PARADIES
IM
AUSNAHMEZUSTAND
Kaschmir, Oktober 2007
Hausboot 1
Der Paris Photo Service, der auch Kodak-Filme verkauft, rudert vorüber. Die Berge, obwohl es sonnig ist, sehen aus, als habe sie der liebe Gott in Milch getaucht und zum Trocknen aufgehängt. Als nächstes bringt eine Schikara, wie die Gondeln in Kaschmir heißen, Lebensmittel ans Hausboot, das einheimische Freunde empfohlen haben. Es ist tatsächlich sauber und komfortabel, im britisch-kolonialen Stil wie alle achthundert schwimmenden Pensionen Srinagars, schwere, dunkle Möbel, Orientteppiche, wuchtige Sessel, allerdings auf indische Touristen ausgerichtet, nicht auf westliche, weil nahe an der Stadt, wo der Dal-See nicht breiter als ein Fluß ist. Das versprochene Erleben von Stille, Weite und schneebedeckten Bergen, die sich im Wasser spiegeln, fällt daher weniger majestätisch aus. Ich blicke auf Autos und Rikschas, mehrgeschossige Bürogebäude aus unverputztem Beton sowie einen Hügel mit einer Fernsehantenne darauf. Für Inder scheinen die fünfzig oder hundert Meter Abstand, die sie vom Straßenlärm haben, mehr als genug zu sein. Ich hingegen war gegen alle Vorsätze leicht enttäuscht, zumal die Abende auf der Bootsveranda so kalt sind, daß ich mich zum Schreiben ins Zimmer unter die Bettdecke verkrieche.
Mehr und mehr entdecke ich allerdings die Vorteile der Situation, in die ich geraten bin. Das Boot gehört einer alteingesessenen Familie, von deren zweiunddreißig Mitgliedern immer einer genau das besorgen kann, was ich gerade brauche, das ganze Spektrum an Meinungen, Forderungen und Wünschen, das Srinagar bietet, ebenso einen Fahrer, Umbuchungen oder eine SIM-Karte fürs Mobiltelefon. Die indische Karte funktioniert aus Sicherheitsgründen nicht. Um eine neue Prepaid-Karte zu kaufen, braucht man einen festen Wohnsitz und die Bewilligung der Armee. Nun muß die Nichte des Bootsherrn ein paar Tage auf ihr Handy verzichten. Viel scheint sie nicht zu telefonieren, jedenfalls sind außer den mitgelieferten Servicenummern mit Kurzwahl keine Kontakte gespeichert, Astro Tel, Dial A Cab, Dua (Gebet), Flori Tel, Food Tel, Horoscope, Info Tel, Movie Tel, Music Online, Odd Jobs, Ringtones, Shop OnLine, Travel Tel, Weather. Für eine Stadt im Krieg, in der abends kaum eine Straßenlaterne brennt, sind das erstaunliche Möglichkeiten. Nach beinahe zwanzig Jahren hat sich Kaschmir längst eingerichtet im Ausnahmezustand.
Die Teilung des indischen Subkontinents hat viele Wunden gerissen, eine Million Menschen, die starben, sieben Millionen, die ihre Heimat aufgeben mußten. Kaschmir ist die eine Wunde, die sich nie zu schließen scheint, ausgerechnet Kaschmir, das Himmlische, dessen Gletscher, Seen und Wiesen leider nicht nur die Dichter und Reisenden verzückten. Seit dem vierzehnten Jahrhundert hatte das Tal fremde Herrscher, die es eroberten, ausbeuteten und gern auch verschacherten. Nach dem Rückzug der Briten 1947 fiel der größere Teil der Provinz trotz seiner überwiegend muslimischen Bevölkerung an Indien, der Westen an Pakistan, ein Streifen im Nordosten später an China. Vor den Vereinten Nationen verpflichtete Indien sich auf ein Plebiszit, in dem die Kaschmiris selbst über ihr Schicksal entscheiden sollten. Dazu ist es jedoch nie gekommen, stattdessen zu drei Kriegen mit Pakistan. Immerhin gewährte Delhi der Provinz weitgehende Autonomie, doch nach einer Serie offenkundiger Fälschungen bei den Regionalwahlen brach 1989 ein bewaffneter Aufstand aus, der mittlerweile hunderttausend Menschen das Leben gekostet hat – bei einer Einwohnerzahl von fünf Millionen. Etwa sechshunderttausend Soldaten soll die indische Armee in der Provinz stationiert haben, die meisten im Kaschmir-Tal, das gerade einmal doppelt so groß ist wie das Saarland. Es gibt auf der ganzen Welt keine auch nur annährend vergleichbare Präsenz von Streitkräften. Soldaten stehen überall, in allen Städten, in allen Dörfern, auf den Überlandstraßen genauso wie auf den Nebenstraßen, den Hauptstraßen, den Gassen und sogar den Feldwegen, noch auf den Feldern selbst und natürlich auf der gegenüberliegenden Uferpromenade, alle fünfzig Meter einer. Für die Inder ist es ein Krieg gegen den Terror. Für die Bevölkerung ist es Besatzung.
In der Stadt
Funklöcher unterbrechen jedes Telefonat in der Nähe einer militärischen Einrichtung, also auf einer Autofahrt alle drei Minuten. Ansonsten würde man, wenn nicht überall Soldaten stünden, tagsüber nicht merken, daß Srinagar sich im Krieg befindet. Ist das überhaupt noch Krieg? Die Armee selbst, die nicht dazu neigt, die Gefahr herunterzuspielen, gibt die Zahl der Aufständischen, die noch verblieben sind, mit etwa tausend an. Die Journalisten in Srinagar, die ich treffe, auch die indischen, gehen eher von einigen Dutzend Kämpfern aus, allenfalls zwei-, dreihundert, dazu eine unbestimmte Anzahl von Männern, die tagsüber ihrer Arbeit nachgehen und abends der Sabotage. Im Durchschnitt wohl einmal die Woche vermelden die Zeitungen ein Scharmützel oder einen Anschlag, häufig im letzten Augenblick vereitelt. Etwa ab acht Toten schicken die Nachrichtenagenturen eine Meldung raus. Darin ist von getöteten Extremisten die Rede, immer nur Extremisten, ob bei Reuter, AP oder CNN. Liest man die einheimische Presse, fällt auf, wieviele Extremisten Adreßbücher bei sich tragen, in denen die Namen der Komplizen und Hintermänner fein säuberlich aufgelistet sind. Einige Tage später berichten dieselben Zeitungen von einer Verhaftungswelle und daß den Sicherheitskräften ein bedeutender Schlag gegen den Terrorismus gelungen sei.
Die Menschen selbst, durchgängig alle Menschen, mit denen ich spreche, haben die Nase voll vom Krieg. Fed up ist der Ausdruck, den ich mit Abstand am häufigsten höre. Gut, Salamualeykum höre ich noch öfter, oder Aleykum salam, wann immer ich die Menschen mit dem islamischen Gruß überrascht habe. «Friede sei mit Ihnen», das hat in Kaschmir einen ganz eigenen Klang. Mit der Zeit wirkt es auf mich wie ein Flehen, was mehr ist als nur eine Einbildung, nämlich die Ahnung, daß auch dieser Gesprächspartner gleich versichern wird, nun wirklich genug zu haben vom Krieg, fed up, von den nächtlichen Durchsuchungen, den Ausweiskontrollen, den Straßensperren, fed up vor allem von der Willkür dieser fremden Soldaten, die fremd auch aussehen, dunklere Haut, fremde Sprache, fremde Religion, fremdes Essen, fremde Sitten, und mit ihren geladenen Maschinengewehren noch die Hühnerställe zu bewachen scheinen. Selbst an der Universität, vor einigen Jahren das Herz der Unabhängigkeitsbewegung, begegne ich niemandem, der noch bereit wäre zu kämpfen: fed up. Alle unterstützen die Forderung nach Selbstbestimmung, bekräftigt eine Anglistik-Professorin, die ungefähr so alt sein dürfte wie der indische Staat, also emeritiert – aber was ist am Tag danach? fragt sie ihre Studenten. Man müsse das vorher wissen: Niemand von euch hat mir darüber etwas gesagt. Werden andere Mächte intervenieren, die Nachbarn, China, die Vereinigten Staaten? Wird es ein Afghanistan werden? Was ist mit den Andersgläubigen, was mit den Frauen? Ein säkulares Kaschmir sieht sie nicht. Ein Blick auf die möglichen Führer des freien Kaschmir genügt ihr: Islamisten. Die Studenten schweigen. Einige haben eine Zeitschrift gegründet, die sich weitgehend auf die Probleme am Campus beschränkt. Darauf sei der ganze Widerstand geschrumpft, sagt einer der Redakteure, auf diese paar zusammengehefteten Seiten aus dem Kopierer. Das Examen ist wichtiger. Seht bloß zu, daß ihr euch nicht in die Politik einmischt, warnen die Eltern, von denen viele selbst noch gekämpft haben für Azadi, wie das Zauberwort 1989 auch in Kaschmir hieß: für die Freiheit.
Immerhin fanden 2002 regionale Wahlen statt, die einigermaßen sauber gewesen sein sollen. Die Koalition in Srinagar bemüht sich, die Menschenrechtsverletzungen der indischen Armee einzudämmen, und verlangt deren Rückkehr in die Kasernen. Aus der Altstadt mit ihren engen Gassen hat sich die Armee bereits zurückgezogen. So überrascht bin ich, dort keine Uniformen anzutreffen, daß ich Ausschau halte. Einzelne Soldaten entdecke ich. Das Maschinengewehr auf dem Rücken, gehen sie scheinbar sorglos umher, kaufen auch ein, verhandeln die Preise. Hingegen die indischen Touristen scheinen sich noch nicht in die Altstadt zu trauen, die mit ihren Häusern aus Stein und Holz so pittoresk ist, daß man jeden Augenblick eine Herde Japaner, eine Deutsche im Sari oder einen Amerikaner in Shorts erwartet. Teehäuser, Plätze, an denen man absichtslos verweilt, gehören seit dem Krieg allerdings nicht mehr zur kaschmirischen Kultur, dafür Moscheen, so gut frequentiert, wie ich sie nur in Kriegen antreffe.
Hausboot 2
Ja, die Inder sind zurückgekehrt, zu erkennen an der Kleidung, an den Fotoapparaten, an der dunkleren Hautfarbe. Auch auf meinem Hausboot hat eine indische Familie eingecheckt, ein Ingenieur aus Kalkutta mit Frau, Schwester und zwei Kindern. Der Ingenieur und...