1 Kinder und Jugendliche im Kontext systemischer Therapie
1.1 Einführung
Die systemische Therapie ist aus der Arbeit mit Kindern und Erwachsenen heraus entstanden, die an schweren Verhaltensstörungen, Suchtproblemen, Essstörungen oder Psychosen litten oder in widrigen Lebensverhältnissen aufwuchsen, und besser im Kontext ihrer Familien behandelt werden konnten (Hoffman 1982, v. Schlippe & Schweitzer 1996).
Ausgangspunkt der systemischen Therapie ist eine ökologische Perspektive: Kinder, die an Beschwerden leiden, leben nicht in einem Vakuum, sondern sind Teil eines sozialen Bezugssystems. Alle Aspekte der Entwicklung von Kindern werden maßgeblich vom familiären Kontext beeinflusst (Combrinck-Graham 1986). Es liegt daher nahe, Kinder nicht isoliert zu behandeln, sondern sie im Rahmen ihrer Familie zu sehen. Die Einbeziehung ihrer Lebenswelt in die therapeutische Arbeit führt zu einem umfassenderen Verständnis von Beschwerden. Der Fokus der systemischen Therapie liegt deshalb auf dem sozialen Kontext als Bedeutungshintergrund von psychischen Störungen. Will man erfolgreich mit Kindern arbeiten, ist es erforderlich, sich auf ihre Welt und ihre Sprache einzustellen. Therapeuten müssen spielerisch vorgehen und kreative Techniken nutzen, die den kindlichen Ausdrucksformen entsprechen (Gammer 2007). Sie sollten aber auch kompetent mit Erwachsenen arbeiten können. Die Therapie von Kindern unterscheidet sich aus systemischer Perspektive nicht grundlegend von der Arbeit mit Erwachsenen – viele Aspekte der systemischen Kindertherapie können als Paradigma für die Behandlung von Erwachsenen gelten (Combrinck-Graham 1989, Keith & Whitaker 1981, Retzlaff 2005).
1.2 Ätiologische Modelle
In der Entwicklungsgeschichte der systemischen Therapie wurden unterschiedliche Erklärungsmodelle für Störungen entwickelt (Rotthaus 2001, Nichols & Schwartz 2004, v. Schlippe & Schweitzer 1996). Bis in die 80er Jahre galten beobachtbare Interaktionsprozesse als problemerzeugend, wie beispielsweise starre interpersonelle Grenzen, konflikthafte Dreiecksbeziehungen, Rollenkonfusion zwischen Eltern und Kindern, unklare Kommunikation, generationsübergreifend tradierte Verhaltensmuster und repetitive kontraproduktive Lösungsversuche. In einer zweiten, mehr sprachorientierten Phase der systemischen Theorieentwicklung ab 1980 wurden Bedeutungsgebungsprozesse, Glaubenssysteme und einschränkende Narrative als Erklärungsmodell für Verhaltensprobleme herangezogen, beispielsweise negative Zuschreibungen und problemgesättigte Narrative, die das Kind und die Eltern auf problematische Verhaltensweisen festlegen (Ludewig (1992). Heute gelten die unterschiedlichen Techniken, die in diesen Entwicklungsphasen entwickelt wurden, als gleichberechtigte Bestandteile der systemischen »Werkzeugkiste«.
Traditionell wurden Familien als Entstehungsort von Pathologie (miss-) verstanden. Die vermeintlich prägende Wirkung der Familie auf die Entwicklung von Kindern ist jedoch keine hinreichende Erklärung für das Auftreten von psychischen Störungen. Zwar lassen sich Problemmuster beschreiben, die Familien anfälliger für das Auftreten von psychischen Störungen machen. Es gibt jedoch keinen linearen Zusammenhang zwischen familiären Beziehungsmustern und spezifischen Störungen.
In Anlehnung an das biopsychosoziale Modell von Engel (1977) erscheint es sinnvoll, Aspekte der »harten« Wirklichkeit beim Zugang zu Problemen und Störungen ebenso zu berücksichtigen wie die weichere Wirklichkeitskonstruktion. In meiner Arbeit mit Kindern und Familien interessiert mich daher: Wie sieht die »objektive« Lebenswelt eines Kindes aus – wie ist die Arbeits- und Wohnsituation der Familie, wie sind die Einkommensverhältnisse der Eltern? Wenn die Eltern getrennt sind – können sie miteinander kooperieren, oder gibt es eine Geschichte von Eskalation und Streit? Welche Belastungen, etwa durch Krankheit, Armut, Folgen von Migration oder Flucht, sind gegeben? Über welche Ressourcen verfügt die Familie, etwa in Form von Bildung, guter sozialer Unterstützung, Gesundheit oder einer guten Auffassungsgabe? Welches Temperament hat das Kind, und wie ist die Passung zwischen Kind, Familie und sozialer Umgebung? Ich versuche aber auch zu verstehen, was die Familie aus den Gegebenheiten zu machen weiß, in welcher Weise sie ihre Familien-Geschichte als Ressource nutzt, um gegebene Probleme zu lösen, oder sich als Opfer einer nicht zu beeinflussenden Wirklichkeit sieht.
1.3 Grundprinzipien der systemischen Therapie
In der therapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen werden neben sprachlichen Kommunikationsformen Zugangsmodalitäten genutzt, wie sie von Kindern im Alltag bevorzugt werden: Spiel, Aktion, Singen, Musik und insbesondere Malen und künstlerisches Gestalten (Ackerman 1970, Keith & Whitaker 1981, Retzlaff 2005, Zilbach et al. 1972). Die psychotherapeutische Arbeit mit Erwachsenen verlässt sich überwiegend auf die verbale Kommunikation. Doch sprachliche Austauschprozesse sind nicht zwangsläufig die wirksamste Kommunikationsform in der Psychotherapie (Watzlawick 1977). In Therapien mit Kindern würde man mit ausschließlich sprachlichen Mitteln rasch an Grenzen stoßen: Viele Kinder können sich nicht gut artikulieren oder sprechen noch überhaupt nicht, sind scheu oder speziell im therapeutischen Kontext befangen.
Eine natürliche Ausdrucksform von Kindern ist das Spiel, das weite Bereiche ihres Lebens prägt. Will man Kinder verstehen, muss man deshalb spielerische Modalitäten nutzen (Reiners 2006). Kinder sind gelöster und erzählen spontaner, wenn der Therapeut eine Puppe sprechen lässt oder Geschichten erzählt. Bilder, Puppen, magische Objekte und ein Zauberstab, mit dem man drei magische Wünsche für die Familie aussprechen kann, machen die Arbeit für Kinder interessant. Sie teilen sich gerne mit, wenn man lustig und humorvoll auftritt und vermittelt: »Hier gibt es keine richtigen oder falschen Antworten.« Spielerische Kommunikationsformen erleichtern es ihnen, sich mit ihren Symptomen auseinanderzusetzen.
Kinder artikulieren sich nicht in der unter Erwachsenen üblichen rationalen, diskursorientierten und kontrollierten Form. Erst ab einem Alter von sechs Jahren sind sie kognitiv in der Lage, komplexere zirkuläre Fragen zu verstehen und familiäre Interaktionsmuster zu beschreiben. Es macht wenig Sinn, komplizierte Fragesätze an ein jüngeres Kind zu richten, das sich noch auf der präoperationalen Stufe befindet und nicht in der Lage ist, die Frage zu erfassen (Gelcer & Schwartzbein 1989). Will man eine Beziehung zu einem Kind aufbauen, muss man deshalb die eigene Sprache an das Entwicklungsalter des Kindes anpassen (Taffel 1991). Das kann zum Beispiel erreicht werden, indem man die Stimme affektiv moduliert und mit jüngeren Kindern »dramatisierend« spricht (Efron & Rowe 1987). Das Kind muss aktiv in das Geschehen einbezogen werden. Wenn die Therapiesitzung Kinder erreichen soll, muss sie lebendig sein, neue Erfahrungen ermöglichen und die unterschiedlichen Sinnesmodalitäten ansprechen. »Die besten therapeutischen Gespräche mit Kindern nutzen die besonderen Gaben der Kindheit – Imagination, die Fähigkeit zu Fantasie und Emotionalität« (Diller 1991, S. 24; Hervorhebung R. R.). Allerdings geht es nicht darum, immer kindzentriert vorzugehen, spielen kann auch zur Vermeidung von Konfliktthemen dienen. In manchen Situationen nimmt man Kinder ernst, wenn man darauf besteht, dass wichtige Anliegen besprochen werden, obwohl sie unangenehm sind (Cooklin 2001).
Das Vorgehen der systemischen Kinder- und Jugendtherapie ist aktiv und handlungsorientiert. Probleme werden als eine Herausforderung angesehen. Menschen, die unter widrigen Lebensumständen aufwachsen und dennoch auf lange Sicht gut zurechtkommen, zeichnen sich durch eine aktive Grundhaltung aus (Lösel & Bender 1999). Systemische Therapie verfolgt das Ziel, Klienten von einer ohnmächtigen, hilflosen Position zu einem Gefühl von Selbstwirksamkeit zu führen.
Zu Beginn einer Beratung definiere ich Psychotherapie als Hilfe zur Selbsthilfe. Ich betone, dass ich ein aktiver Therapeut bin, der Vorschläge anbietet und Anregungen gibt. Das Kind oder der Jugendliche und die Eltern werden eingeladen, ein Team zu bilden, das bei der Lösung des Problems zusammenarbeitet und dabei von mir unterstützt wird. Die Vorgehensweise ist symptomzentriert, regt aber gleichzeitig Veränderungen der familiären Organisation an. Gegenüber den Familien beschreibe ich meine Vorgehensweise folgendermaßen: »Nach meiner Erfahrung kommen Familien weiter, die neue Wege ausprobieren und Probleme aktiv anpacken. Viele Eltern glauben, eine Psychotherapie würde wie ein Medikament wirken, das man einfach einnehmen muss. Das stimmt natürlich so nicht. Es geht darum, aktiv zu werden. Manche Eltern glauben, dass sich nur ihr Kind ändern muss. Doch Kinder entwickeln sich am besten, wenn sie von ihren Eltern unterstützt werden. Sie als Eltern sind ein wichtiger Teil dieser Therapie!«
Eine zentrale Aufgabe für den Therapeuten besteht darin, die »Problemtrance« von Kind und Eltern zu überwinden, problemfreie Bereiche zu erkunden und Hoffnung zu induzieren. Mit Hilfe von verschiedenen Techniken wird die Familie zu einem Perspektivenwechsel eingeladen, um sie an ihre Kompetenzen zu erinnern. Familien-Geschichte(n) über den Umgang mit vergangenen widrigen Lebensumständen werden gewürdigt und die Möglichkeit des Andersseins, im Sinne eines Lebens jenseits der Problemhaftigkeit, eingeführt (Watzlawick 1977).
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