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E-Book

Putins Kalter Krieg

Wie Russland den Westen vor sich hertreibt

AutorMarkus Wehner
VerlagVerlagsgruppe Droemer Knaur
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783426438350
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Viele im Westen wollen es nicht wahrhaben - Russland hat einen neuen Kalten Krieg vom Zaun gebrochen. Den führt es auf allen Ebenen: propagandistisch, durch Angriffe auf westliche Webseiten und Computernetze, etwa die des deutschen Bundestages, und ganz real als kaum getarnten Schießkrieg an der östlichen Außengrenze der NATO in der Ukraine. Markus Wehner nimmt den Russland-Verstehern die rosarote Brille ab: Denn die Lage ist ernst, und der Westen muss handeln.

Markus Wehner, geboren am 24. August 1963 und aufgewachsen im Osthessischen, in der Bischofsstadt Fulda. Nach dem Abitur Studium der Osteuropäischen Geschichte, Politologie, Germanistik und Slawistik in Freiburg. Von dort zog es ihn in den Osten, zunächst nach Berlin, dann nach Moskau, wo er eine Weile als Übersetzer bei einer außenpolitischen Zeitschrift arbeitete. Seit der Öffnung der historischen Archive in Russland und in Ostdeutschland begann er dort eine rege Sucharbeit - unter anderem 1992/93 während eines einjährigen Forschungsaufenthaltes in Moskau. Seinen Niederschlag fand die Beschäftigung mit dem sowjetischen Stalinismus in zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen und in einer Doktorarbeit über die sowjetische Bauernpolitik in den zwanziger Jahren. Seit 1992 war er zudem freier Mitarbeiter der F.A.Z., vor allem für die Geisteswissenschaften und die Politischen Bücher. Im Oktober 1996 Eintritt in die Nachrichtenredaktion, wo er für deutsche Innenpolitik zuständig war, sich aber auch russischen Themen widmete. Von Oktober 1999 an war er fünf Jahre lang Korrespondent in Moskau. Seit Herbst 2004 ist er Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin.

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Leseprobe

2. Krieg dem Westen:
Russland und die farbigen Revolutionen


Putin in Panik


Es war der 10. Dezember 2011. Im Kreml war man schweißgebadet. In Moskau fand die größte Kundgebung seit den Neunzigerjahren statt. Hunderttausend Demonstranten forderten, die Ergebnisse der Parlamentswahl zu widerrufen, die wenige Tage zuvor stattgefunden hatte. Sie forderten die Entlassung des Wahlleiters, die Registrierung nicht zugelassener Oppositionsparteien und ein neues demokratisches Wahlgesetz. Die Demonstranten riefen »Für freie, ehrliche und gerechte Wahlen« und »Nieder mit Putin!«.

Die Proteste waren plötzlich gekommen, die politische Führung war auf sie nicht vorbereitet. Am 24. Dezember demonstrierten abermals 100000 bis 150000 Menschen auf dem Sacharow-Prospekt in Moskau. Die Führungsriege um Putin fürchtete, dass nun eintrete, was sie schon lange befürchtete: eine vom Westen gesteuerte farbige Revolution auch in Russland. Im Westen wird unter farbigen Revolutionen der Umsturz korrupter und autoritärer Regime durch Massenproteste der Zivilgesellschaft verstanden, deren Ausgangspunkt meist Wahlfälschungen sind. So war es 2004 in der Ukraine gewesen, die Protestbewegung hatte sich die Farbe Orange ausgesucht. Der Kreml sieht solche Revolutionen hingegen als vom Westen inszenierte Regimewechsel – dafür würden westliche Geheimdienste und politische Stiftungen Oppositionsgruppen in den jeweiligen Ländern anleiten und finanzieren.

Der Anlass für die vom Kreml befürchtete farbige Revolution waren Fälschungen bei der Duma-Wahl am 4. Dezember 2011. Laut Nachwahlumfragen und statistischen Berechnungen wurden der Kreml-Partei »Einiges Russland« mindestens acht Prozentpunkte der Stimmen mehr berechnet, als sie erhalten hatte, manche Beobachter glaubten sogar an 15 Prozent. So kam »Einiges Russland« wohl nur auf 34 bis 41 Prozent, erhielt aber offiziell 49 Prozent der Stimmen – das waren immer noch deutlich weniger als 64 Prozent aus dem Jahr 2007.

Zehntausende Wahlbeobachter, einige Tausend davon von der Nichtregierungsorganisation »Golos« (Stimme), registrierten eine hohe Zahl von Unregelmäßigkeiten und Verstößen gegen das Wahlgesetz. Unabhängige Wahlbeobachter waren in Moskau und anderen Städten aus den Wahllokalen gedrängt worden, im Internet wurden Berichte über Wahlfälschungen verbreitet. Offenbar wurde, um zusätzliche Stimmen zugunsten von Putins Partei »Einiges Russland« zu zählen, auch die Wahlbeteiligung nach oben gefälscht. Schon am Abend des 5. Dezembers, also einen Tag nach der Wahl, hatten sich 10000 Menschen in Moskau am Denkmal des Dichters Gribojedow versammelt, um gegen die Fälschungen zu protestieren. Putin sah die Amerikaner als Initiatoren der Proteste. Die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton hatte die Wahl am 6. Dezember beim Ministertreffen der OSZE-Staaten im litauischen Vilnius als »nicht frei und nicht fair« bezeichnet. Putin sagte zwei Tage später: »Sie hat einigen Akteuren bei uns im Land den Ton vorgegeben, sie hat ein Signal gegeben. Dieses Signal haben sie gehört und sind daraufhin, mit Unterstützung des US-State Department, aktiv geworden.«[12]

Fälschungen hatte es auch schon bei früheren Wahlen in Russland gegeben, sie waren diesmal nicht größer. Doch nun herrschte eine veränderte Stimmung. Die abermalige Kandidatur von Wladimir Putin, der Ministerpräsident war, für die Präsidentenwahl und der Rückzug des Präsidenten Medwedjew waren ein offensichtlich abgekartetes Manöver. Am 24. September hatten beide auf dem Parteitag von »Einiges Russland« ihren Ämtertausch verkündet. Dass beide Politiker diesen Deal offen zur Schau stellten, war vielen Bürgern in den großen Städten zu viel der politischen Bevormundung. Jene, die auf den liberaleren Medwedjew ihre Hoffnungen gesetzt hatten, sahen sich enttäuscht – ihr Präsident, so sahen sie es nun, hatte nie unabhängig sein wollen, sondern war nur eine Marionette Putins gewesen. Das ganze Manöver hatten die beiden, so sagte Medwedjew auf dem Parteitag, schon abgesprochen, noch bevor er Präsident wurde. Manches spricht dafür, dass das in Wirklichkeit nicht so war, dass Medwedjew vergeblich versucht hatte, sich von Putin zu emanzipieren. Doch entscheidend war, wie er und Putin die Sache jetzt darstellten.

Ob dieses Gefühl, nur Zuschauer in einem zynischen Machtspiel zu sein, für die Demonstrationen verantwortlich war, lässt sich schwer einschätzen. Es spielte jedenfalls eine entscheidende Rolle für die veränderte öffentliche Stimmung in den demokratisch und oppositionell orientierten Schichten in Moskau und St. Petersburg. Putin wurde im November am Rande einer Kampfsport-Veranstaltung erstmals öffentlich ausgepfiffen. Doch es war nicht nur die Enttäuschung über Putin und Medwedjew, die Leute dazu gebracht hatte, nicht für »Einiges Russland« zu stimmen. Für das schlechte Abschneiden der Kreml-Partei gab es auch andere Gründe. Putin selbst hatte die Direktwahl der Gouverneure abgeschafft, populäre regionale Führer, die in der Kreml-Partei waren und die bisher die Wähler an die Wahlurnen gebracht hatten, wurden durch weniger beliebte Kandidaten ersetzt. Auch war es dem Kreml nicht gelungen, Wähler durch eine nationalistische Kampagne zu mobilisieren – der inszenierte Streit um die Kurilen-Inseln mit Japan hatte nicht gezündet.

Hinzu kam die Kampagne des Oppositionspolitikers Alexej Nawalnyj. Er hatte die Bürger dazu aufgerufen, zur Wahl zu gehen und ihre Stimme abzugeben, aber auf keinen Fall die Kreml-Partei »Einiges Russland« zu wählen – denn die sei »die Partei der Gauner und Diebe«. Nawalnyj nannte als sein Ziel, dass Russland ein normaler demokratischer Staat werde, in dem die Regierung durch ehrliche Wahlen bestimmt werden müsste. Für seine Kampagne benutzte er hauptsächlich das Internet, das vom Staat noch nicht vollständig kontrolliert wird. Die Zahl der hauptsächlich jungen Nutzer in Russland stieg von rund drei Millionen im Jahr 2000 auf 52 Millionen im Jahr 2012, das sind rund 40 Prozent der gesamten Bevölkerung. Doch unabhängig davon, ob die Bürger das Internet nutzten – der Begriff von der Partei der Gauner und Diebe machte rasch die Runde, entsprach den Erfahrungen vieler. Zeitweilig stimmte fast die Hälfte der Befragten nach Umfragen des Moskauer Lewada-Zentrums dieser Charakterisierung zu. Das Image der Kreml-Partei war angeschlagen.

Allerdings hätte selbst ohne Wahlfälschungen keine politische Umwälzung stattgefunden. Denn wirklich oppositionelle Parteien hatten bei der Wahl keine Chance, scheiterten an der Sieben-Prozent-Hürde oder waren gar nicht erst zugelassen worden. Gab es im sogenannten Protestwinter Ende 2011 und Anfang 2012 also eine revolutionäre Stimmung in Russland? Das lässt sich mit ziemlicher Sicherheit verneinen. Hunderttausend Demonstranten sind für eine Stadt mit mehr als zehn Millionen Einwohnern kein Volksaufstand, erst recht in einem Land mit mehr als 140 Millionen Einwohnern. In anderen Städten kam es – mit Ausnahme von St. Petersburg – nur zu kleinen Demonstrationen. Auch zeugt der Charakter der Demonstrationen in Moskau kaum davon, dass hier eine Menschenmenge mit ähnlichen politischen Zielen auf die Straße gegangen war. Zwar waren die Demonstranten in ihrer Mehrzahl Anhänger oppositioneller Parteien und Bewegungen. Neben jenen, die für eine liberale Demokratie demonstrierten, fanden sich aber auch Monarchisten und strenggläubige orthodoxe Christen, Kommunisten und Stalinisten oder auch Aktivisten, die für die Rechte Homosexueller eintraten. Und auch die Anführer der Bewegung, wie der Blogger und Anti-Korruptionskämpfer Alexej Nawalnyj und Sergej Udalzow von der »Linken Front«, waren kaum geeignet, Massen zu mobilisieren – zumal sie untereinander zerstritten waren. Viele junge Menschen genossen einfach den Happening-Charakter der Demos.

In jedem demokratischen Staat hätte die politische Führung gelassen auf solche Demonstrationen reagiert, abgewartet, einen Dialogprozess begonnen. Nicht so der Kreml. Er reagierte weder rational noch pragmatisch, sondern panisch. Putin verstand die Proteste als einen persönlichen Affront, als Versuch, ihn zu stürzen. Zudem sah er seinen Ruf als Garant der Stabilität erschüttert, auf den die politische Elite des Landes bisher gesetzt hatte. Hatten nicht auch die anderen farbigen Revolutionen in Georgien und der Ukraine mit Protesten gegen Wahlfälschungen begonnen? Entwickelte sich hier nicht das gleiche Szenario?

Die Analyse, die das Zentrum für strategische Analysen unter Leitung des Ökonomen Michail Dmitrijew anstellte, bestärkte den Kreml in seiner Furcht. Das Zentrum sah die Demonstrationen darin begründet, dass eine wachsende Mittelschicht in den russischen Großstädten auf politische Mitsprache drang. Schon jetzt sei in Russland ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung dieser Mittelschicht zuzurechnen, sie werde in wenigen Jahren fast die Hälfte ausmachen und bis zum Jahr 2020 die Mehrheit der Bevölkerung stellen.

Das Institut wagte weitreichende Prognosen: Die politische Krise werde sich in den beiden folgenden Jahren vertiefen, die Opposition werde wachsen. Wenn es keine freien Wahlen gebe oder wenn eine Wirtschaftskrise eintrete, könne es zu einer offenen Konfrontation mit dem herrschenden System kommen. Das...

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