Einleitung
Wir alle sind heute vielfältigen emotionalen Belastungen ausgesetzt. Dabei spielt die klassische Angst ums Überleben nur noch eine begrenzte Rolle. Eine Reihe ganz neuer Befürchtungen ist dazugekommen, z.B. die Angst vor undurchschaubaren technischen Neuerungen, die Angst vor der Fülle an Informationen, mit denen wir täglich konfrontiert werden, die Angst, dass unsere Fähigkeiten in der Welt der Arbeit nicht mehr gefragt sein könnten. Unser Nervensystem ist für solche Belastungen nicht geschaffen. Außerdem bekommen wir von allen Seiten die Botschaft, dass wir in einer wunderbaren Welt leben und eigentlich gesund und glücklich sein müssten. Daraus entsteht ein Konflikt zwischen unserer persönlichen Gefühlslage, die skeptisch und vielleicht etwas depressiv ist, und dem Ideal, wie wir uns fühlen sollten. Diese Diskrepanz ist eine weitere Quelle von Stress. All das führt dazu, dass unsere inneren Alarmsysteme ständig in Bereitschaft sind.
Wir haben die Fähigkeit, die Schädigung unserer körperlichen und seelischen Systeme durch Stress bis zu einem gewissen Grad zu reparieren bzw. durch Prävention zu verhindern. Die Neurowissenschaften zeigen uns, dass unser Gehirn sich ständig verändert, je nachdem, welche Erfahrungen wir machen. Wir können demnach dafür sorgen, dass unser Organismus sich erholt.
Entspannungsmethoden helfen, die Selbstheilungskräfte des Körpers zu regenerieren. Wenn wir unsere Widerstandskraft gegen Stress jedoch auf Dauer stärken wollen, müssen wir einen Schritt weitergehen und unsere Gefühle und unser Denken einbeziehen. Die dafür benötigten Skills werden in unserer Kultur nur unzureichend gelehrt. Phantasiereisen, Imaginationen, Trancen, Meditationen und Rituale können uns als «Software» für entsprechende Lernprogramme dienen. Diese Methoden sind besonders wirksam, weil sie Körper und Geist gleichermaßen einbeziehen. Sie verbinden die Intelligenz des Herzens mit der Intelligenz von Körper und Gehirn.
Im Titel dieses Buches, «Seelenzeit», sind zwei Aufforderungen enthalten: Wenn du deinen Stress auflösen willst, musst du dir Zeit nehmen, und: Nimm dir Zeit für deine Seele, d.h. für alles, was dich weise und glücklich machen kann.
Wenn Sie mit diesem Band arbeiten, werden Sie immer wieder feststellen, dass es dabei um «sanfte» Methoden geht. Hier wird dem Stress nicht der Krieg erklärt und es geht nicht darum, besser oder erfolgreicher zu werden als andere. Vielmehr geht es um eine freundliche Einstellung zu uns selbst und zu unseren Mitmenschen. Ich bin nämlich davon überzeugt, dass Stress auch eine natürliche Reaktion darauf ist, wenn wir unser Ego zu stark in den Mittelpunkt stellen, andere übertreffen wollen, wenn wir uns selbst und anderen nicht vergeben können. Wir alle sind äußerst verletzlich, dies sollten wir berücksichtigen.
Wahrscheinlich sind Ihnen diese Überlegungen vertraut, sonst hätten Sie nicht zu diesem Buch gegriffen. Derartige Gedanken entsprechen jedoch nicht dem Mainstream unserer Kultur. Deshalb ist es durchaus angebracht, wenn wir unser friedliches, sanftes Credo wie ein Mantra häufig wiederholen.
Ich fasse noch einmal meine Ausgangsposition zusammen, die ich «therapeutisch-philosophische Strategie für eine menschenfreundliche Stressprophylaxe» nennen möchte:
Es ist hilfreich, wenn wir den Ernst unserer Lage nicht verleugnen und uns eingestehen, wie schlecht wir uns manchmal fühlen, außer Atem, deprimiert und am Rande unserer Reserven.
Wir sollten uns unsere psychischen Schwächen nicht vorwerfen. Niemand hat Schuld, wenn er sich in einer Gesellschaft, in der ein krasser Konkurrenzkampf herrscht, manchmal schlecht oder schwach fühlt. Jeder hat jedoch die Möglichkeit, sein eigenes Verhalten zu ändern und für seine mentale und psychische Gesundheit zu sorgen.
Unsere klassische Reaktion auf Schwierigkeiten (Zähne zusammenbeißen, härter arbeiten, energischer kämpfen etc.) hilft uns nicht weiter. Es kommt darauf an, dass wir eine neue Art von Besonnenheit entwickeln, dass wir uns beobachten, unsere Umgebung studieren und neue Ansprüche an unser Urteilsvermögen stellen.
Wir müssen unsere eigenen Abwehrmechanismen erkennen, mit allen Rationalisierungen, blinden Flecken und Verzerrungen.
Unsere Gefühle sind ein wichtiges Barometer. Damit sie diese Funktion erfüllen können, ist es notwendig, dass wir sie differenziert wahrnehmen und darauf verzichten, sie naiv auszuagieren.
Wir benötigen ein hohes Maß an Selbstkontrolle und Willenskraft, um weise Entscheidungen zu treffen.
Diese emotionalen Skills und Charakterstärken können wir leichter entwickeln, wenn wir immer wieder Freude erleben, Erfüllung und Glück. Wir brauchen Zeit für uns allein, Zeit zum Spielen, Zeit für unsere Seele, Zeit für gute Beziehungen und Zeit für unseren Körper. Außerdem ist es gut, wenn wir unseren Optimismus pflegen sowie die Fähigkeit zum Träumen, weil zu viel Skepsis mutlos macht.
Eine neue Einstellung zum Leben
Wenn wir dem unvermeidlichen Stress tatsächlich ein Schnippchen schlagen wollen, dann werden wir nicht darum herumkommen, unsere Lebenseinstellung zu verändern. Die Standardhaltung, mit der die meisten von uns aufgewachsen sind, hat uns nahegelegt, unsere Persönlichkeit zu entwickeln, einen Charakter zu kultivieren, unser Potenzial auszubauen, uns dem Wettbewerb zu stellen und möglichst besser zu sein als andere. Wir haben gelernt, unser Ego zu pflegen und Prestige und Kontrolle für wichtig zu halten. Zwangsläufig leiden unsere Beziehungen unter dieser ichbetonten Lebenseinstellung. Außerdem geht ein großer Teil unserer Energie durch Verteidigungs- und Kontrollanstrengungen verloren.
Wenn wir aus diesem Teufelskreis ausbrechen wollen, dann helfen uns die folgenden drei Axiome:
1. Sei aufmerksam
Was ist damit gemeint? Aufmerksamkeit ist ein zentraler Begriff in allen Meditationsmethoden und in der buddhistisch inspirierten Philosophie und Psychologie. Aufmerksamkeit bedeutet eine Pause für das Gehirn. Viele Übungen in dem vorliegenden Buch verfolgen dieses Ziel. Besonders die Kapitel 1 und 2 enthalten ein breites Spektrum von Übungen zur Stressreduzierung durch vertiefte Aufmerksamkeit.
Wir sollten diese Übungen in unseren Gruppen mit lockerer Hand präsentieren, ohne den Anspruch, den «richtigen» Weg zu einem «neuen Bewusstsein» zu kennen. Perfektionismus würde neuen Druck erzeugen. Es gibt viele Möglichkeiten, aufmerksam zu werden, und jeder von uns muss seinen individuellen Stil finden. Am besten ist es, wenn wir mit bescheidenen Erwartungen beginnen. Manchmal werden wir eine Aufmerksamkeitsübung finden, die uns besonders inspiriert und beglückt, in den meisten Fällen jedoch werden solche Übungen uns zumindest kleine Erleichterungen, mehr Energie und innere Ruhe verschaffen, wie zahlreiche medizinische und neurologische Untersuchungen belegen.
2. Übe dich in der Kunst der Intimität
Hier brauchen wir besonders viel Aufmerksamkeit und Geduld. Unsere Beziehungen sind kostbar und seelische Intimität brauchen wir genauso, wie frische Luft zum Atmen. Intimität bedeutet immer auch Konflikt. Wenn ich mit mir allein bin, kann ich mich sehr viel leichter um Harmonie bemühen, aber schon in einer Paarbeziehung stoßen zwei Seelen zusammen und erzeugen manchmal Kooperation und Anregung, manchmal Spannung und Kampf. Wir möchten geliebt werden, aber wir möchten uns nicht anbinden oder bevormunden lassen. Wir möchten unseren Partner respektieren, aber wir möchten auch unseren Willen durchsetzen. Wir wünschen uns Treue, aber wir lieben auch die Freiheit. Aus solchen Widersprüchen sind wir geschaffen. Es gibt jedoch eine Reihe von Skills und Haltungen, die uns helfen, unsere Beziehungen zu vertiefen und Fehler zu korrigieren:
Zeige deine Liebe und sprich darüber. – Es ist ein ganz entscheidender Schritt, wenn wir unser Herz öffnen und in unserem Verhalten und in unseren Worten zum Ausdruck bringen, dass wir an unseren Liebsten interessiert sind, ihr Wohlergehen im Auge haben und ihnen gern nahe sind.
Drücke Wertschätzung und Dankbarkeit aus. – Jeder von uns freut sich, wenn seine Anstrengungen beachtet werden und wenn das, was er für uns tut, gewürdigt wird. Dankbarkeit erzeugt eine freundliche und anregende Atmosphäre.
Zeige dein Mitgefühl. – Die Bedeutung des Mitgefühls ist in letzter Zeit in der therapeutischen Literatur immer wieder hervorgehoben worden. Mitgefühl kann ein Gegengewicht zu unseren narzisstischen Tendenzen sein, zu unserer Angst, zu kurz zu kommen. Es geht in erster Linie darum zu verstehen. Besonders in Konflikten kommt es darauf an, genau hinzuhören, um die Interessen, Hoffnungen, Wünsche, Ängste und Verletzungen des anderen zu erfassen. Jede...