Ihr handelt, ich schreibe
Von Angela Terzani Staude
Ein paar Monate, nachdem Tiziano in Orsigna gestorben war, fuhr ich nach Florenz, um mir sein Büro anzusehen. Alles war in Ordnung und aufgeräumt: rasch, aber sinnvoll in Schachteln und Kartons verstaut, die ihm in den 25 Jahren Arbeit in Asien in die Hände gefallen waren. Er mochte alte und etwas abgenutzte Dinge, sie hatten die Patina der Geschichte. Neuerungen interessierten ihn nicht sonderlich, außer es waren solche technischer Natur.
Als ich ihn kennenlernte, da war ich achtzehn, zeigte er mir seine Olivetti Lettera 22, die damals der letzte Schrei war und das italienische Design in die ganze Welt trug. Das war sein einziger Besitz, und er war stolz darauf. Als ein Florentiner Techniker aus Übereifer die alten, etwas abgewetzten Tasten durch neue ersetzte, war Tiziano verzweifelt: Der Mann hatte seiner Schreibmaschine die Geschichte genommen, die Freuden und die Leiden, die er beim Schreiben darauf übertragen hatte und die sie zu seiner machten! Er musste die Tasten wieder auswechseln.
1972 zogen wir mit unseren damals noch ganz kleinen Kindern Folco und Saskia und vier Koffern nach Singapur. Mit seiner Lettera 22 machte Tiziano sich gleich ans Werk und schrieb seine ersten Berichte über den Vietnamkrieg; für Aufzeichnungen und Interviews dagegen benutzte er Notizhefte, die genau in die Brusttasche seiner weißen Hemden passten. Von diesen Notizheften finde ich einige Hundert in der schweren Renaissancetruhe in seinem Büro: Auf den ersten sind verschiedene vietnamesische Schönheiten abgebildet, die späteren haben fast alle einen schönen blassblauen Einband.
Ich blieb mit den Kindern in Singapur, meine Mußestunden brachte ich unter einem riesigen Baum mit lila Blüten zu und schrieb Tagebuch. Darum beneidete mich Tiziano. Er hat es immer für wichtig gehalten, eine Spur der eigenen Tage zu hinterlassen, aber er hatte keine Zeit dazu. In Saigon brach er frühmorgens auf an die Front, kam zurück ins Hotel Continental, um seinen Artikel zu schreiben, von dort eilte er zur AFP und gab ihn per Telex durch, dann machte er sich noch einmal auf, um einen Informanten zu interviewen oder die neuesten Gerüchte zu überprüfen. An den tropischen Abenden aß er mit den Kollegen in den Restaurants am Mekong, und sie redeten dabei weiter von den Ereignissen des Tages. Jede verlässliche Information landete in seinen Notizheften. Aus diesen Heftchen mit der energischen, fantasievollen und ein bisschen ungezügelten Schrift – für mich fast nicht zu entziffern, aber manchmal auch für ihn selbst nicht – sind zwölf Jahre lang Artikel und Korrespondentenberichte für den SPIEGEL, Il Giorno, L’Espresso und La Repubblica hervorgegangen sowie seine ersten beiden Bücher über den Vietnamkrieg.
1973 schreibt Tiziano in Singapur Pelle di Leopardo (Leopardenfell) und 1975 in Orsigna Giaiphong! La liberazione di Saigon (Giai Phong! Die Befreiung von Saigon), und ich erinnere mich, dass er, wie um die euphorische Stimmung des Kriegsendes aufrecht zu erhalten, vietnamesische Befreiungslieder hörte, die Notizhefte über den ganzen Tisch verstreut, und von nichts anderem reden und hören wollte. Die Niederlage der Amerikaner durch die Hand der kommunistischen Revolutionäre war für ihn ein persönlicher Triumph, sie stellte die Befreiung der Kolonialisierten von den Imperialisten dar, die Revanche der Unterdrückten für ihre Demütigungen. Der Traum seiner Generation, den er als Journalist unterstützen wollte, war in Vietnam Wirklichkeit geworden. Er weinte vor Freude, als die kommunistischen Panzer in Saigon einrollten. Über dem Schreibtisch in seinem Büro hängt noch immer ein Porträt von Ho Chi Minh, dem Vater der vietnamesischen Revolution.
Doch sein eigentliches Ziel war China. Er hatte sich lang darauf vorbereitet, hatte an zwei amerikanischen Universitäten Sinologie studiert: Er schlug den Revolutionären in Peking vor, uns als Köche, Übersetzer, Sprachlehrer oder sonst etwas anzustellen; er hatte sogar einen Aufsatz über Maos großes Experiment der sozialen Umgestaltung geschrieben, eine Umwälzung, wie die Welt sie noch nicht erlebt hatte und die ihn maßlos interessierte. Aber natürlich bekam er keine Antwort, und das Buch ist nie erschienen.
1975 wurde Tiziano Asienkorrespondent des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL, und wir zogen nach Hongkong, das damals noch eine englische Kolonie vor den Toren des riesigen China war. Und von dort aus unternahm er einen erneuten Vorstoß. Er suchte den Kontakt zu Kommunisten vor Ort, befreundete sich mit einem jungen chinesischen Journalisten, dem er sich so nah fühlte, dass er ihn »Bruder« nannte; er fragte einen gebildeten alten Jesuiten um Rat, Pater Ladány, der seit 30 Jahren im Auftrag des Vatikans China beobachtete. Im Januar 1980 schließlich war er einer der ersten Journalisten, die in Peking zugelassen wurden, und er eröffnete ein Korrespondentenbüro. Wir folgten ihm am Ende des Sommers, zusammen mit unserem Hund Baolì.
Aber die Enttäuschung kam bald. 1981 beginnt Tiziano seine ersten chinesischen Tagebücher auf der Maschine zu tippen. Es handelt sich um kurze, sporadische Reflexionen auf Durchschlagpapier und losen Blättern, der Tenor ist bereits skeptisch und pessimistisch. Er reist durch das Land, und schon die ersten Eindrücke bestätigen das, was ihm von Anfang an evident zu sein schien: Die Wirtschaft steht vor dem Kollaps, die Menschen sind traurig, arm und verängstigt, es herrscht ein Klima der Angst und der Bespitzelung. Millionen Menschen in Umerziehungslagern, Dutzende Millionen Tote. Die Kulturrevolution, die erst kürzlich zum Stillstand gekommen war, hatte Klöster, Buddha-Statuen, Pagoden, Denkmäler, öffentliche und private Bibliotheken zerstört und damit nicht nur die Schicht der Gebildeten vernichtet, sondern auch die materiellen Spuren der alten Kultur des Landes. Die sozialistische Moderne, dieses schöne Projekt, in das auch Tiziano so große Hoffnungen gesetzt hatte, ging zugrunde, wie zuvor schon in Kambodscha unter Pol Pot.
Seine Reportagen lassen keinen Zweifel an seinen Einschätzungen, und am 8. Februar 1984 wird er auf dem Rückweg von Hongkong von der Sicherheitspolizei am Flughafen Peking festgehalten. Man beschlagnahmt seinen Reisepass und zwingt ihn, eine »Selbstkritik« zu schreiben, in der er seine Vergehen gesteht: Mao beleidigt zu haben und im Besitz chinesischer Kunstschätze zu sein. Auch wird ihm verboten, irgendjemandem gegenüber ein Wort über das zu verlieren, was ihm zustößt, andernfalls droht die Deportation in ein Arbeitslager oder Gefängnis.
Schon 1983 hatte Tiziano aufgrund einiger merkwürdiger Vorkommnisse geahnt, dass jemand dabei war, ihm eine Falle zu stellen, deshalb hatte er mich, Folco und Saskia im Herbst nach Hongkong zurückgeschickt. Er kam von einem Besuch bei uns zurück, als man ihn festnahm. 36 Stunden nach seinem unerklärlichen Verschwinden aus der Wohnung in Peking, wo ich ihn zu keiner Tages- und Nachtzeit telefonisch erreichen konnte, setzte er sich endlich mit mir in Verbindung, um mir vage anzudeuten, dass ihm etwas zugestoßen sei und dass wir nur über »Brieftauben«, das heißt Reisende, die unsere Nachrichten persönlich überbringen würden, miteinander kommunizieren könnten.
Das Verbot, etwas über seine Festnahme verlauten zu lassen, galt auch für mich, weshalb ich in aller Heimlichkeit nur zwei Personen in Hongkong kontaktiere: den »Bruder« und Pater Ladány. Ich rufe auch beim SPIEGEL an und bei unserem Freund Bernardo Valli, der damals für La Repubblica aus London berichtete. Keiner von ihnen weiß, was er mir raten soll. In Peking tut Tiziano so, als wäre alles in Ordnung, aber es kursieren Gerüchte über einen Journalisten in Schwierigkeiten, und die Kollegen beginnen nachzuforschen. Bei mir in Hongkong taucht ein befreundeter Diplomat auf, aus dessen Fragen ich schließe, dass er ein doppeltes Spiel spielt, und ich fühle mich in die nebulöse Welt der Spione und Geheimdienste versetzt. Außerdem weiß ich, dass die Chinesen subtile Psychologen sind und Tizianos erklärten Wunsch, weiterhin in China leben zu können, ausnützen werden, um Katz und Maus mit ihm zu spielen, und dass dieses Spiel ihn am Ende zerstören wird.
Drei Wochen verstreichen, ohne dass sich etwas tut, meine Ratgeber in Hongkong sind besorgt und legen mir nahe, eine »allerhöchste Instanz« einzuschalten. Im ersten Moment ist mir nicht klar, dass sie den Präsidenten der Republik Italien, Sandro Pertini, meinen. Doch dann versuche ich umgehend, den Kontakt zu ihm herzustellen, auch wenn das nicht leicht ist.
Endlich, am 5. März 1984, wird Tiziano aus China ausgewiesen.
Voll bepackt mit Koffern – den Rest seiner Habe hat er in der italienischen Botschaft in Peking gelassen – landet er in Hongkong. Er ist erschöpft und desorientiert, hat sich aber vollkommen in der Hand. Der SPIEGEL bestellt uns nach Hamburg, und vor versammelter Mannschaft von Redakteuren und Herausgebern wird Tiziano einer peniblen Befragung unterzogen: Die Möglichkeit, dass ein Journalist für den Geheimdienst eines anderen Landes arbeitet, ist nie auszuschließen. Die Entscheidungen, die am Ende getroffen werden, fallen jedoch alle zu seinen Gunsten aus. Der SPIEGEL und danach La Repubblica veröffentlichten seinen Artikel mit der...