1. Vom Verhütungsmittel zur Lifestyle-Droge
Seit drei Generationen ist die Pille das beliebteste Verhütungsmittel in Deutschland. Die Großmütter von heute erlebten ihre Markteinführung 1961 als junge Frauen in einer Zeit, in der die Gesellschaft sich zwar noch prüde zeigte, es jedoch bereits Anzeichen für eine Entwicklung hin zu sexueller Offenheit gab. Schon ein Jahrzehnt später wuchsen ihre Töchter als zukünftige zweite Pillengeneration in ein freizügigeres Leben hinein: im Westen als Kinder der sexuellen Revolution und im Osten als Töchter einer sexuell liberalen Diktatur. Längst sind diese Kinder ebenfalls zu Müttern geworden und haben Töchter, für die die Pille zum Leben gehört wie der Laptop oder das Mobiltelefon. Für diese dritte Pillengeneration ist es unvorstellbar, dass das kleine Dragee noch vor 50 Jahren ihre eigenen Großmütter sexuell befreite und ihnen eine selbstbestimmte Lebensplanung ermöglichte – Errungenschaften, die für die Mädchen heute selbstverständlich sind.
In Westdeutschland kam die erste Antibabypille am 1. Juni 1961 auf den Markt: Der Pharmakonzern Schering brachte Anovlar unter die Frauen. 1965 präsentierte der ostdeutsche Pharmakonzern VEB Jenapharm mit Ovosiston seine erste Pille und bezeichnete sie, vier Jahre nach ihrem Erscheinen, offiziell als «Wunschkindpille».[1] Die unterschiedlichen Begriffe für die kleine Tablette mit der großen Wirkung resultierten aus den gegensätzlichen Auffassungen der beiden deutschen Staaten zur Rolle der Frau in der Gesellschaft. Während die Einführung der Antibabypille im Westen heftige Diskussionen auslöste, weil die damalige Gesellschaft die Frau nur in der Rolle als Hausfrau und Mutter sehen wollte, wurde in Ostdeutschland die Wunschkindpille als eine Möglichkeit für Frauen präsentiert, ihren Beruf, ihre Mutterschaft und die Familie selbst zu planen. Da der Staat sie als Arbeitskräfte benötigte, sollten berufliche Verpflichtungen und Familienleben in Einklang miteinander stehen. Kinder waren erwünscht und sollten unter sozialistischen Moralvorstellungen großgezogen werden – aber zum richtigen Zeitpunkt.
Im Jahr 1964 wurden in Westdeutschland 1,4 Millionen Säuglinge geboren. Nach diesem sogenannten Baby-Boom nahmen die Geburtszahlen in beiden Teilen Deutschlands ab. Während sich in der BRD ein rasanter Rückgang abzeichnete, fiel er im Osten nur leicht aus und pendelte sich in den 1980er Jahren auf einem gleichbleibenden Niveau ein.[2] Der Grund dafür war ein umfangreiches Unterstützungsprogramm, von Wohnungsangeboten bis Kinderbetreuung, das der SED-Staat zur Verfügung stellte. Während es für unverheiratete Frauen in der Bundesrepublik bis in die 1970er Jahre hinein so gut wie unmöglich war, die Pille zu erhalten, gab es in der DDR diesbezüglich keine Hürden: 1970 konsumierten bereits 16-Jährige ohne Einwilligung der Eltern das kleine Dragee, und nur zwei Jahre später war das Medikament für alle Mädchen und Frauen kostenlos.
Im Westen Deutschlands lieferten sich Gegner und Befürworter der Pille über ein Jahrzehnt hinweg einen erbitterten Streit: Die einen befürchteten den Verfall der Sitten, die anderen feierten das sorglose Ausleben ihrer Sexualität. Im Osten Deutschlands dagegen wurden moralische Bedenken hinsichtlich drohender Promiskuität schon kurz nach Einführung der Pille immer seltener. Schnell fand die Pille in der DDR eine hohe Akzeptanz und wurde zum Verhütungsmittel Nummer eins. Bereits den Frauen der zweiten Pillengeneration, die zwischen 1965 und 1980 geboren wurden, erschien die Diskussion über die Gefahren der zügellosen Lust überkommen. Und für deren Töchter, die nach 1980 zur Welt kamen und die dritte Pillengeneration darstellen, ist die Einnahme der Pille im Alter von 16 Jahren schon so normal geworden, dass ein Mädchen, das den Hormoncocktail ablehnt, zur Exotin wird.
Trugen die ersten Präparate noch Namen, die ein medizinisches Produkt erkennen ließen, kam in Westdeutschland 1978 die erste Pille mit einem Mädchennamen auf den Markt: Diane. Dahinter steckte eine Pillensorte, die mehr konnte, als zu verhüten, nämlich Frauen, die unter Akne litten, von dieser Last zu befreien. Dieser Effekt trug enorm zur Lebensqualität der Betroffenen bei, da das neue Pillenpräparat neben dem Aspekt der Verhütung nun auch, dank sichtbarer Verbesserung der Haut, in der Lage war, seelische Verletzungen zu verhindern und das Selbstbewusstsein zu steigern. Mittlerweile gibt es zahlreiche Pillensorten, die neben sicherer Verhütung auch schönere Haut und glänzenderes Haar versprechen. Pillen mit dem Gestagen Drospirenon sollen sogar gleich zwei Wunder auf einmal bewirken: die Pfunde purzeln lassen und angeblich auch luststeigernd wirken – ein Traum für viele Mädchen und Frauen.
Stand kurz nach der Markteinführung der Pille ihre sichere Verhütung, die viele unangenehme Begleiterscheinungen mit sich brachte, im Zentrum, sind einige positive Nebenwirkungen heute erwünscht. Dies verwundert kaum, wenn man bedenkt, dass längst ein zweiter Gesundheitsmarkt existiert, der sich nicht an kranke, sondern vorwiegend an gesunde Menschen richtet und in erster Linie eine Verbesserung der Lebensqualität in Aussicht stellt. Der durch die moderne Pharmaindustrie geprägte Mensch hat viele Möglichkeiten, sich selbst zu optimieren. Er kann beispielsweise mit verschiedensten Medikamenten sein Gehirn «dopen», um leistungsfähiger zu werden, oder mithilfe der Anti-Aging-Medizin seine Jugendlichkeit noch lange bewahren.
Heute gibt es mehr als 50 Sorten der Antibabypille, und die Pharmaindustrie spricht bereits von der dritten und vierten Pillengeneration. Viele dieser neuen Präparate bergen zwar ein höheres Thromboserisiko, werden aber dennoch häufiger verschrieben als die der zweiten Generation. Für die Pharmaindustrie stellen gerade sie ein lukratives Geschäft dar, da diese Produkte noch unter Patentschutz stehen und somit doppelt, manche sogar dreimal so teuer sind wie die älteren Präparate.
Im Jahr 2010 konsumierten 87 Prozent der 14- bis 17-jährigen Mädchen die Pille.[3] Viele von ihnen aber denken dabei noch gar nicht an Verhütung, sondern sehen in der Pille ein Wundermittel, das den eigenen Körper zu formen vermag. So gab 2008 jedes zehnte Mädchen als Verschreibungsgrund unreine Haut, Menstruationsbeschwerden oder einen unregelmäßigen Zyklus an.[4] Längst wurden die jugendlichen Mädchen von der Pharmaindustrie als neue Zielgruppe entdeckt, und so mancher Konzern bietet die Pille in einem süßen Schmuckkästchen an: Als «Pille mit Herz» werden die kleinen Dragees mit rosa Schlüsselanhängern und Schminktäschchen überreicht.[5]
Das Medikament hinter der schönen Verpackung ist nur schwer zu erkennen. Doch spätestens der Beipackzettel erinnert daran, dass es sich um ein Arzneimittel mit Nebenwirkungen und Risiken handelt. Und die Liste dieser unerwünschten Begleiterscheinungen ist lang geworden, denn kaum ein Medikament kann sich so intensiv untersucht wähnen und mit so vielen Forschungsergebnissen aufwarten wie die Antibabypille. Ihre Verträglichkeit hat sich somit im Laufe der Jahre immens verbessert. War sie in ihren Anfängen noch eine regelrechte «Hormonkeule», so ist sie heute längst sehr viel geringer dosiert. Viele Nebenwirkungen konnten dadurch verringert, manche sogar volls tändig beseitigt werden. Doch das Risiko, an einer Thrombose zu erkranken, ist ein Problem geblieben und hält die Öffentlichkeit in Atem, sobald wieder ein Fall publik wird.
Dieses Buch beschreibt drei Frauengenerationen im Wandel sexueller Aufklärung und weiblicher Sexualität sowie ihren Umgang mit der Antibabypille. Als das Hormonpräparat 1961 in Deutschland eingeführt wurde, schenkte es den Frauen Zugang zu einer ebenso einfachen wie sicheren Verhütungsmethode und ermöglicht seitdem das Ausleben der Sexualität ohne Angst, dass eine ungewollte Schwangerschaft die Lebensplanung verändert – eine Qualität, die die Emanzipation der Frau wesentlich vorangetrieben hat. Ich sprach zwischen 2010 und 2015 mit 267 Frauen und 52 Männern aus drei Generationen über die Bedeutung der Pille in ihrem Leben. Ihre Berichte gaben mir einen Einblick, wie sich Liebe, Partnerschaft, Sexualität und Lebensplanung in den letzten fünf Jahrzehnten verändert haben. Außerdem führte ich 2010 die ersten Gespräche mit 196 Mädchen und 20 Jungen zwischen 13 und 18 Jahren. Die Interviews dienten als Recherchegrundlage für eine Dokumentation, die im April 2012 auf Arte ausgestrahlt wurde und die Mädchen in ihrem Alltag mit der Pille begleitete.[6] Bei manchen von ihnen erfüllte das kleine Dragee bereits seinen verhütenden Zweck, doch den meisten diente es in erster Linie dazu, ihr Aussehen zu verbessern und somit die Lebensqualität zu steigern. Einem Mädchen war in den ersten Monaten ihrer Pilleneinnahme nicht einmal bewusst, dass die Pille auch verhüten kann.
Die Pille – vom Verhütungsmittel zur Lifestyle-Droge? Bereits in den 1970er Jahren berichteten Gynäkologen über die verschönernden Nebenwirkungen der...