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VERLOCKUNGEN
Die Reichtümer und Wunder Asiens
Zwischen Frömmigkeit und Neugier:
Die Jerusalempilger des späten Mittelalters
Für ein Verständnis der frühen europäischen Entdeckungen ist es unverzichtbar, sich zunächst den Reisenden des späteren Mittelalters zuzuwenden. Das Mittelalter gilt im populären Verständnis als eine Epoche geringer Mobilität, allerdings zu Unrecht. Gerade im späteren Mittelalter waren relativ große Teile der Bevölkerung in der einen oder anderen Weise auf den Straßen und Wasserwegen der Zeit unterwegs. Bauern, Handwerker und Händler reisten zu den Märkten, um Naturalien und Produkte auszutauschen; Herrscher und Adlige zogen mit ihrem Gefolge von Ort zu Ort, um in ihrem Herrschaftsbereich präsent zu sein; Mitglieder geistlicher Orden, Magister und Scholaren waren zu anderen Konventen und Bildungseinrichtungen unterwegs, um innerhalb ihrer Gemeinschaften neue Aufgaben wahrzunehmen, ihr Wissen an andere zu vermitteln oder an anderer Stelle zu vertiefen und zu ergänzen; Diplomaten und Vertreter von Ständen und Städten reisten zu Verhandlungen und Versammlungen, um gemeinsame Lösungen für politische und wirtschaftliche Fragen zu finden; und daneben gab es die Ärmsten, die als «wanderndes Volk» immer auf der Suche nach Lebensunterhalt waren.
Angehörige aller sozialen Schichten waren zudem unterwegs, um etwas für ihr Leben im Jenseits, für ihr Seelenheil, zu tun oder für vergangene Sünden Buße zu leisten. Die Ziele dieser Pilger waren sehr verschieden. Gerade regionale Pilgerziele besaßen – angesichts der hohen Kosten des Reisens – vielfach eine hohe Popularität, z.B. Canterbury in England und Wilsnack in Norddeutschland. Neben den mittleren Reisezielen wie Thann im Elsass gab es vor allem drei große Pilgerziele, peregrinationes maiores, nämlich Rom, Santiago de Compostela sowie Jerusalem, das Heilige Land und den Berg Sinai. Sucht man nach den Anfängen der Entdeckungsreisen, kommt zweifellos den Pilgern und ihren Berichten, ungeachtet ihrer ganz anderen Motivation, eine wichtige Rolle zu.
Gerade von den spätmittelalterlichen Jerusalempilgern haben sich zahlreiche Berichte erhalten, in deutscher, niederländischer und französischer, aber auch in italienischer, englischer und spanischer Sprache. Die Kosten und Mühen der Reise erlaubten es nur wenigen – meist reichen Bürgern, hochstehenden Geistlichen oder Adligen –, die Pilgerfahrt nach Jerusalem anzutreten. Sie waren von dieser Gruppe von Reisenden auch die Einzigen, die den europäischen Boden verließen und sich in einen anderen Kulturkreis, den islamischen, begaben. Dennoch haben ihre Berichte nur zum Teil persönlichen Charakter und geben eigene Beobachtungen wieder; vielmehr bauen sie häufig auf älteren Vorlagen auf und beschränken sich auf stereotype Urteile. Dem geistlichen Ziel der Reise entsprechend konzentrierten sich die Berichterstatter oftmals nur auf die Heiligen Stätten und die dort zu erlangenden Ablässe. Das fremde Land und seine Bewohner fanden kaum Berücksichtigung – oder nur als Hindernisse auf dem Weg zu einem möglichst hohen Gewinn für das eigene Seelenheil.
Dabei gab der meist stark reglementierte Ablauf dieser Pilgerreisen durchaus Gelegenheit zur Reflexion der eigenen Erleb nisse. Wenn man nicht, und das war die Ausnahme, von Venedig aus über Alexandria und den Sinai ins Heilige Land reiste, schloss man üblicherweise bei der Ankunft in Venedig einen Vertrag mit einem Patron, der die Details der Reise regelte. Über mögliche Zwischenstationen wie Rhodos und Zypern ging es nach Jaffa, wo die Pilgergruppe von Amtsträgern der Landesherren, der in Ägypten und Syrien herrschenden Mamluken, in Empfang genommen wurde. Vertreter dieser Kriegerkaste geleiteten die Pilger nach Jerusalem und zu den Heiligen Stätten. In Jerusalem selbst gab es seit 1336 einen Konvent der Franziskaner, die die Pilger aufnahmen und während ihres Aufenthalts kontrollierten, begleiteten und unterstützten. Im späteren 15. Jahrhundert erteilte der Guardian der Franziskaner dem ranghöchsten Pilger am Heiligen Grab den Ritterschlag, der diesen dann weitergab. Sofern sie nicht noch zum Katharinenkloster auf dem Sinai ziehen wollten, kehrten die Pilger danach nach Jaffa zurück und traten von dort die Rückreise nach Venedig an.
Es waren vor allem jene Pilger, die durch Ägypten, das Zentrum der Mamlukenherrschaft, anreisten, die häufiger zusätzliche Elemente in ihre Berichte integrierten. Zu den frühesten bekannten Reisenden nach dem Fall Akkons und dem Verlust der letzten Kreuzfahrerbesitzungen im Heiligen Land 1291 zählen zwei Deutsche, Wilhelm von Boldensele (wohl der bremische Stiftsministeriale Otto von Nigenhus) und Ludolph, Pfarrer des untergegangenen westfälischen Dorfes Sudheim, um 1330 bzw. zwischen 1336 und 1341. Wilhelm reiste zunächst über Konstantinopel, Kreta und Zypern nach Tyrus, dann über Akkon und Gaza nach Ägypten, um danach über den Sinai, das Heilige Land und Beirut nach Europa zurückzukehren. Ludolph folgte ihm in seinem Pilgerbericht teilweise wörtlich, doch ungeachtet seiner Abhängigkeit von Wilhelm finden sich bei ihm eigenständige Beobachtungen, die den besonderen Wert seiner Darstellung ausmachen.
Ein Beispiel dafür bieten die Berichte zu Alexandria und Akkon. Ersteres wird als «überaus schön und durch hohe Türme und nicht zu erobernde Mauern geschützt» beschrieben (Ludolph, De Itinere, S. 36), im Inneren als sehr sauber und durchweg weiß gestrichen, mit durch Röhren geführten Wasserleitungen. Neben dem christlichen Patriarchen hebt Ludolph die mit Mosaiken und Marmor wunderschön verzierte Kirche hervor, wo die Venezianer für tägliche Gottesdienste sorgten. Der – lange zurückliegende – Übergang Alexandrias aus christlicher in muslimische Hand wird emotionslos erwähnt. Dagegen beginnt Ludoph die Schilderung Akkons, der zweiten Hauptstadt des Königreiches Jerusalem während der Herrschaft der Kreuzfahrer, mit der Bemerkung, ihm sei zum Weinen zumute, denn «wer hat ein so steinernes Herz, dass ihn die Zerstörung und der Untergang einer solchen Stadt nicht bewegen würde?» (ebd, S. 39). Akkons vergangene Schönheit wirkt gegenüber Alexandria um ein Vielfaches gesteigert. Die Mauern der Häuser seien aus gleichmäßig geschnittenen Quadern erbaut gewesen, die Fenster mit Glas und Malereien verziert, die Straßen überaus sauber und zum Schutz gegen die Sonne von Tüchern überspannt, die zahlreichen Festungen der Adligen durch hohe Türme, feste Mauern und Türen aus Eisen geschützt. Die Stadt wurde nach der Eroberung 1291 gründlich zerstört und dem Verfall preisgegeben. Ludolph schaltet hier einen Bericht über die Eroberung ein, sieht aber die Hauptschuld bei den Christen selbst, zwischen denen Streit geherrscht habe.
Ludolph und andere Autoren waren somit zwar in ihrer Berichterstattung durchaus parteilich, doch teilweise wird eine gewisse Offenheit oder zumindest Neutralität gegenüber den Muslimen deutlich. Das setzte sich auch im 15. und frühen 16. Jahrhundert fort. Während der Dominikaner Felix Fabri, der 1480 und 1483/84 ins Heilige Land reiste und mehrere Berichte darüber verfasste, trotz aller individuellen Beobachtungsgabe und positiver persönlicher Eindrücke islamfeindlich blieb, öffneten sich andere Reisende wie der niederrheinische Adlige Arnold von Harff (1496–1498) stärker der fremden Umwelt. Dieser war über Alexandria vorgeblich als Kaufmann nach Ägypten eingereist und kaschiert in seinem Bericht offenbar einen längeren Aufenthalt in Kairo mit einer erfundenen Rundreise vom Sinai nach Indien, Madagaskar, Äthiopien und zu den Nilquellen, bei der er unter anderem – als Muslim gekleidet – im Zentrum des Islam, in Mekka, und in weiteren Moscheen gewesen sein will. Harff, der von seinen Reisen kleine Wörterbücher für den Alltagsgebrauch mitbrachte, etwa in Arabisch und Hebräisch, widmet in seinem Bericht Kairo größeren Raum als Jerusalem. Er hatte dort Kontakte zu den Mamluken, speziell zu zwei deutschstämmigen Konvertiten, einem Danziger und einem Baseler, die ihn offenbar mit islamischen Gebräuchen und Glaubensregeln vertraut machten. Trotz gewisser Vorurteile – etwa über die «Leichtgläubigkeit» der Muslime, die somit auch leicht zum Christentum bekehrt werden könnten – bleibt er anders als Fabri durchweg sachlich.
Diese wenigen Beispiele zeigen, dass schon die Fernreisenden unter den Pilgern des späteren Mittelalters nicht nur durch Frömmigkeit und den Wunsch nach Erlangung des Seelenheils angetrieben waren, sondern auch Abenteuerlust und Neugier auf fremde Welten eine Rolle spielten. Zwar blieben – selbst bei Arnold von Harff – die klassischen Pilgerziele, die dortigen heiligen Stätten und der zu erwerbende Ablass, zentral; sie sollten für die Leser und damit für mögliche spätere Pilger genauestens, nahezu dokumentarisch, beschrieben und festgehalten werden. Dennoch zeigen eingeschobene Elemente wie die Schilderung Alexandrias und Akkons bei Ludolph oder der fiktive Reiseteil bei Arnold,...