Design Thinking Live – Eine Einführung
Was haben ein emeritierter Stanford-Professor, ein rollstuhlfahrender Sozialunternehmer, eine malaysische Regierungsbeamtin und ein deutscher TV-Showmaster gemeinsam? Sie alle sind in den letzten Jahren in Berührung gekommen mit einem neuen Denkansatz, sie alle sind davon begeistert und: Sie alle berichten über ihre Erfahrungen in diesem Buch. Die Rede ist von »Design Thinking«, ein Terminus, den noch vor wenigen Jahren in Deutschland kaum jemand kannte und der mittlerweile nicht nur in den Sprachschatz vieler Ausbildungseinrichtungen Einzug hält, sondern auch in den von Chefetagen vieler Unternehmen und Organisationen.
Schon wieder so ein Anglizismus, der in den deutschen Sprachgebrauch einfließt und das Business-Denglisch anreichert? Was steckt hinter diesen beiden Begriffen, die auf Anhieb nicht zusammenzupassen scheinen und die Aufmerksamkeit in scheinbar unterschiedliche Richtungen lenken? Handelt es sich um eine neue Art des Designs? Neben Grafik-, Produkt-, Industrie- und Kommunikationsdesign nun ein Design des Denkens? Oder handelt es sich um eine neue Form des Denkens, eine neue Philosophie etwa der stromlinienförmigen, wohlgefälligen Gedanken?
Nein, hinter Design Thinking steckt ein neuartiger Denk- und Arbeitsansatz, der uns helfen soll, mit der zunehmenden Komplexität unserer Welt besser umzugehen, schwierige Problemstellungen auf unorthodoxe Weise zu lösen, und letztendlich der Wunsch, die Potenziale menschlicher Leistungsfähigkeit besser zur Entfaltung zu bringen.
Seinen Ursprung hat Design Thinking in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts in Deutschland. Das Bauhaus, gegründet von dem Architekten Walter Gropius in Weimar und später Dessau, war ein erster Versuch, durch die Zusammenführung unterschiedlicher Disziplinen wie Kunst, Architektur, Theater, Musik, Gestaltung etc. die Lösungskompetenz für komplexe Fragestellungen zu erhöhen und eine größere Vielfalt von Möglichkeiten zu eröffnen. Fragt man Professor David Kelley, der vor etwa zehn Jahren den Terminus »Design Thinking« in Stanford mit seiner mittlerweile weltweit bekannten »d.school« in die Hochschullandschaft einführte, nach seinen Inspirationsquellen, dann nennt er als erste die deutsche Bauhaus-Bewegung.
Mit einem radikalen Bruch beginnen: Institute of Design at Stanford
David Kelley und mit ihm eine Reihe weiterer Professoren der Stanford University sind allerdings noch einen radikalen Schritt weiter gegangen als die Kollegen des Bauhaus. Sie entwickelten mit der d.school einen Ansatz, der Studierende nicht nur aus den gestalterischen Disziplinen, sondern auch aus allen anderen Disziplinen einlud, gemeinsam an der Lösung komplexer Fragestellungen aus allen Lebensbereichen zu arbeiten – Kunst und Wissenschaft wurden hier in einen gemeinsamen Denk-, Sprach- und Handlungsraum zusammengeführt. So kamen Medizinstudenten, Juristen, Betriebswirte, Architekten, Informatiker, Psychologen und Maschinenbauer zusammen, um in kleinen, gemischten Teams an der Lösung komplexer Fragestellungen zu arbeiten. Wie man in Entwicklungsländern Bewohnern auf dem Lande, fernab von jeder Energieversorgung, zu elektrischem Licht verhelfen könnte, war eine dieser Fragen. Heraus kam 2007 ein neuartiges, solargespeistes Lichtmodul, das »d.light«, das bis heute rund 28 Millionen Menschen die Wohnstube erhellt. Das Studenten-Team, das in der d.school die Idee entwickelte, gründete ein Unternehmen, das mittlerweile 300 Mitarbeiter beschäftigt und über 16 000 Verkaufsstellen in 62 Ländern der Erde mit ihren Solarlampen beliefert.
Die d.school folgte nicht mehr einem traditionellen Curriculum, in dem kontinuierlich vorbereiteter Lehrstoff angeboten wird, sondern arbeitete projektorientiert, offen für alle Fragestellungen aus Industrie und Gesellschaft. Weniger technische und wirtschaftliche Aspekte standen im Zentrum der Arbeit, sondern vielmehr der Mensch mit seinen sich ständig verändernden Bedürfnissen. Treiber war hier die Erkenntnis, dass komplexe Problemstellungen, mit denen unsere Gesellschaft zunehmend konfrontiert ist, am besten in einer komplexen Arbeitsumgebung, in der auch Nichtexperten eine Stimme haben, gelöst werden können. Ein weiterer radikaler Schritt war, keine Einzelbewertungen für die teilnehmenden Studierenden zu vergeben, keine Noten. Hier auch der vielfach durch Studien belegten Erkenntnis folgend, dass die Qualität von Teamarbeit durch Einzelbewertungen eher negativ beeinflusst wird.
Das war allerdings ein so radikaler Bruch mit traditionellen Lehrformaten, dass selbst an der experimentierfreudigen Stanford University die ersten Versuche mit einer kleinen Gruppe von Studierenden lieber undercover in Baracken am Rand des Stanford-Campus durchgeführt wurden. Aber lange blieb das Experiment nicht geheim. In einer Titelstory der amerikanischen Business Week über David Kelley und die von ihm gegründete Innovationsagentur IDEO war auch von diesem multidisziplinären Experiment der d.school zu lesen und es war der SAP-Mitgründer Hasso Plattner, der von diesem Beitrag am meisten elektrisiert war. Irgendwie erinnerte ihn das beschriebene Szenario stark an seine Gründerzeit vor vierzig Jahren und er wollte die Macher der d.school sofort kennenlernen. Von dem improvisierten Laborcharakter in den Baracken ließ er sich dabei überhaupt nicht abschrecken. Im Gegenteil, als er erfuhr, wer außer David Kelley noch dahinter steckte, war sein Entschluss schnell gefasst, einen zweistelligen Millionenbetrag in dieses bis dato unbekannte Bildungsstartup zu stecken. Es waren Namen wie Larry Leifer, der als Maschinenbau-Professor schon seit 30 Jahren ein multidisziplinäres, international vernetztes Experimentier- und Entwicklungslabor (ME310) betrieb, und Terry Winograd, der Informatikwelt seit Jahrzehnten als Experte für Künstliche Intelligenz bekannt und, als Doktorvater von Larry Page und Sergeij Brin, mitverantwortlich für den Erfolg des von den beiden gegründeten Unternehmens Google.
Das Investment von Hasso Plattner führte die d.school nicht nur heraus aus den Baracken, sondern auch heraus aus dem kritisch beäugten Schattendasein der Stanford-Realität – ein ernstzunehmender deutscher Unternehmer investiert in mit Lego-Klötzchen und bunten Klebezetteln hantierende Studenten – die Anerkennung wuchs nicht nur unter den Studierenden, sondern auch unter den Professoren und in der Verwaltung. Stanford-Präsident John Hennessy, anfangs kritisch distanziert, empfiehlt mittlerweile jedem neuen Stanford-Studenten, mindestens einen Kurs an der d.school zu belegen. Und aus den Baracken wurde ein facettenreiches, zu vielfältigen Experimenten einladendes Laborgebäude im Zentrum des Stanford-Campus, in dem heute mehr als 700 Studierende sogenannte »Classes« belegen.
Zurück in die Alte Welt
Es dauerte keine zwei Jahre, bis auch in Europa die erste School of Design Thinking ihre Türen für Studierende aller Disziplinen öffnete. Hasso Plattner hatte dies vorangetrieben, auch aufgrund der positiven Erfahrungen, die er selber mit Design Thinking in der Zwischenzeit gemacht hatte. Nicht nur, dass er als Lehrender in Stanford d.school-Classes gegeben hatte, er machte sich in seinem eigenen Unternehmen an den Praxistest. Kurz nach seinem Investment in die Stanford d.school hatte er nämlich dafür gesorgt, dass bei SAP, mit 60 000 Mitarbeitern einem der größten Software-Unternehmen der Welt, dieser neuartige methodische Ansatz namens Design Thinking Einzug gehalten hatte. Anfänglich in Gestalt eines Design Services Teams, das sich vorrangig um eine bessere Nutzerorientierung der Schnittstellen von SAP-Software kümmerte. Die Bedienoberflächen für die hochkomplexe SAP-Software sollte weniger von den Entwicklern aus technischer Perspektive definiert werden als sich vielmehr, orientiert an deren Verhalten, den Bedürfnissen der Nutzer anpassen. Das war eine neue, ungewohnte Sichtweise für die Entwickler, führte aber zu deutlich besserer Akzeptanz bei Tausenden von SAP-Kunden.
Mehr als eine Kopie: HPI School of Design Thinking
Mit diesen positiven Erfahrungen war es für Hasso Plattner nun klar, dass Design Thinking auch in Deutschland, in seinem Institut für Software-Systems Engineering, das er zur Jahrtausendwende an der Universität in Potsdam gegründet hatte, einen Platz in der Hochschullandschaft finden sollte. In enger Abstimmung mit Stanford entstand dort 2007 die HPI School of Design Thinking, kurz HPI D-School. Aber nicht etwa als einfache Kopie der d.school in Stanford, sondern als konsequente Weiterentwicklung, aufbauend auf den Erkenntnissen der Kollegen aus dem Silicon Valley, aber in dem Bewusstsein, dass ein anderer, europäischer Kulturkreis und ein anderes akademisches Umfeld auch eine andere Version der Multidisziplinarität erforderlich machten. Während Stanford noch sehr stark den neuen Arbeitsprozess ins Zentrum der Ausbildung stellte, wurde in Potsdam ein bewusster und achtsamer Umgang mit dem Dreiklang aus gemischtem Team, iterativem Prozess und variablem Raum vermittelt.
Die drei Kernelemente des Design Thinking
Anfänglich mit 40 Studierenden aus 30 Disziplinen und einem Team von 16 Professoren und Assistenten, ebenfalls aus verschiedenen Disziplinen. Ebenso projektorientiert mit einem in jedem Semester erneuerten Projektportfolio statt eines Curriculums, ebenso teamorientiert und ebenso frei von Einzelbenotung. Offen allerdings für Studierende aller Fachrichtungen auch anderer Hochschulen. Und noch stärker an den Problemstellungen von Unternehmen und Organisationen orientiert als die Kollegen in Stanford.
Überraschende Nachfrage
Und diese Öffnung für jegliche Fragestellung führte auch...