Einleitung
Krank durch Früherkennung? Im ersten Moment mag sich das widersinnig anhören. Bei Früherkennung – sei es bei der Krebs-Früherkennung oder beim allgemeinen Gesundheitscheck, der hierzulande unter dem Titel »Check-up 35« vermarktet wird – versuchen Ärzte, Krankheiten in Vor- oder Frühstadien zu entdecken. Und sie versprechen uns, dass man diese Frühstadien besser heilen kann. Oder bei entdeckten Vorstadien sogar den Ausbruch der Krankheit verhindern kann. Das klingt durchaus überzeugend. Was könnte auch sinnvoller sein? Wie sollte eine solche Früherkennung zu einer Krankheit führen?
Bei genauerem Hinsehen wird allerdings sehr schnell klar, dass diese Betrachtungsweise naiv ist. Gefährlich naiv. Der Kern des Problems liegt in der Frage: Wo fängt die Krankheit an? Denn bei diesen Reihenuntersuchungen an Gesunden, beim Check-up 35 beispielsweise, werden in der Regel keine Krankheiten diagnostiziert, sondern Grenzwertverletzungen. Ihr Arzt oder Ihre Ärztin sagt Ihnen: »Sie haben zu hohen Blutdruck.« Oder: »Ihr Cholesterin ist aber deutlich über dem Grenzwert, da müssen wir was machen.« Oder die Radiologin stellt nach zwei Mammografien, einem Ultraschall und schließlich nach der Analyse der Gewebeprobe aus der Brust fest: »Es ist Krebs.« Und dann fügt sie vielleicht noch hinzu: »Was für ein Glück, dass wir den so früh gefunden haben. Da haben wir gute Heilungschancen.«
In Wahrheit aber können all diese Befunde völlig unproblematisch sein. Das macht die Früherkennung so gefährlich! Sie erkennt nämlich auch Abweichungen vom Ideal, die für die Betroffenen in ihrem Leben niemals zu einem Problem geworden wären. Der Fachbegriff dafür heißt »Überdiagnose«. Viele Menschen werden mit hohen Blutdruckwerten steinalt. Das Gleiche gilt für den Cholesterinwert, der im Alter natürlicherweise ansteigt. Selbst Krebs (eigentlich sollte man zunächst von »Gewebeveränderungen« sprechen, denn das Wort »Krebs« ist so angstbesetzt, dass es sofort blinden Aktionismus auslöst) ist nicht generell der »Killer«, als der er allgemein wahrgenommen wird. Die meisten Männer haben beispielsweise Prostatakrebs, wenn sie sterben. Doch nur etwa jeder dreißigste Mann in Deutschland stirbt an Prostatakrebs, und das zumeist in einem Alter, das deutlich über der durchschnittlichen Lebenserwartung von Männern liegt. Sehr viele Menschen tragen Gewebeveränderungen mit sich herum, von denen sie nichts wissen. Und das ist auch gut so, denn diese Gewebeveränderungen werden nie zu einem aggressiven Tumor weiterwachsen.
Diese Menschen werden bei der Früherkennung aber als Kranke identifiziert, obwohl sie im Leben keine Probleme mit dem Frühstadium von »was auch immer« bekommen hätten. So macht Früherkennung krank. »Moment mal. Früherkennung hilft aber auch. Es werden doch Leben gerettet«, denken Sie jetzt sicher. Völlig zu Recht. Den einen hilft die Früherkennung tatsächlich, aber den anderen schadet sie eben. Eine Chemotherapie, von der man keinen Nutzen hat, ist ein heftiger Schaden. Chemotherapien können – nebenbei gesagt – sogar Krebs auslösen. Genauso wie die Mammografien mit dem Röntgengerät. Cholesterinsenker verursachen bei vielen Menschen mit »Fettstoffwechselstörungen«, die eigentlich gar keine Patienten sind, Schmerzen, die weitere unnötige Medizin nach sich ziehen. Prostataoperationen machen in vielen Fällen impotent und/oder inkontinent. Keine schöne Vorstellung, zumal wenn man von der Gewebeveränderung lebenslang gar keinen Nachteil gehabt hätte. Keine leichte Situation: Wie soll man sich entscheiden? Man kann im Vorhinein ja nicht wissen, ob man von der Früherkennung einen Nutzen oder einen Schaden davonträgt.
Aber genau das ist der Weg, der zu einer persönlichen und vernünftigen Entscheidung führt. Den Nutzen und den Schaden der Früherkennungsmaßnahmen abwägen. Wie groß ist die Chance auf einen Vorteil? Wie sehr wird durch Früherkennung mein Risiko gesenkt an »was auch immer« zu sterben oder ernsthaft daran zu erkranken? Wie groß ist auf der anderen Seite mein Risiko, Opfer von unnötiger Medizin zu werden. Nur weil ich als Gesunder zur Sicherheit an einem Screening oder an einer individuellen Früherkennungsmaßnahme teilgenommen habe? Genau das soll in diesem Buch ausführlich dargestellt werden – der potenzielle Nutzen und der mögliche Schaden. Für jede einzelne Früherkennungsmaßnahme in einem eigenen Kapitel. Basierend auf den besten wissenschaftlichen Informationen, die verfügbar sind. Sie werden sehen, es gibt viele Früherkennungsmaßnahmen, die man nicht guten Gewissens empfehlen kann. Weil das Risiko, Opfer von unnötiger Medizin zu werden, deutlich größer ist als die Chance, von der Früherkennung zu profitieren.
Doch warum ist dieses Buch eigentlich nötig? Die besten Informationen müsste es bei den entsprechenden Ärztinnen und Ärzten geben, die Früherkennung anbieten. Die müssten sich doch wirklich auskennen und uns nach bestem Wissen und Gewissen beraten. Dazu muss ich leider etwas feststellen, das Sie vielleicht beunruhigen wird. Von vielen Ärzten werden Sie gar nicht informiert. Wozu auch? Fast alle glauben, wie es scheint, dass Früherkennung fraglos eine gute Sache ist. Warum also lange darüber reden? Time is money! Wenn informiert wird, dann in der Regel nur über den Nutzen. Und fast immer wird der Nutzen dabei übertrieben groß dargestellt. Über den Schaden sprechen die meisten Mediziner nicht so gerne. Können Sie sich vorstellen, warum? Es ist ganz einfach: Ärzte verdienen nicht nur an der Früherkennung. Oft verdienen sie auch noch an der folgenden Behandlung. Ich möchte Mediziner nicht gerne unter Generalverdacht stellen. Aber nach dem, was ich bei meinen Recherchen zu diesem Thema erlebt habe, kann ich zu keinem anderen Schluss kommen: Für viele Mediziner ist Früherkennung eine willkommene Gelegenheit, ihren Kundenkreis auszuweiten. Denn durch Früherkennung werden viele gesunde Menschen zu kranken gemacht.
Wie sieht die ideale Früherkennung aus?
Perfekte Früherkennung gibt es in der Medizin nicht. Es kann sie gar nicht geben, wie wir gleich sehen werden. Lassen Sie mich deshalb ein Beispiel aus der »Verkehrstechnik« zur Veranschaulichung der idealen Früherkennung bemühen. Wir werden dabei sehen, wie viele Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Früherkennung richtig funktioniert. Und wie viele Fallstricke es gibt, die den Nutzen von Früherkennung relativieren, zunichtemachen oder sogar in sein Gegenteil verkehren können.
Folgen Sie mir auf den Atlantik. Wir sind auf der Brücke eines großen Containerschiffs. Und wir fahren im Nebel. Das ist für uns kein Problem, denn wir haben eine perfekte Früherkennungstechnik an Bord: Radar. Vermutlich sogar zwei oder drei Geräte, falls eines einmal ausfallen sollte. Die einzige Gefahr, die einem Schiff unserer Größe hier draußen droht, ist die Kollision mit einem anderen großen Schiff. Doch die werden von unserem Radar auf große Distanz mit 100-prozentiger Sicherheit erkannt. Ein Fehlalarm, also das, was man in der Medizin als falsch-positives Ergebnis eines Früherkennungstests bezeichnet, ist hier auszuschließen. Das Radar zeigt kein Schiff, wenn da keines ist. Die Radarstrahlen werden nur von dem massiven Schiff reflektiert und von unserem Gerät aufgefangen. Zur Sicherheit, zur Überprüfung haben wir – wie gesagt – mindestens noch ein zweites Radargerät. In der Medizin würde man dieses sichere Erkennen der Gefahr als 100-prozentige Sensitivität des Früherkennungstests bezeichnen. Aber schon 90-prozentige Sensitivität wäre in der Medizin ein Spitzenwert. Wir werden später sehen, dass es in der Früherkennungsmedizin Tests mit einer Spezifität von 5 Prozent und weniger gibt. Das heißt: Jeder »Treffer« wird von mindestens 20 Fehlalarmen begleitet. 100 Prozent Treffsicherheit gibt es in der Früherkennungsmedizin nicht.
Spezifität und Sensitivität
Die Sensitivität – also das richtige Erkennen einer vorliegenden Gefahr – ist die eine wichtige Qualitätsmarke der Früherkennung. Die Spezifität, das zuverlässige Entwarnen, wenn keine Gefahr besteht, ist das andere Qualitätsmerkmal. Auch hier ist die Radartechnik spitze. Wenn der Radarschirm frei ist, haben wir tatsächlich freie Fahrt. (Mag sein, dass es militärische Schiffe gibt, die einen Stealth-Tarnanstrich tragen und für Radartechnik unsichtbar sind. Aber die wären andererseits auch sicher nicht so blöd, sich von einem Containerschiff rammen zu lassen.) Also können wir auch bei der Spezifität von einem 100-Prozent-Wert ausgehen. Das gibt es in der medizinischen Früherkennung allerdings bei Weitem nicht. Ein nicht unerheblicher Teil derer, die mit einem »Sie sind gesund« aus welcher Früherkennung auch immer herauskommen, sind nicht gesund. Typischerweise erreichen Früherkennungsuntersuchungen nur eine Spezifität von 80 bis 90 Prozent. Es sind sogar Tests mit 65 Prozent auf dem Markt. Das heißt, in einem Drittel aller Fälle werden Entwarnungen gegeben, obwohl die Gefahr, nach der geforscht wurde, durchaus vorhanden ist.
Sichere Katastrophe versus unklares Risiko
Eine weitere Eigenheit unserer Situation hier auf hoher See und im Nebel ist die, dass wir – sofern das andere Schiff auf unserem Kurs liegt und wir nicht auf das Warnsignal reagieren – auf jeden Fall in ein katastrophales Ereignis geraten. Die Früherkennung kündigt uns hier also ein Ereignis an, das eintreten wird. Ein gigantischer Unterschied zu den meisten medizinischen Früherkennungen, um das an dieser Stelle schon ganz klar zu sagen: Medizinische Früherkennungsmaßnahmen kündigen uns in der Regel nämlich keine sicher eintretenden, eindeutigen Katastrophen an,...