1 Ein weit verbreitetes Problem
„Ich bin nicht krank, ich brauche keine Hilfe!”
Henry Amador im Gespräch mit Xavier Amador
„Mein Bruder ist so krank. Er hat sich geweigert, seine Medikamente zu nehmen. Wir haben versucht, ihn dazu zu überreden“, sagte April Callahan, die Schwester von Russel Weston, der angeklagt wurde, zwei Sicherheitsbeamte im amerikanischen Kapitol erschossen zu haben. „Er wollte es einfach nicht tun“, ergänzte seine Mutter, Arbah Weston. „Was sollen wir mit einem 41-jährigen Mann machen? Sie können ihn nicht einfach ins Auto setzen und zum Arzt bringen.“
AP-Meldung, 26. Juli 1998
„Da war die(se) kranke Person, die in John Lettermans Haus einbrach. Sie lehnte eine Behandlung ab und leugnete, dass sie ein Problem hatte.“
Anna-Lisa Johanson im Gespräch mit Xavier Amador
„Meine Mutter wollte, dass wir auf seinem Grundstück zelten und ihn davon überzeugen, Hilfe anzunehmen. Er war davon überzeugt, dass wir ein Problem hätten und nicht er.“
David Kaczynski, Bruder des geständigen „Unabombers“ Ted Kaczynski, im Gespräch mit Xavier Amador
„Nach Jeffs letzter manische Episode dachte ich, er hätte endlich realisiert, dass er seine Medikamente regelmäßig einnehmen muss. Letzte Woche hat er aber sein Lithium wieder abgesetzt. Er sagte, es gehe ihm jetzt wieder besser und er brauche es nicht mehr.“
Julia im Gespräch mit Xavier Amador
Bewusst oder unbewusst, jeder kennt das Problem zumindest aus den Schlagzeilen der Zeitungen. Viele Menschen, die an einer psychischen Erkrankung leiden, verneinen, dass sie krank sind und weigern sich, sich behandeln zu lassen. Diejenigen von uns, die mit einer solchen Person verwandt sind, erkennen sich und ihre geliebten Angehörigen nur widerstrebend selbst in diesen Schlagzeilen wieder. Das Dilemma, von dem Julia berichtete und das nie im Fokus einer Zeitung stand, beleuchtet ein Problem, das weltweit Millionen von Familien trifft, deren Namen nie in den Medien genannt werden. Tatsächlich ist dieses Szenario weit häufiger als solche, die mit Gewalt und/oder Suizid verbunden sind und über die wir in den Nachrichten hören. Aber genauso wie in den berüchtigteren, oben zitierten Beispielen glaubte Julias Verwandter nicht, dass er krank ist und wollte keine Medikamente einnehmen. Seine Leugnung und Ablehnung müssen nicht in einer Straftat enden, aber führen höchstwahrscheinlich zu einer Verschlechterung seiner Erkrankung, zu verpassten Möglichkeiten und zu zerstörten Beziehungen zu Menschen, die ihm nahe stehen.
Viele Menschen mit Schizophrenie oder bipolarer Störung glauben, dass ihre Krankheit kommt und geht. Für eine kurze Zeit hatte Jeff seine Erkrankung zugegeben und seine verschriebenen Medikamente eingenommen. Nachdem es ihm aber besser ging, beschloss er, sein Lithium nicht länger zu brauchen. Für Jeff war Lithium eine Medizin, mit der seine Erkrankung ähnlich behandelt werden kann wie eine Infektion mit Antibiotika. Ist die Packung leer, bist du geheilt. In Wirklichkeit ist Lithium bei manischen Erkrankungen besser mit Insulin bei Diabetes zu vergleichen, einem Medikament, das täglich eingenommen werden muss, um einen Rückfall oder sogar Tod zu verhindern. Bipolare Erkrankungen und Schizophrenien sind lebensgefährliche Erkrankungen (etwa 10 bis 15% der Betroffenen versterben wegen eines krankheitsbedingten Suizids). Die Analogie ist daher genau zutreffend.
Auch wenn Jeff seine Medikamente nur sporadisch genommen hat, war er damit vielen Menschen einen Schritt voraus. Viele psychisch Schwerkranke geben nie zu, dass sie krank sind und weigern sich, ihre Medikamente (1) überhaupt zu nehmen. David Kaczynski, der Bruder des „Unabombers“ Theodore Kaczynski, erzählte mir, dass obwohl sein Bruder zwanzig Jahre lang Amerika terrorisiert hatte, die Familie Kaczynski in zahllosen Briefen Unterstützung, Verständnis und Beileidsbekundungen von Menschen erhalten habe, die mit einem schwer psychisch Kranken verwandt sind. Wie David und seine Mutter hatten sie die Hilflosigkeit und seelische Qual erlebt, die damit verbunden ist, wenn man sich um jemanden sorgt, der seine psychische Erkrankung abstreitet. Tatsächlich habe sogar ich einen dieser Briefe geschrieben. Die Situation der Kaczynskis spiegelte meine eigene wie die der anderen wider. Ich hatte nur mehr Glück, weil mein Bruder Henry, wie die überwiegende Mehrheit der Menschen mit dieser Erkrankung, nicht gewalttätig war.
Viel häufiger als die Tragödien, die es bis in die Schlagzeilen bringen, sind die Tragödien, die Familienbande zerreißen lassen und das moralische Dilemma der Therapeuten, die mit der Therapie unserer Angehörigen und Freunde betraut sind. Jedes Mal, wenn wieder einmal eine Medikamentenpackung im Müll oder versteckt unter der Matratze entdeckt wird, wenn wir zu hören bekommen, dass wir uns um unsere eigenen Angelegenheiten kümmern sollen, dass wir die einzigen sind, die ein Problem haben, wenn wieder einmal ein Arzttermin verpasst wurde, bringt uns das einen Schritt näher an den Punkt, an dem wir verzweifelt aufgeben wollen. Manchmal, auch wenn wir nicht weglaufen, tun sie es, die Menschen, die wir ja lieben (2) . Sie verschwinden für Stunden, Tage, Wochen oder sogar Jahre. Mein Bruder Henry hatte die Angewohnheit, für Tage zu verschwinden und per Anhalter kreuz und quer durch die Lande zu trampen. Einige machen anonym Schlagzeilen, wenn sie auf der Straße landen oder eingesperrt werden. Das war meine größte Sorge.
In den USA leben ungefähr 6 Millionen Menschen mit ernsten psychischen Erkrankungen. In Deutschland wird die Zahl auf etwa 2 Millionen geschätzt (3) . Weltweit sind es buchstäblich Hunderte von Millionen. Die Ergebnisse aktueller wissenschaftlicher Studien weisen einstimmig darauf hin, dass rund die Hälfte dieser Menschen mit diesen Erkrankungen nicht glauben, krank zu sein und sich weigern, ihre Medikamente zu nehmen. Das bedeutet 3 Millionen schwer psychisch kranke Amerikaner (1 Million Deutsche), die nicht realisieren, dass sie krank sind. Vielleicht hatten Sie bereits eine Vorstellung davon, wie verbreitet diese Erkrankungen sind. Haben Sie aber bereits einmal überlegt, wie viele Familienangehörige davon betroffen sind? Wenn wir nur die Eltern der Erkrankten zusammenzählen, sind das schon doppelt so viele. Rechnen Sie jetzt nur einen Bruder, eine Schwester oder ein Kind dazu, wird die Zahl schon atemberaubend. Das ist eine Schlagzeile, die den Namen verdient: Mehr als zehn Millionen Amerikaner (mehr als drei Millionen Deutsche (4) ) haben einen nahen Verwandten mit einer psychischen Erkrankung, der diese leugnet und sich weigert, seine Medikamente zu nehmen.
Die meisten Studien weisen darauf hin, dass etwa die Hälfte der Personen mit schweren psychischen Erkrankungen ihre Medikamente nicht nimmt. Der häufigste Grund dafür ist mangelnde Krankheitseinsicht.
In den letzten 20 Jahren hat die Forschung zum Problem der mangelnden Krankheitseinsicht explosiv zugenommen. Eine der früheren Studien in dieser Zeit stammt von meinen Kollegen und mir. Wir untersuchten mehr als 400 Patienten aus ganz Amerika mit einer psychotischen Erkrankung. Dieser „Feldversuch“ war Teil unseres Beitrags zur Revision des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM, Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen) der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA). Wir untersuchten ein großes Spektrum von Symptomen, einschließlich der Einsicht in verschiedene Aspekte der Erkrankung und Behandlung. Wir hofften daraus zu erfahren, wie häufig Menschen mit einer psychischen Erkrankung nicht realisieren, dass sie krank sind. Unsere Ergebnisse zeigten, dass sich fast 60% der Patienten mit Schizophrenie, etwa 25% der Patienten mit einer schizoaffektiven Störung und fast 50% der Personen mit einer manisch-depressiven Erkrankung nicht bewusst waren, krank zu sein. Dieses Hauptergebnis konnte mittlerweile mehr als hundertfach in der Literatur bestätigt werden und ist heute so akzeptiert, dass im Jahr 2000 das Standarddiagnosemanual DSM, das von allen Berufsgruppen, die mit psychisch kranken Menschen arbeiten und in den USA und auch von vielen in Deutschland verwendet wird, feststellt: Die Mehrheit der Personen mit Schizophrenie weist nur eine geringe Einsicht in die Tatsache auf, dass sie an einer psychotischen Erkrankung leiden“ (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders IV-TR, American Psychiatric Association Press 2000, Seite 304). Mit anderen Worten, etwa die Hälfte der Patienten, die in unsere Studien eingebunden waren, antwortete auf die Frage, ob sie mentale, psychische oder emotionale Probleme hätten, mit „nein“. In der Regel war das „nein“ empathisch und gefolgt von manchmal bizarren Erklärungen, warum sie beispielsweise in einer psychiatrischen Abteilung untergebracht seien. Die Erklärungen reichten von „weil meine Eltern mich hierher brachten“ bis zu seltsameren Überzeugungen wie „Ich bin...