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E-Book

Charakter

Die Kunst, Haltung zu zeigen

AutorDavid Brooks
VerlagKösel
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl480 Seiten
ISBN9783641180584
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Wir leben in einer Gesellschaft, die zielorientierte Egoisten hervorbringt. Sie belohnt Verhalten, das zum Erfolg führt, und befördert Kalkül und Eigennutz: eine regelrechte Ich-an-erster-Stelle-Kultur, die uns wettbewerbsfähig machen soll.

Aber macht sie uns auch zu wertvollen Persönlichkeiten?

Nein, sagt David Brooks. Vielmehr müssen wir wieder lernen, die Welt nicht zu erobern, sondern uns ihr zu verpflichten. Der amerikanische Bestseller-Autor folgt damit der Spur einer großen moralischen Tradition und beweist, dass wir alle nur gewinnen können, wenn wir eine einfache Wahrheit verinnerlichen: Willst du dich selbst verwirklichen, musst du dich auch selbst vergessen können.

Eine packende Lektüre für alle, die der oberflächlichen Selfie-Kultur überdrüssig sind.



David Brooks, geboren 1961 in Toronto, wuchs in New York auf. Nach seinem Geschichtsstudium und Stationen bei der Washington Times und dem Wall Street Journal ist er heute die konservative Stimme der New York Times. Für Das soziale Tier (2012) wurde der populäre Kolumnist in der internationalen Presse viel gelobt.

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Leseprobe

EINLEITUNG

Adam II

In letzter Zeit habe ich über den Unterschied nachgedacht zwischen den Tugenden, die in Lebensläufen erwähnt werden, und jenen Tugenden, die in Trauerreden herausgestellt werden. Die Lebenslauf-Tugenden sind diejenigen, die wir in unserer Vita auflisten, die Kompetenzen und Qualifikationen, mit denen wir uns um eine Stelle bewerben und die zu unserem Erfolg in einem äußeren Sinne beitragen. Die in einer Trauerrede hervorgehobenen Tugenden hingegen reichen tiefer. Es sind die persönlichen Vorzüge, über die bei unserer Beerdigung gesprochen wird und die das Wesen unserer Person ausmachen – ob wir liebenswürdig, mutig, aufrichtig oder treu gewesen sind und welche Beziehungen wir aufgebaut und gepflegt haben.

Die meisten von uns würden sagen, dass die Trauerrede-Tugenden wichtiger sind als die Lebenslauf-Tugenden, aber ich muss gestehen, dass ich über lange Phasen meines Lebens mehr über letztere als über erstere nachdachte. Unser Bildungssystem fördert Lebenslauf-Tugenden zweifellos stärker als Trauerrede-Tugenden. Und das gilt auch für die Lebensratgeber-Literatur – die Selbsthilfetipps in Zeitschriften, die Ratgeber-Bestseller. Die meisten von uns haben eine klare Strategie für den beruflichen Erfolg, nicht dagegen für die Entwicklung eines tiefgründigen Charakters.

Ein Buch, das mir geholfen hat, über diese beiden Arten von Tugenden nachzudenken, ist Lonely Man of Faith (1965) von Rabbi Joseph Soloveitchik.1 Soloveitchik wies dort darauf hin, dass das Buch Genesis (1. Buch Mose) zwei Schöpfungserzählungen enthalte und dass diese von den beiden gegensätzlichen Seiten der menschlichen Natur handelten, die er Adam I und Adam II nannte.

Wenn wir Soloveitchiks Kategorien ein wenig modernisieren, könnten wir sagen, dass Adam I die karriereorientierte, ehrgeizige Seite unserer Natur ist. Adam I ist der äußere Adam, wie er in unserem Lebenslauf zum Vorschein kommt. Adam I will aufbauen, erschaffen, herstellen und Entdeckungen machen. Er strebt nach einem hohen sozialen Status und will sich im Wettbewerb gegen andere durchsetzen.

Adam II ist der innere Adam. Adam II will gewisse moralische Eigenschaften verkörpern. Adam II strebt nach innerer Gelassenheit, einem ruhigen, aber gefestigten Bewusstsein von Recht und Unrecht – nicht nur um Gutes zu tun, sondern auch um gut zu sein. Adam II will innig lieben, sich für andere aufopfern, gemäß einer transzendenten Wahrheit leben, eine Seele besitzen, die mit sich selbst in Einklang steht und ihre schöpferischen Kräfte und Möglichkeiten entfaltet.

Während Adam I die Welt erobern will, will Adam II der Berufung folgen, der Welt zu dienen. Während Adam I kreativ ist und aus dem, was er leistet, ein tiefes Gefühl der Befriedigung zieht, verzichtet Adam II um eines höheren Zieles willen manchmal bewusst auf weltlichen Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung. Während Adam I fragt, wie Dinge funktionieren, fragt Adam II, weshalb Dinge existieren und was der tiefere Sinn unseres Daseins ist. Während Adam I sich ins Unbekannte vorwagt, will Adam II zu seinen Wurzeln zurückkehren und die Wärme eines Mahls im Kreis der Familie genießen. Während das Motto von Adam I »Erfolg« ist, erlebt Adam II das Leben als ein moralisches Drama. Sein Motto lautet »Barmherzigkeit, Liebe und Erlösung«.

Soloveitchik behauptete, unser Leben werde durch den Widerstreit zwischen diesen beiden Adamen bestimmt. Der äußere, selbstherrliche Adam und der innere, demütige Adam lassen sich nicht völlig miteinander versöhnen. Wir sind zeit unseres Lebens in einem inneren Konflikt gefangen. Wir sind dazu berufen, beide Personae zu verwirklichen, und wir müssen die Kunst beherrschen, fortwährend im Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Naturen zu leben.

Ich möchte hinzufügen, dass das Schwierige an diesem Widerstreit die Tatsache ist, dass Adam I und Adam II unterschiedlichen Logiken folgen. Adam I lebt nach einer einfachen utilitaristischen Logik. Es ist die wirtschaftliche Logik. Input führt zu Output. Anstrengung führt zu Belohnung. Übung macht den Meister. Handle egoistisch. Maximiere deinen Nutzen. Beeindrucke die Welt.

Adam II lebt nach der entgegengesetzten Logik – einer moralischen, keiner ökonomischen. Du musst geben, um zu bekommen. Du musst dich einer Sache hingeben, die außerhalb von dir ist, um in dir selbst zu erstarken. Du musst deine Begierde überwinden, um das zu bekommen, wonach du dich sehnst. Erfolg führt zum schlimmsten Scheitern – Stolz. Scheitern führt zum größten Erfolg – Demut und Lernen. Um dich selbst zu verwirklichen, musst du dich selbst vergessen. Um dich selbst zu finden, musst du dich selbst verlieren.

Um deine Adam-I-Karriere zu fördern, ist es sinnvoll, deine Stärken zu entwickeln. Um deinen moralischen Adam-II-Kern zu fördern, musst du deinen Schwächen ins Auge sehen.

Das schlaue Tier

Wir leben in einer Kultur, die Adam I fördert, den äußeren Adam, und Adam II vernachlässigt. Wir leben in einer Gesellschaft, die uns dazu ermuntert, darüber nachzudenken, wie wir eine großartige Karriere hinbekommen, die viele von uns aber ratlos zurücklässt, wenn es darum geht, das innere Selbst zu entwickeln. Der Konkurrenzkampf um Erfolg und soziale Anerkennung ist so unerbittlich, dass er all unsere Kräfte aufzehrt. Der Konsummarkt ermuntert uns dazu, nach einem utilitaristischen Kalkül zu leben, unsere Wünsche zu befriedigen und die moralischen Dimensionen von Alltagsentscheidungen aus den Augen zu verlieren. Der Lärm rascher und seichter Mitteilungen erschwert es, die leiseren Töne, die aus der Tiefe aufsteigen, zu vernehmen. Wir leben in einer Kultur, die uns beibringt, wie man sich selbst vermarktet und anpreist und die für den beruflichen Erfolg notwendigen Kompetenzen aneignet, aber diese fördert nicht die Demut, das Mitgefühl und die ehrliche Auseinandersetzung mit sich selbst, die für die Charakterbildung erforderlich sind.

Wenn Sie nur Adam I sind, werden Sie ein »schlaues Tier«, ein raffiniertes Geschöpf mit starkem Überlebensinstinkt, das weiß, wie es durchkommt und alles in ein Spiel verwandelt. Wenn Sie nur das haben, verbringen Sie viel Zeit damit, sich berufliche Qualifikationen anzueignen, aber Sie haben keine klare Vorstellung davon, welches die Quellen eines sinnerfüllten Lebens sind, und daher wissen Sie nicht, in welchem Bereich Sie Ihre Fähigkeiten einsetzen sollten, welcher Berufsweg Sie am weitesten bringt und am besten für Sie geeignet ist. Jahre vergehen, und die tiefsten Bereiche Ihres Selbst bleiben unerforscht und unstrukturiert. Sie sind beschäftigt, aber Sie haben die unbestimmte Angst, dass Ihr Leben seine höchste Sinnbestimmung und Bedeutung verfehlen könnte. Sie leben mit einer unbewussten Langweile, ohne wirklich zu lieben und ohne echte Bindung an die moralischen Zwecke, die dem Leben seinen Wert verleihen. Es fehlt Ihnen der innere Kompass, um unerschütterliche Verpflichtungen einzugehen. Sie entwickeln keine innere Beständigkeit und nicht jene Integrität, die allgemeiner Missbilligung oder einem schweren Schicksalsschlag widerstehen kann. Sie ertappen sich selbst dabei, wie Sie Dinge tun, die andere Menschen gutheißen, unabhängig davon, ob diese Dinge für Sie richtig sind oder nicht. Sie beurteilen andere Menschen törichterweise nach ihren Fähigkeiten, nicht nach ihrem moralischen Wert. Sie haben keine Strategie, um Ihren Charakter zu formen, und ohne eine solche wird nicht nur Ihr Innenleben, sondern auch Ihr äußeres Leben schließlich aus den Fugen geraten. In diesem Buch geht es um Adam II. Es geht um die Frage, wie es einigen Menschen gelungen ist, einen starken Charakter zu entwickeln. Es geht um eine geistige Haltung, die sich Menschen durch die Jahrhunderte hindurch zu eigen gemacht haben, um ihren inneren Wesenskern zu härten und Herzensweisheit zu erlangen. Ehrlich gesagt, ich habe es geschrieben, um meine eigene Seele zu retten.

Ich wurde mit einer natürlichen Neigung zu Oberflächlichkeit geboren. Heute arbeite ich als Kommentator und Kolumnist. Ich werde dafür bezahlt, ein narzisstischer Wichtigtuer zu sein, meine Meinungen herauszuposaunen, so zu tun, als wäre ich fester von diesen überzeugt, als ich es tatsächlich bin, schlauer zu erscheinen, als ich in Wirklichkeit bin, und besser und Respekt einflößender, als ich es bin. Ich muss härter arbeiten als die meisten Menschen, um nicht ein Leben selbstgefälliger Oberflächlichkeit zu führen. Mir ist auch klar geworden, dass ich wie viele Menschen in unserer Zeit ein Leben geführt habe, das vagen moralischen Ansprüchen genügen sollte – ich wollte irgendwie gut sein, irgendwie einem höheren Ziel dienen, während mir ein konkretes moralisches Vokabular fehlte, eine klare Vorstellung davon, wie man ein reiches Innenleben entwickelt, oder auch nur ein klares Wissen darüber, wie man seinen Charakter formt und Tiefe erreicht.

Ich habe festgestellt, dass wir ohne eine strikte Ausrichtung auf die Adam-II-Seite unserer Natur leicht in eine selbstzufriedene moralische Mittelmäßigkeit abgleiten. Man lässt große Nachsicht gegen sich walten. Man folgt seinen Wünschen, wohin sie einen auch führen, und man heißt sein eigenes Verhalten gut, solange man niemand anderem offensichtlich schadet. Sie glauben, dass Sie ganz in Ordnung sein müssen, wenn die Leute in Ihrem Umfeld Sie anscheinend mögen. Dabei werden Sie langsam und kaum merklich zu einer Person, die etwas weniger beeindruckend ist, als Sie es ursprünglich hofften. Zwischen Ihrem tatsächlichen Selbst und Ihrem gewünschten Selbst tut sich eine beschämende Lücke auf. Sie erkennen, dass die Stimme Ihres Adams I laut ist, während die...

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