Prolog
»Der Betrieb Leipziger Baumwollweberei wird auf Grund des Volksentscheides vom 30.06.1946 zu Gunsten der Landesverwaltung entschädigungslos enteignet. Mit dem 30.06.46 24.00 Uhr erlöschen alle Ansprüche der ehemaligen Besitzer. Zum 1.07.46 wird Herr Alfred Döring als vorläufiger Leiter des Unternehmens eingesetzt. Seinen Anordnungen ist unbedingt Folge zu leisten.«
Dieser Bescheid des Amtes für Betriebsneuordnung des sächsischen Landkreises Rochlitz hing am 1. Juli 1946 am schwarzen Brett der Baumwollweberei AG in Wolkenburg1.
Mein Vater – von Stund an Leiter einer volkseigenen Weberei – hatte das Webereifach von der Pike auf gelernt. Nach der Volksschule durchlief er bei der Baumwollweberei Backofen & Söhne in Mittweida eine Lehrlingsausbildung.
In jener Firma hatte bereits seine Mutter, meine Großmutter Lina, zwanzig Jahre lang als Fabrikarbeiterin am Webstuhl gestanden. Sie war eine gütige Frau. Wenn wir sie in den Ferien besuchten und es Krach zwischen mir und meinem Bruder Günter gab, traf uns Omas Richterspruch: »Seid still, der eine ist einen Dreier wert, der andere drei Pfennig.«
Auch Urgroßmutter Anna, die über neunzig Jahre alt wurde, hatte ihr halbes Leben, stolze 43 Jahre, in der Weberei verbracht.
Meine Urgroßmutter Anna Händel (oben) und meine Großmutter Lina Döring (unten) während der Zeit des Ersten Weltkrieges im Websaal der Firma Backofen & Söhne
Ich habe die Tradition meiner Vorfahren als Leineweber und Tuchmacher im sächsischen Raum von Mittweida-Hainichen rund zweihundertfünfzig Jahre zurückverfolgen können. Der Großvater meines Urgroßvaters Friedrich Gottlob – so entnehme ich es der Ahnentafel zum »Ariernachweis« meiner Eltern – hatte als Tuchmacher seine Ware eigenhändig nach Leipzig zur Messe gekarrt und dort verkauft.
Mir klingt das laute Knattern der Webstühle bis heute in den Ohren. Es ist Teil meiner Kinder- und Jugendjahre. Nach Beendigung der achten Klasse verdiente ich bei einem Ferieneinsatz in der Weberei mein erstes eigenes Geld. Im Warenlager sortierte ich Tuchballen, katalogisierte Stoffmuster und lernte, die unterschiedlichen Gewebearten voneinander zu unterscheiden. Manchmal nahm mich der Meister mit in die Websäle.
Nach seiner Ausbildung begann mein Vater 1925 in der Möbelstoffweberei Ürtel, Rebling & Jähnig in Chemnitz – dem, wie es genannt wurde, »sächsischen Manchester«. Zur gleichen Zeit qualifizierte er sich an der Fachschule für Textiltechnik in einem Abendlehrgang von vier Semestern zum Textiltechniker. Später wechselte er zur Möbelstoffweberei Hohenstein Ernstthal, einem Zweigwerk der Firma Halpert & Co. Vom ersten Tag seiner Lehre an war er gewerkschaftlich organisiert und Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend. 1926 trat er der SPD bei.
Auch meine Mutter arbeitete bis zu ihrer Eheschließung am 16. Juni 1934 in einer Weberei – bei der Firma Schwarzkopf im kleinen Dorf Altmittweida. Nach der Heirat bezogen meine Eltern eine Wohnung in Hohenstein Ernstthal, wo am 20. Mai 1936 mein Bruder Günter das Licht der Welt erblickte und ein knappes Jahr später, am 11. Mai 1937, ich.
Als mein Vater 1943 in die Großenhainer Webstuhlfabrik zum Kriegsdienst verpflichtet wurde, wurden dort längst keine Webstühle mehr gebaut. Sie war wie die meisten Industriestätten Deutschlands in einen Rüstungsbetrieb umgewandelt worden.
Meinem Vater bereitete die Arbeit als technischer Zeichner im Konstruktionsbüro wenig Freude. Dennoch hatte es ihn ungleich besser getroffen als die meisten Männer in seinem Alter, die an der Front im Schützengraben hockten und als Kanonenfutter für die aggressive deutsche Großmachtpolitik herhalten mussten.
Ich kam im Jahr unseres Umzugs nach Großenhain zur Schule und erinnere mich noch gut an den Lehrer in SA-Uniform. Seine erste Amtshandlung bestand Tag für Tag darin, den Rohrstock aus dem Schrank zu holen und neben sich auf das Pult zu legen. Dass er denselben auch gebrauchen müsse, um uns zu Härte zu erziehen, stand für ihn außer Frage.
Zur Unterkunft war uns eine Wohnung im ehemaligen Stadtgut zugewiesen worden. Der Hof war seit vielen Jahren nicht mehr bewirtschaftet worden. Immerhin waren die Gebäude – Stallungen, Scheune und das eher bescheidene Gutshaus, das vormals der Verwalter bewohnt hatte – einigermaßen erhalten.
Eines Tages setzte große Geschäftigkeit ein: Auf dem Gutsgelände wurde ein Lager für sowjetische Kriegsgefangene eingerichtet. Die »Russen« mussten – bis auf den Sonntag – zwölf Stunden täglich in der ehemaligen Webstuhlfabrik für die Steigerung der Kriegsproduktion sorgen. Das Wachpersonal bestand aus nicht fronttauglichen Wehrmachtsangehörigen. Sie scheuchten uns Kinder auch nicht vom neu errichteten Stacheldrahtzaun weg, wenn die Kriegsgefangenen auf der anderen Seite des Zaunes Kontakt zu uns suchten. Manch kleines Spielzeug, in unbeobachteten Minuten in der Fabrik hergestellt, landete in unseren Händen.
Unsere Wohnung lag Wand an Wand mit den Wirtschaftsgebäuden, in denen die Kriegsgefangenen untergebracht waren. So kam es, dass Günter und ich, wenn wir abends in den Betten lagen, gelegentlich den schwermütigen Gesang der Kriegsgefangenen vernahmen – mein erster Kontakt mit der russischen Kultur.
Als schließlich ein italienisches Internierungslager auf dem Stadtgut hinzukam – im Gegensatz zum russischen ohne Stacheldrahtzaun –, lief sonntags schon einmal der ganze Hof zusammen, um beim russisch-italienischen Wechselgesang Not und Leid ein wenig zu vergessen.
Im Jahr 1944 wurde mein Vater schließlich doch noch zur Wehrmacht eingezogen und geriet kurz darauf in amerikanische Gefangenschaft.
Nachdem Großenhain am 22. April 1945 kampflos von der Roten Armee eingenommen worden war, richteten die Sowjets auf dem Gutsgelände eine Nachschubeinheit ein. Wie zuvor bei den Kriegsgefangenen waren wir Hofkinder auch bei den »aktiven« Rotarmisten gern gesehen. Unsere Berührungsängste waren schnell überwunden. Ich durfte zum ersten Mal auf einem Pferd sitzen. Es blieb das einzige Mal in meinem Leben. Die Russen hingegen, die Sowjetunion und später die Russische Föderation sollten mich ein Leben lang begleiten …
Als mein Vater am 30. Mai 1946 nach Großenhain heimkehrte, warteten bereits seine Genossen in der Industrieverwaltung Sachsen auf ihn. Sie glaubten, mit ihm den Richtigen gefunden zu haben, um die Wolkenburger Weberei nach der Enteignung wieder auf die Beine zu stellen. Ähnlich wie der Betrieb in Großenhain war die Fabrik an der Zwickauer Mulde in den Jahren des Krieges in einen Rüstungsbetrieb umgewandelt worden. Das Unternehmen war im Jahr 1943 dem Reichsluftfahrtministerium unterstellt und der Opta Radio AG die Genehmigung erteilt worden, ihre Rüstungsproduktion für Funk- und Radargeräte sowie Radiosonden nach Wolkenburg zu verlagern.
Die Webstühle wurden in aller Eile in umliegende Scheunen – unter anderem in die nahegelegene Schäferei Kaufungen – ausgelagert. Lediglich ein paar Dutzend Beschäftigte hielten bis zum Kriegsende die Gewebeproduktion aufrecht, während etwa vierhundert Zwangsarbeiter – vorwiegend Frauen aus den Konzentrationslagern Ravensbrück, Auschwitz und Bergen-Belsen – für die Rüstungsproduktion nach Wolkenburg geholt wurden. Sie kampierten in einem der etwa einhundert Außenlager des KZ Flossenbürg, das sich in unserem Ort befand. Als am 13. April 1945 amerikanische Truppen Wolkenburg besetzten, waren die KZ-Häftlinge zuvor bereits in einer Nacht-und-Nebel-Aktion abtransportiert worden.
»Der Junker und der Schlotbaron, sie stifteten den Weltbrand an. Den Junker jagte man davon, jetzt kommt der Andre auch noch dran! – Stimmt mit Ja!«, hieß es auf einem Handzettel zum Volksentscheid am 30. Juni 1946 in Sachsen. Die Wähler sollten die Frage beantworten: »Stimmen Sie dem Gesetz über die Übergabe von Betrieben von Kriegs- und Naziverbrechern in das Eigentum des Volkes zu?« Knapp 3,7 Millionen Bürgerinnen und Bürger, also über 93 Prozent der Stimmberechtigten, beteiligten sich an dem Volksentscheid, mehr als 77 Prozent von ihnen sprachen sich für das Gesetz aus. Daraufhin veranlassten die anderen Landesverwaltungen der sowjetischen Besatzungszone ebenfalls Enteignungen.
Fünf Monate später sollten auch in Hessen die Bürger über die Verfassung und separat über den Artikel 41 abstimmen, in dem es darum ging, Betriebe des Bergbaus, der Eisen- und Stahlerzeugung, der Energiewirtschaft und des Schienen- und Oberleitungstransportes in Gemeineigentum sowie Großbanken und Versicherungen in Staatsbesitz zu überführen. Diese separate Abstimmung erfolgte in der Hoffnung, dass sich dafür keine Mehrheit finden würde. Doch auch in Hessen stimmten 72 Prozent der Bevölkerung mit Ja. Diese Mehrheitsentscheidung wurde allerdings, wie in Westdeutschland nicht anders zu erwarten, nie umgesetzt.
Mit der Enteignung der Leipziger Baumwollweberei in Wolkenburg wurde die Aktiengesellschaft in einen volkseigenen Betrieb umgewandelt und der neu gegründeten Industrievereinigung Webereien in Mittweida unterstellt. Der bisherige Betriebsleiter Carl Schlesinger und der...