2 Effekte und Wirkungsweisen der Hippotherapie
2.1 Die Einzigartigkeit der Hippotherapie aus der Perspektive des Motorischen Lernens
Von Dorothée Debuse
Klienten wie auch Physiotherapeuten sagen oft, die Hippotherapie sei effektiver als konventionelle Physiotherapie (Debuse et al. 2009; 2005). Mögliche Gründe dafür sollen in diesem Kapitel in Bezug auf Motorisches Lernen und Pädagogik bzw. Lernpsychologie erläutert werden. Abschließend wird ein Modell vorgestellt, das die Wirksamkeit der Hippotherapie erklärt.
2.1.1 Motorisches Lernen: Grundlagen
DEFINITION
Motorisches Lernen ist die Schaffung neuer synaptischer Verknüpfungen und plastischer Veränderungen in relevanten Bereichen des Gehirns, die zu Veränderungen in Bewegung und Bewegungsfähigkeit führen (Kandel et al. 1995; Shumway-Cook / Woollacott 2001).
Wie in Abbildung 2.1 vereinfacht dargestellt ist, unterliegt effektives Motorisches Lernen gewissen Prozessen und physiologischen sowie emotionalen Faktoren, die es beeinflussen. Die physiologischen Voraussetzungen für das Motorische Lernen sind das sensorische und das motorische System, Neuroplastizität und das Limbische System (Kandel et al. 1995; Shumway-Cook / Woollacott 2001). Das Motorische Lernen hat auch eine starke emotionale Komponente: Unser Interesse an einer Bewegungsaufgabe sowie unser Gemütszustand bei ihrer „Erledigung“ beeinflussen die Effektivität unseres Motorischen Lernens (Carr / Shepherd 1998; Kandel et al. 1995; Shumway-Cook / Woollacott 2001). Der Beitrag des Limbischen Systems (im Besonderen der Amygdala und des Hippocampus) zum Motorischen Lernen ist so ausschlaggebend, dass es in diesem Zusammenhang als „Motivationssystem“ bezeichnet wurde (Kandel et al. 1995, 86).
Abb. 2.1: Motorisches Lernen
Eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Motorische Lernen ist Wiederholung und Übung. Übung ist die Basis allen physischen Trainings, ebenso wie auch des Erlernens eines Musikinstruments (Carr / Shepherd 1998; Mononen et al. 2003; Shumway-Cook / Woollacott 2001). Die Wirksamkeit der Wiederholung bzw. Übung wird durch Feedback über die Ausführung der Bewegung weiter erhöht (Shumway-Cook / Woollacott 2001). Hierbei gilt: Je intensiver und länger die Bewegungserfahrung und je mehr Gehirnzentren (motorische, sensorische und affektive) daran beteiligt sind, desto effektiver ist das Motorische Lernen, da dies größere Neuroplastizität bewirkt (Butler 2000; Flor et al. 1997; Shumway-Cook / Woollacott 2001; Steven / Blakemore 2004).
Ein weiterer Faktor, der das Motorische Lernen noch effektiver macht, ist die Aufgabenbezogenheit. Das heißt: Wenn eine Bewegung auf eine Weise geübt wird, wie sie später für eine bestimmte Bewegungsaufgabe im täglichen Leben gebraucht wird, ist diese Übung effektiver, als wenn sie nicht aufgabenspezifisch ist.
2.1.2 Motorisches Lernen in der Hippotherapie
Aufgabenbezogene Übung mit Feedback
Vor diesem wissenschaftlichen Hintergrund ist es nicht überraschend, dass die Hippotherapie besonders gute Voraussetzungen für Motorisches Lernen schafft. Das Pferd bietet mit seinen 90 bis 120 Schritten pro Minute (d. h. ca. 2250–3000 Schritte pro 25 Minuten Behandlung) einen wiederholten Bewegungsstimulus (Wiederholung), der von der Person auf dem Pferderücken eine kontinuierliche Bewegungsantwort erfordert (Übung). Das Pferd bewegt dabei das Becken des Klienten auf gangtypische Weise (Schirm / Riede 1998; Riede 1986; Dvorakova et al. 2003), d. h. aufgabenbezogen, und gibt dem Klienten kontinuierliches Feedback über die Effektivität seiner Bewegungsantwort.
Darüber hinaus bewirkt die Hippotherapie eine Tonusregulierung und (möglicherweise aus diesem Grund) eine Hemmung abnormer Bewegungsmuster. Es scheint, dass die Pferdebewegung bei Klienten eine Auflösung oder Hemmung etablierter abnormer Bewegungsmuster bewirkt (Mayston 2000; Strauß 2000). Dies wiederum erlaubt die Entwicklung neuer Bewegungsmuster, die der Klient dann auf dem Pferd weiter verbessern und üben kann. So wurde z. B. in mehreren Studien nachgewiesen, dass sich die Grobmotorik (Casady / Nichols-Larsen 2004; Debuse et al. 2009; Murphy et al. 2008; McGibbon et al. 2009; Shurtleff / Engsberg 2010; Shurtleff et al. 2009; Snider et al. 2007; Sterba 2007) sowie die Gehfähigkeit (Debuse et al. 2009; Encheff et al. 2012; Kwon et al. 2011; McGibbon et al. 1995) bei Kindern mit Cerebralparese aufgrund von Hippotherapie signifikant verbesserte. Außerdem wurde eine Verbesserung der Bewegungsfähigkeit in anderen Bereichen, wie Fahrrad- und Skifahren, Treppensteigen, und Feinmotorik beim Essen und Trinken berichtet (Debuse et al. 2009). Dies deutet auf echtes Motorisches Lernen, d. h. auf einen Carry-over-Effekt und nicht nur auf einen Trainingseffekt hin. Das komplexe sensorische Feedback, das dem Klienten in der Hippotherapie zugutekommt, spielt in diesem Zusammenhang eine überragende Rolle.
Einzigartige Sensomotorische Stimulation
In der Hippotherapie wird der Klient wiederholt einer Vielzahl sensorischer Stimuli ausgesetzt, die alle Sinne ansprechen (s. Box 2.1). Besonders für Menschen mit Sinnesstörungen ist die Hippotherapie ausgesprochen wertvoll, weil das Pferd und seine Bewegungen so viele verschiedene Sinne ansprechen, so dass (mehrere) intakte Sinne beeinträchtigte Sinne kompensieren können. Auf diese Weise können Klienten Sinneserfahrungen machen, die ohne das Pferd weniger vielschichtig oder ihnen gar ganz verschlossen wären. Auf diese Weise bietet die Hippotherapie auch Klienten mit sensorischen Störungen ein einzigartiges sensomotorisches Erlebnis.
Forschungsarbeiten auf dem Gebiet chronischer Schmerzen zeigen, dass der Lerneffekt umso besser ist, je mehr Zentren (motorische, sensorische, und emotionale) am Motorischen Lernen beteiligt sind (Butler 2000; Flor et al. 1997). Dies gilt auch für die Hippotherapie und ist in diesem Zusammenhang hoch relevant. Der Beitrag so vieler verschiedener Sinne für das Feedback über die Bewegung in der Hippotherapie optimiert die Gelegenheit für effektives Motorisches Lernen.
Box 2.1: Multisensorische Stimulation
Sinne, die in der Hippotherapie angesprochen werden:
Oberflächen- und Tiefensensibilität
Propriozeption
Temperatursinn (die Körpertemperatur des Pferdes ist ein Grad höher als die des Menschen; da der Klient auf einem Schaffell oder einer Decke sitzt, kann er diesen Unterschied spüren)
Vestibularsystem, durch die Bewegung im Raum (d. h. Bremsen, Beschleunigung, Richtungsänderungen)
Sehen
Geruchssinn
Tastsinn
Hörsinn
Das Pferd als einzigartiger Bewegungsgeber
Die Nichtbenutzung und verminderte Benutzung von Extremitäten bei Kindern mit Cerebralparese hemmt die Entwicklung des korrespondierenden sensorischen Repräsentationsfeldes im Gehirn. Dies wiederum beeinträchtigt die Funktionsfähigkeit der betroffenen Gliedmaßen (You et al. 2005). Dasselbe wird auf dem Gebiet chronischer Schmerzen und der Neurorehabilitation von Erwachsenen beobachtet (Flor et al. 1997; Butler 2000; Wrigley et al. 2008). Die abnorme Bewegung bei Menschen mit neuromotorischer Störung ist also auf zwei Dinge zurückzuführen: einerseits auf einen abnormen motorischen Output und andererseits auf einen mangelnden sensorischen Input. Letzteres führt zu einer reduzierten Gelegenheit, normale Bewegung zu erleben und normale Bewegungsantworten zu üben (Shumway-Cook / Woollacott 2001). Die Tatsache, dass vor allem Menschen mit angeborenen motorischen Defiziten nicht den gleichen Bewegungserfahrungen ausgesetzt sind wie Nichtbehinderte, trägt also ausschlaggebend zu ihrem Defizit bei. Es kommt zu einem Teufelskreis (s. Abb. 2.2).
Abb. 2.2: Sensomotorischer Teufelskreis
Erschwerend kommt die abnorme Biomechanik hinzu, v. a. durch Muskelverkürzungen (sowohl dynamisch durch einen abnormen Muskeltonus als auch statisch aufgrund von Kontrakturen), die sowohl die Bewegungserfahrung (Sensorik), als auch die Bewegungsübung bzw. -ausführung (Motorik) weiter behindern und beeinträchtigen. Daher ist es nicht erstaunlich, dass der Einsatz von Interventionen angeregt wird, die sowohl Bewegung als auch sensorische Bereicherung beinhalten, um dem entgegenzuwirken ( Leonard 1994).
Das Pferd kann hier auf einzigartige Weise als „Bewegungsgeber“ eingesetzt werden. Dies hat gerade bei Kindern mit neuromotorischem Defizit den Vorteil, dass man den oben genannten sekundären Problemen bzw. Folgeerscheinungen entgegenwirken kann, und dass sie auf dem Pferd physiologische Bewegung erleben können, ohne sich dabei übermäßig anstrengen zu müssen (was z. B. den Muskeltonus hypertoner Kinder weiter erhöhen würde).
Aufrichtungsimpuls und Gangtypisches Rumpftraining
Bei Klienten mit neuromotorischen Störungen sind Defizite in der Rumpf- und Kopfkontrolle primär durch den oft niedrigen proximalen Muskeltonus und ihre geringe proximale Muskelkraft bedingt. Dies hat i.d.R. zur Folge, dass diese Menschen ihren Rumpf über dem Becken und ihren Kopf über dem Rumpf nicht oder nur ungenügend in Aufrichtung statisch und / oder dynamisch stabilisieren können. Je weiter einzelne Körperabschnitte von der Schwerkraftlinie abweichen, desto größer sind die Hebel und somit die notwendige Muskelkraft, um diese Körperabschnitte zurück in Aufrichtung gegen die Schwerkraft zu bringen. Unter...