Das späte 18. und folgende 19. Jahrhundert, kann ̶ bezogen auf die gesellschaftliche Breitenwirkung des Klaviers ̶ als dessen Hochzeit angesehen werden. Das Klavierspiel ist durch den einfachen Anschlag von Tasten leichter zu erlernen als Saiteninstrumente. Klavierlehrer, ebenso wie Komponist, werden zu erstrebenswerten Berufen. Von Klavierschulen für Anfänger und Fortgeschrittene, über Klavierbearbeitungen von Opernwerken u.ä. bis hin zu virtuosen Werken wird alles erzeugt, was der Musikmarkt nachfragt. Wer Klavierspiel unterrichtet oder komponiert, hat zumindest in den Anfangszeiten des Klavierbooms finanziell ausgesorgt.[71] Das Instrument Klavier erreicht selbst die kleinsten Dörfer: in Badbergen, einem kleinen Ort in der Osnabrücker Region, werden innerhalb einer kurzen Zeitspanne, von 1830 bis 1848, 104 Klaviere verkauft.[72]
Das Klavier ist nicht nur weit verbreitet, es ist auch umfänglich in Praktiken und Diskurse vernetzt, wie Wolfgang Scherer beschreibt: „Das Klavier […] war das Instrument der häuslichen musikalischen Reproduktion und […] das Instrument der Diskurse über Die Musik, denen sich über seine Spielvorrichtung ein […] Zugang zum Musikalischen eröffnete, mit dem zugleich die Möglichkeit gegeben war, das Musikalische allen notwendigen diskursiven Operationen zu unterziehen.“[73]
Anhand des Lebens und Wirkens von Carl Czerny kann exemplarisch die Rolle und Funktion des Klaviers als Disziplinierungsmittel beschrieben werden: ein Instrument, mit dessen Hilfe effizient Körper, Geste und Objekt aneinanderkoppelt und produktive Effekte sowie die Subjektivität des Individuums erzeugt werden können.
Carl ist der einzige Sohn des Ehepaars Czerny, das als bürgerliche Kleinfamilie in Wien lebt. In seiner Biographie zeichnet Carl Czerny den Werdegang seines Vaters nach, der zunächst eine Erziehung und musikalische Ausbildung in einem Benediktinerkloster in Prag erhält, dann zum Militär geht. Aufgrund seiner bevorstehenden Heirat fasst er den Beschluss, Klavierlehrer zu werden, um damit für die Familie zu sorgen. Durch seinem Vater erhält Carl Klavierunterricht und ist im Alter von 3 Jahren bereits an der Lage, kleinere Musikstücke zu spielen.[74]
Grete Wehmeyer beschreibt nachdrücklich, wie Fleiß, die Tugend des Bürgertums, und benediktinische Lebensweisen, im Sinne von ‚ora et labora‘, als Leitbilder in der Familie Czerny gelebt werden und den auf Vergnügungen verzichtenden Czerny zunehmend in die Askese treiben.[75] Die Beherrschung des Klavierspiels ist oberstes Erziehungsziel, dem alles andere untergeordnet wird. In seiner Biographie schildert Czerny, wie er „[…]sorgfältig von anderen Kindern entfernt […]“[76] erzogen wird, kommentiert jedoch, dass sich dies positiv auf seinen Fleiß und Fortschritt im Üben ausgewirkt habe. Über das Lernen des Klavierspiels hinaus kommt Carl Czerny nur durch Wissenstauschgeschäfte an weitere Bildung. Diejenigen Schüler des Vaters, die für dessen Unterricht kein Geld haben, aber über Wissen verfügen, bezahlen durch Bildungsdienste. So erhält Czerny, ohne das Haus verlassen zu müssen, eine Bildung. Er erlernt mehreren Sprachen, wie z.B. die italienische, französische und deutsche Sprache ̶ Czerny spricht von Haus aus Böhmisch ̶ und darüber hinaus wird er Lektüre unterwiesen „[…] daher kam es, daß ich an die gewöhnlichen Jugendunterhaltungen und Kinderkameradschaften gar nicht dachte […].“[77]
Erst der Kontakt zu dem einige Jahre jüngeren Grafen Eugen Czernin und dessen Hofmeister bringt Czerny ab 1803 stärker mit der Außenwelt in Kontakt. Über zehn Jahre hinweg partizipiert Czerny an der wissenschaftlichen Ausbildung des Grafen Eugen und an den abendlichen Unterhaltungen im Adelssalon, die Czerny als bedeutend für seine geistige Ausbildung einstuft.[78] Carl Czerny sieht diese Verbindung als unabhängig von Musik gegründet ̶ insbesondere argumentiert er, dass er nichts vorspielen musste.[79] Das Vorspiel ist ihm offensichtlich unangenehm und die einzige Verweigerung der Unterwerfung des fügsamen Czerny, die er jedoch recht konsequent lebenslang durchhält.
Aus den Erläuterungen des Herausgebers Walter Kolneder kann entnommen werden, dass sich der Kontakt mit der Familie Czernin und anderen adligen Familien, die Czerny benennt, „[…] Schwarzenberg, Lobkowitz, Stadion […]“[80], ausschließlich auf ein musikalisch geprägtes Umfeld bezieht.[81] Es sind einflussreiche Förderer, einige davon selbst musikalisch hochtalentiert und zumeist musikalisch-politischen Schlüsselstellungen zuzuordnen. Insofern ist die Einschätzung Czernys, dass diese Kontakte nicht auf Musik gegründet sind, kritisch zu hinterfragen. Als Subjekt ist er schon so heimisch in seiner musikalischen Umgebung, dass er deren prägenden Verbindungen nicht mehr erkennt.
Auch wenn Czernys Verbindungen mit Eugen Czernin zu einer Erweiterung seines Wissenshorizontes führt, ändert sich dadurch nichts an seinen Zukunftsplänen. Sein Vater bildete ihn zur Sicherung eines künftigen Erwerbslebens zu einem tüchtigen Klavierlehrer aus.[82]
Das Klavierspiel beschreibt Czerny als seine häusliche Tätigkeit[83], was auf zwei wesentliche Merkmale verweist: zum einen, dass es ihn in eine Raumordnung zwingt, nämlich die der heimischen Wohnung. Darüber hinaus jedoch auch, dass ‚Klavierspielen‘ weit weniger mit einem Spiel gemein hat, als das Wort annehmen läßt, sondern auf das Arbeiten ausgerichtet ist. Später klassifiziert er sein Unterrichten und Komponieren auch als anstrengend.[84]
Heftige Kinderkrankheiten im Alter zwischen 10 und 12 Jahren wirken auf seine Gesundheit, und er analysiert in der Rückschau seiner Biographie, dass seine Reduktion auf die enge, elterliche Wohnung dazu beigetragen habe, seine Gesundheit nachhaltig zu stören[85].
Czernys Vater Wenzel ist der ständige Begleiter seines Sohnes Carl, unabhängig davon, ob es sich um die Begleitung zum Unterricht bei Ludwig van Beethoven handelte[86], oder um Konzertbesuche.[87] Der ‚Disziplinarblick‘ wird hier besonders deutlich, er ist ebenso allgegenwärtig wie überwachend. Der Vater sorgt dafür, dass eine Raumordnung eingehalten wird, die dem Erlernen des Klavierspiels dient. Sein Blick wirkt nicht beschwerend, so dass Carls Leistungen gehemmt werden, sondern steigert diese.
Carl Czerny wird zunehmend zu einem produktiven Bestandteil in der sich entwickelnden Industriegesellschaft, die auf Ökonomie und Effizienz ausgerichtet ist. An ihm kommen die mikrophysikalischen Wirkungen der Disziplinarmacht zur vollen Entfaltung.
Carl Czerny gibt sich mit dem zugewiesenen Raum zufrieden und sucht nur wenig Freiraum außerhalb dieser Wände. Er lernt nicht nur Klavier zu spielen, sein Vater bestimmt ihn auch zum Klavierlehrer: „ Etwa 15 Jahre war ich alt, als ich [1806] anfing, selber Unterricht zu geben […].“[88] Zur gleichen Zeit beginnt Czerny mit Kompositionen das Einkommen der gesamten Familie zu sichern, die Methoden der Disziplin zeigen ihre ökonomische Wirkung.
Czernys Alltag folgt 20 Jahre lang einem festen Rhythmus: er unterrichtet von 8 Uhr morgens bis 8 Uhr abends, täglich elf bis zwölf Lektionen.[89] Damit unterwirft er sich einer präzisen Zeitplanung, die sich aus den Komponenten Rhythmusfestsetzung, Tätigkeitszwang und Wiederholungszyklen zusammensetzt, analog wie von Foucault beschrieben.[90]
Auf Veranlassung seiner Verleger schreibt Czerny ca. 1830 eine begleitende Anweisung für den Klavierunterricht, die für ihn Allgemeingültigkeit besitzt, da sie sowohl für seine Fortepianoschule als auch für jede andere geeignet ist. Sie ist in Briefform gehalten und richtet sich an ein fiktives 12 Jahre junges Mädchen namens Cäcilie, das weit entfernt auf dem Lande lebt und deshalb von Czerny nicht persönlich unterrichtet werden kann. Diese Briefe für den Unterricht auf dem Pianoforte können als komplexes Programm aus Inhalt, Zeitplanung, der Zusammenschaltung von Körper, Geste und Objekt gelesen werden. Er schlägt vor, den Lehrgang innerhalb von acht bis zehn Wochen pro Brief, also insgesamt in anderthalb bis knapp zwei Jahren zu absolvieren[91], die Funktion von Taste zu Note zu erlernen, und kommentiert:
Die ersten Anfangsgründe sind in der Musik das Einzige Langweilige und unangenehme. […] Denken Sie sich […] die Sache, als ob Sie sich durch ein etwas dorniges Gestrüpp durchwinden müssten, um zu...