Vorwort von Ernst Nolte
Eine Untersuchung über den Mythos vom „jüdischen Bolschewismus“ würde wohl auch in Deutschland als legitime wissenschaftliche Fragestellung anerkannt werden, sofern der Verfasser von Anfang an deutlich machte, daß er unter „Mythos“ so viel wie „Wahnvorstellung, Erfindung“ oder „Lüge“ versteht. Ganz anders sehen die Dinge aus, wenn als Mythos der begeisternde oder auch fanatisierende Impuls verstanden wird, der eine tatsächlich vorhandene Wirklichkeit zuspitzend und verzerrend überformt, so daß eine neue, eine ideologische Realität entsteht. Dann muß ja die Voraussetzung gemacht werden, daß der Mythos vom „jüdischen Bolschewismus“ eben nicht ein bloßer Wahn ist, sondern daß er einen rationalen, d. h. verstehbaren und überprüfbaren Kern in der Wirklichkeit besitzt. Notwendigerweise wird dann sofort die Erinnerung an die Tatsache wach, daß die Behauptung, der Bolschewismus sei jüdisch, zum Kernbestand der Auffassungen Hitlers und des Nationalsozialismus gehörte, zu jenem Kernbestand, den man weit mehr als die Lehre von dem zu erobernden „Lebensraum“ oder der zu bewahrenden „rassischen Reinheit“ als unmittelbare Ursache für die „Endlösung der Judenfrage“, den „Holocaust“ betrachten darf. Auch wer nie die Bücher von Hermann Fehst oder Rudolf Kommoss über Bolschewismus und Judentum bzw. über Juden hinter Stalinzu Gesicht bekommen hat, kann gute Gründe vorbringen, um eine Studie für „gefährlich“ zu erklären, die einem so besonders folgenreichen und verhängnisvollen Teil der nationalsozialistischen Propagandaschriften ein gewisses Ausmaß von Recht zuspricht.
Daß Johannes Rogalla von Bieberstein sich die zweite der möglichen Auslegungen des Begriffs des Mythos zu eigen macht, geht schon gleich zu Anfang daraus hervor, daß er den von einem jüdischen Autor angeführten Ausspruch eines Rabbiners zitiert: „Die Trotzkis machen die Revolution, aber die Bronsteins müssen dafür bezahlen“, d. h. für die Taten der zahlreichen und prominenten Revolutionäre jüdischer Abkunft werden von den Gegenrevolutionären auch deren Verwandte verantwortlich gemacht. Ein solches Vorgehen ist als eine Art Sippenhaft offenbar verwerflich, jedoch nicht grundlos. Und wer etwa das Komintern-Kapitel aufschlägt, der mag sich tatsächlich an Fehst und Kommoss erinnert fühlen, denn es werden viele Repräsentanten kommunistischer Parteien genannt, die bei den Kongressen der Kommunistischen Internationale zusammenkamen und an ihren Namen leicht als Juden erkennbar waren – die nicht wenigen Pseudonyme werden aufgelöst –, und der Eindruck drängt sich auf, daß unter den Vorkämpfern der Komintern eine starke Minderheit, wenn nicht sogar die Mehrheit, von Juden und Jüdinnen gebildet wurde. Und der Verfasser weist ausdrücklich darauf hin, daß das erste Exekutivkomitee der Komintern mehr jüdische als nichtjüdische Mitglieder hatte. Ebenso machten Juden unter den Autoren der maßgebenden Zeitschrift, der Internationalen Pressekorrespondenz,während der Jahre 1921–1924 mehr als die Hälfte aus. Ein Leser, der zum erstenmal mit diesen Tatbeständen in Berührung kommt, wird sich der Schlußfolgerung schwerlich entziehen können, daß mindestens die führenden Leute des frühen Bolschewismus in einem weit überproportionalen Maße Juden waren – die Nationalsozialisten behaupteten ja nirgendwo, daß die Masse der einfachen Anhänger der Partei aus Juden bestanden habe. Insofern könnte es als das Ergebnis der Untersuchung von Biebersteins gelten, daß das Aufkommen der These vom „jüdischen Bolschewismus“ nicht grundlos und leicht verstehbar war.
Und dennoch wäre es absurd, Rogalla von Bieberstein in eine Reihe mit Fehst und Kommoss stellen zu wollen. Die Aufzählung von Namen gehört bei dieser Thematik zur unumgänglichen und elementaren Materialsammlung, die als solche völlig unabhängig von den Einstellungen der Autoren ist und an die lediglich die Frage „richtig oder falsch?“ zu richten ist. Selbst wenn Rudolf Kommoss aktiv an der späteren „Endlösung“ mitgewirkt hätte, könnte seine Aufzählung jüdischer Namen zutreffend sein; auch wenn von Bieberstein ein ausgeprägter „Philosemit“ wäre, könnten ihm böse Fehler unterlaufen.
Der grundlegende Unterschied liegt schon darin, daß für die nationalsozialistischen Autoren die Fülle jüdischer Namen in sich einen Beweis des Vorhandenseins von etwas „Bösem“ darstellte, während es von Bieberstein in erster Linie darauf ankommt, die Tatsache der in der Tat erstaunlich hohen Anzahl von Menschen jüdischer Abkunft unter den bolschewistischen Revolutionären verstehbar, ja verständlich zu machen. Deshalb hebt er die gedrückte Lage besonders hervor, in der sich die jüdische Bevölkerung Rußlands, Polens und anderer osteuropäischer Länder befand: das Fehlen von bürgerlicher Gleichberechtigung, die feindselige Haltung der christlichen Kirchen, den weitverbreiteten Volksantisemitismus, und er stimmt offenbar innerlich einer Aussage des Grafen Witte, des zeitweiligen Premierministers des Zarenreiches, zu: die russische Regierung sei verantwortlich dafür, daß „aus zaghaften Juden Revolutionäre und Aktivisten würden“. Die Tatsache, daß die führenden Vertreter des österreichischen Austromarxismus zu zwei Dritteln jüdisch waren, aber ganz überwiegend mit Schärfe gegen den Bolschewismus Stellung nahmen, ist für den Verfasser nur einer der Beweise dafür, daß der Bolschewismus nicht „seinem Wesen nach jüdisch“ war, sondern daß eine spezifische historische Situation für das weitgehende Engagement vieler (aber längst nicht aller oder auch nur der meisten) Juden im Sinne des Bolschewismus ursächlich war.
Von Bieberstein schließt es allem Anschein nach nicht einmal aus, daß dieses jüdische Engagement keineswegs nur verständlich, sondern im Rahmen einer übergeordneten Weltbewegung sogar gerechtfertigt war. Jedenfalls zitiert er ohne Kritik eine Äußerung von Franz Oppenheimer aus dem Jahre 1906, „der Jude“ stehe infolge seiner Diskriminierung und Verfolgung „überall im russischen Freiheitskampf an der Spitze der Sturmkolonnen“. Gab es im 20. Jahrhundert irgend etwas, das für die Liberalen wichtiger und positiver gewesen wäre als der Kampf von Verfolgten und Unterdrückten für ihre „Emanzipation“?
So ist die Zielsetzung von Biebersteins derjenigen antijüdischer Autoren geradezu entgegengesetzt: wo sie angreifen und verwerfen, macht er nicht ohne Sympathie verständlich, aber er erweist sich dadurch als Wissenschaftler, daß er nicht lediglich an die Stelle der Polemik die Antipolemik setzt und dort ein „absolutes Gutes“ zu erkennen glaubt, wo jene Antisemiten das „absolute Böse“ wahrnehmen wollten.
Was der Verfasser über die persönlichen Voraussetzungen seiner Arbeit sagt, ist aufschlußreich, und es sollte bei einem Thema wie diesem nicht fehlen. Er stammt aus einer adligen Familie von teilweise polnischem Ursprung, die in einigen ihrer Verzweigungen unter nationalsozialistischer Verfolgung zu leiden hatte; seine Dissertation handelte von der These der „jüdisch-freimaurerischen Verschwörung“ und brachte ihm viel Anerkennung ein; er hielt ein Referat über dieses Thema im Seminar von Yehuda Bauer und publizierte es in den Patterns of Prejudice.Seiner geistigen Herkunft nach gehört er also in den Bereich der „Vorurteilsforschung“. Den Überschritt zu dem vorliegenden Thema vollzog er offenbar in dem Augenblick, als er erkannte, daß die Rede vom „jüdischen Bolschewismus“ mehr als ein bloßes Vorurteil ist und trotz der überaus „heiklen“ Zusammenhänge zum Gegenstand der Forschung statt bloß zum Ziel von erbitterten Anklagen werden sollte.
Eine Fülle von jüdischen Selbstaussagen zwangen ihm diesen Überschritt geradezu auf – angefangen von dem Satz Leopold Treppers, des Chefs der „Roten Kapelle“: „Ich wurde Kommunist, weil ich Jude bin“, über die Feststellung des von Stalins Agenten 1940 in New York ermordeten Walter Krivitsky, die „Klagegesänge seines leidenden Stammes“ hätten ihn zum Kommunismus geführt, bis hin zu der umfassenden Interpretation des großen israelischen Denkers Jacob Leib Talmon: den auf Erlösung hoffenden europäischen Juden hätten nach dem Ersten Weltkrieg zwei „messianische Feuer“ geleuchtet, und zwar die „zionistische Erlösung“ in einem eigenen Judenstaat und die „kommunistische...