sie einen Großteil ihres Lebens verbringen: sechs, acht, zehn, manchmal zwölf und mehr Stunden täglich, vielfach auch am Wochenende – für manche Menschen ist Arbeit ihr Leben. Da kann es nicht egal sein, unter welchen Umständen sie arbeiten.
Arbeit hat ja nicht nur die instrumentelle Funktion des Geldverdienens oder des Zeitvertreibs, sondern auch eine selbstprägende Funktion: Man prägt sein Selbst durch Arbeit. Am Arbeitsplatz macht der Einzelne Erfahrungen, die dann wieder über die Familie und Freunde, über das Wahlverhalten und über soziale Beteiligungsformen in die Gesellschaft hinein strahlen. Was Menschen hier unmittelbar erleben, prägt sie direkt für ihr Leben als Bürger in der Zivilgesellschaft. Insofern beeinflusst der Arbeitsplatz sowohl quantitativ wie qualitativ und mit zum Teil hoher psycho-sozialer Dichte, ob Menschen ihr Leben würdevoll führen können. Wie werden sie am Arbeitsplatz behandelt? Welche Freiheitsgrade haben sie dort? Wie mündig können und wollen sie da sein? Wie viel Respekt wird ihnen entgegengebracht? Wieweit wird ihnen vertraut und was wird ihnen zugetraut? Deshalb kann man durchaus argumentieren, dass eine ethische Reflexion der Erfahrungen am Arbeitsplatz eine überragende Rolle spielt für eine freie Gesellschaft.
Das wird noch verstärkt durch die Tatsache, dass Arbeit ja nicht einfach ein Wert unter anderen ist (wie Bildung, Religion oder Kunst), sondern einen Sonderstatus hat: Die meisten Menschen müssen arbeiten. Man mag das aus unterschiedlichen Gründen bestreiten. Aber die Mehrheit der Menschen zerbricht sich morgens nicht den Kopf, ob sie nun arbeiten geht oder zum Golfplatz.
Wenn also die ethische Diskussion zumeist um »Externalisierungen« kreist, um die Kosten privaten Verhaltens zu Lasten der Allgemeinheit, dann wird in der Regel der wichtigste Faktor übersehen: Menschen. Menschen, die in Unternehmen geformt und (manchmal) verformt werden. Zum Gemeinwohlbeitrag eines Unternehmens gehören eben nicht nur die ökonomische Wertschöpfung, Sponsoring, Ausbildungsplätze oder plakative Gesetzestreue, sondern eben auch die Formung menschlichen Zusammenlebens, das Erleben von Selbstwirksamkeit und die Lebensfreude, mit der Menschen arbeiten und abends das Unternehmen verlassen. Die Erfahrung von Freiheit und Verantwortung in den Unternehmen prägt die Gesellschaft jedenfalls mehr als das Beobachten von Wirtschaftsskandalen. Wenn also ein Unternehmen über gute Produkte und Dienstleistungen hinaus »soziale Verantwortung« übernehmen will, dann sollte es seine Wirkung auf die Menschen am Arbeitsplatz kennen. Genau aus dieser Perspektive bezieht...