6. Februar 1990
Nach einem schönen Wochenende zu Hause am Chiemsee, bei herrlichem und viel zu warmem Wetter, bin ich seit gestern wieder in Bonn. Auf der Tagesordnung stand eine Sitzung des Fraktionsvorstands.
Gestern habe ich Friedrich Kronenberg zu seinem Sechzigsten geschrieben. Wir seien 60 geworden zu einer Zeit, in der man sich wünsche, 30 zu sein. Aber wahrscheinlich könnten nur diejenigen die Aufgaben lösen, vor die uns die revolutionären Veränderungen in Osteuropa und in der DDR stellen, die wie wir bereits über Erfahrungen mit dem Wiederaufbau verfügten. Die Vierzigjährigen in unserem Land gehören nicht zu den initiativreichsten und risikofreudigsten Menschen. Sie sind in behüteten Verhältnissen und bei wachsendem Wohlstand aufgewachsen und haben bisher noch nicht lernen müssen, sich zu begrenzen und sich unbekannten Herausforderungen zu stellen. Vielleicht ist dies wirklich die Zeit der Großväter und Enkel.
An der Fraktionsvorstandssitzung habe ich wohl zum letzten Mal teilgenommen. Ich will Dregger bitten, mich aus dem Amt eines Beisitzers zu entpflichten. Ich habe einfach nicht mehr die Zeit, bei all den Sitzungen dabei zu sein, die mit dem parlamentarischen und parteipolitischen Betrieb verbunden sind. Außerdem lohnt es sich nicht. Dregger gab gestern wieder einen seiner schlichten und weitgehend inkohärenten Berichte mit denselben alten Formeln, die man schon seit Jahren von ihm hört. Schon begrifflich ist er kaum in der Lage, die revolutionäre Veränderung zu erfassen, deren Zeugen wir sind. Zu Fragen der Währungsunion zwischen den beiden deutschen Staaten, die inzwischen alle Welt beschäftigen, wollte Dregger keine ausführliche Diskussion zulassen. Der Bundeskanzler habe ihn darum gebeten. Kohl habe die Absicht, sich vor der Fraktion zu dieser Frage zu äußern.
Das hat uns allerdings nicht abgehalten, gleichwohl über dieses Thema zu reden. Es brennt allen auf den Nägeln. Ich nahm als Erster das Wort und trug die wesentlichen Gedanken meiner Stellungnahme zum Sondergutachten der Sachverständigen vom 20. Januar vor. Zu meiner Überraschung stieß ich auf allgemeine Zustimmung. Selbst Dorothee Wilms, die nicht zu meinen Freunden zählt, unterstützte meine Auffassung, dass die Währungsunion nicht am Ende, sondern nur am Anfang der Erneuerung und Reform in der DDR stehen könne.
Offiziell vertritt die Bundesregierung noch immer die sogenannte Krönungstheorie. Sie wurde vom Sachverständigenrat entwickelt und besagt, dass die gemeinsame Währung gewissermaßen als krönender Abschluss erst eingeführt werden könne, nachdem die DDR die marktwirtschaftliche Ordnung verwirklicht und die Konvertibilität ihrer Währung mit der D-Mark gesichert habe. Außerdem wehrt sich Kohl offenbar gegen die Vorstellung eines Lastenausgleichs, der die Bundesrepublik verpflichten könnte, die Kosten für einen Teil der Erneuerungen in der DDR zu übernehmen. Wahrscheinlich hält er eine solche Politik nicht für mehrheitsfähig, was wohl auch nicht falsch ist. Die Bereitschaft der Bürger im Westen Deutschlands anzuerkennen, dass es sich bei den wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen in der DDR um eine der letzten großen Folgen des Zweiten Weltkrieges handelt, ist nicht besonders ausgeprägt.
Kohl ist gestern Abend gelungen, woran er am vergangenen Donnerstag gescheitert war: die Zusammenführung der drei politischen Gruppierungen CDU, Demokratischer Aufbruch und DSU. Diestel hatte von dem ersten Gespräch Folgendes berichtet: In den drei Stunden, die sie bei Kohl gewesen seien, hätten sie zwanzig Minuten Gelegenheit gehabt, ihre Überlegungen vorzutragen. Zwei Stunden vierzig Minuten habe Kohl selbst gesprochen, um ihnen ausführlich zu belegen, welch bedeutender Mann er sei. Er, Diestel, sei von Herrn Kohl nicht beeindruckt gewesen. Die Sitzung habe ihn vielmehr enttäuscht und deprimiert. Dennoch müssten sie weiterreden, denn sie seien arm und auf die Hilfe der Bundes-CDU angewiesen. Ohne Unterstützung könnten sie sich nicht ausreichend bekannt machen und hätten deshalb keine Aussicht, in der vorgezogenen Wahl erfolgreich abzuschneiden.
Gestern Abend nun haben sich die drei Gruppierungen also entschlossen, doch eine Allianz zu bilden. Im Fernsehen konnte man ihre Vorsitzenden zusammen mit Kohl und Seiters das Ergebnis verkünden sehen. Von einem Zettel las Ebeling mit eher bürokratischer Stimme die Vereinbarung ab, die unter dem Vorsitz von Kohl in Westberlin im Gästehaus der Bundesregierung zustande gekommen war. Man habe eine Allianz vereinbart, die die Selbstständigkeit der einzelnen Parteien unberührt lasse. Listenverbindungen seien vorgesehen. Während Ebeling den Beschluss vorlas, stand Kohl mit eher finsterem Gesicht neben ihm. Selten ist mir so deutlich geworden, wie groß die Gefahr ist, dass die Menschen in der DDR von einer Vormundschaft in die andere wechseln. All das mag parteipolitisch vernünftig und durch die Erfahrungen in der Bundesrepublik gerechtfertigt sein. Man kann überzeugend begründen, dass es den Reformern in der DDR an der notwendigen Erfahrung fehlt und dass das Geld nur zu geben bereit sein wird, wer auch die Musik bestimmt. Aber von der Selbstbestimmung, die wir den Menschen in der DDR zugesagt haben, ist kaum etwas übrig geblieben.
Ein Gutes hat das Ganze allerdings: Nun hat auch Kohl endgültig deutlich gemacht, dass er die Verantwortung für die weitere politische Entwicklung in der DDR zu tragen entschlossen ist. Zwar bezieht sich diese Entschlossenheit zunächst nur auf die Gestaltung der parteipolitischen Landschaft in der DDR, soweit wir darauf Einfluss nehmen können. Tatsächlich bedeutet die praktische Übernahme der Führungsrolle im bürgerlichen Lager der DDR jedoch auch die Übernahme der politischen Verantwortung für das, was hinfort in der DDR als Folge des politischen Handelns dieser Gruppierung geschieht. Fasst man das Engagement Kohls und das der Sozialdemokraten zusammen, so kann man sagen, dass die beiden großen Volksparteien inzwischen die politische Führung in der DDR übernommen haben. Sie handeln de facto durch »Tochtergesellschaften« in der DDR. So tritt auch im Wahlkampf in der DDR ganz zurück, worum es den Menschen zunächst ging: die Befreiung vom Regime der SED und die Allianz aller Reformkräfte mit dem Ziel, eine Wiederkehr des sozialistischen Regimes unter allen Umständen zu verhindern.
An die Stelle dieses einigenden Bandes tritt mehr und mehr die durch bundesrepublikanische Muster geprägte Auseinandersetzung zwischen SPD und CDU. Dass diese Konfrontation der beiden sich gerade bildenden politischen Lager in der DDR nicht unbedingt zur Handlungsfähigkeit einer neuen Regierung nach dem 18. März beiträgt, ist offensichtlich.
Wenn jedoch beide großen Volksparteien ungeachtet dieser voraussehbaren Wirkung die Wahlkampfstrukturen der Bundesrepublik auf die DDR erstrecken, so übernehmen sie auch in vollem Umfang die Verantwortung für die politischen Resultate einer solchen Entwicklung. Praktisch heißt dies, dass, unabhängig von allen anderen Ursachen und Begründungen, die Bundesrepublik schon als Folge dieses Tuns verpflichtet ist, auch für die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Konsequenzen einzustehen, die sich aus der weiteren Entwicklung in der DDR ergeben. Damit brauchen wir den Gedanken eines Lastenausgleichs als Konsequenz ungleich verteilter Kriegsfolgen nicht mehr. Die politischen Parteien in der Bundesrepublik haben durch ihr gegenwärtiges Verhalten die Verpflichtung begründet, die DDR-Wirtschaft und das soziale System in der DDR zu sanieren und dafür unsere Wirtschaftskraft und die Leistungsfähigkeit unserer Sozialsysteme voll in Anspruch zu nehmen.
Unsere Frühstücksrunde hat heute Morgen über die Frage beraten, ob Bonn Hauptstadt bleiben soll. Die schnelle Entwicklung des deutsch-deutschen Verhältnisses hat auch diese Debatte aufs Tapet gebracht. In der öffentlichen Diskussion wird allgemein davon ausgegangen, dass Berlin wieder Hauptstadt einer einheitlichen deutschen Republik werden müsse.
Ich halte allerdings das Vorhaben, die Regierung Deutschlands nach Berlin zu legen, nicht für gut. Berlin steht für Zentralismus, für Nationalstaatlichkeit und für stärkere Orientierung nach Osten. Bonn steht für Westbindung, für Dezentralisation, Föderalismus und für eine starke Öffnung nach Europa. Die Verlegung der Hauptstadt nach Berlin würde bedeuten, dass sich die gesamte innenpolitische Struktur der Bundesrepublik, insbesondere ihr föderaler Aufbau, verändern. Die gesellschaftlichen Gruppierungen würden zweifellos ihre Hauptsitze früher oder später wieder in Berlin ansiedeln. Die jetzt für die Struktur der Bundesrepublik charakteristische Streuung der gesellschaftlichen Kräfte über das ganze Land wäre jedenfalls gefährdet. Wir nehmen uns vor, der gefühlsmäßigen Entscheidung in der öffentlichen Auseinandersetzung mit verstandesbegründeten Argumenten zu begegnen.
In der Arbeitsgruppe Wirtschaft berichtet Wissmann über das World Economic Forum in Davos, ich lege meine Überlegungen zur Währungsunion dar. Unter den Kollegen zeichnet sich, ebenso wie am Vortag im Fraktionsvorstand, weitgehende Zustimmung zu meiner Auffassung ab.
Um 15.00 Uhr Fraktionssitzung. Dregger wünscht mir zum Sechzigsten alles Gute mit der Bemerkung, dass man in diesem Alter weiser werde. Ich sage den Kollegen später Dank und warne sie vor allzu großen Hoffnungen, was das Weisewerden anbetrifft. Ich wolle mir alle Mühe geben, glaubte aber nicht, dass ich besonders erfolgreich sein werde.
In seinem Bericht schlägt Helmut Kohl vor, mit der DDR in unverzügliche Verhandlungen über eine Währungsunion einzutreten. Er hat die Dimension des Problems ebenso...