Vorwort von Rainer Funk
Sigmund Freud hat als erster Wissenschaftler zu Beginn dieses Jahrhunderts den Versuch gemacht, wissenschaftliche Zugänge zur Realität des Unbewussten beim einzelnen Menschen zu erschließen und Wege des Umgangs mit den unbewussten Kräften zu finden. Ausgehend von diesen noch heute gültigen Erkenntnissen begann Erich Fromm bereits Anfang der Dreißiger Jahre, Zugänge zum Unbewussten der Gesellschaft zu suchen. Dies gelang ihm dadurch, dass er im Einzelnen jene psychischen Strukturen und Kräfte zur Entdeckung brachte, die sich aus der gesellschaftlichen Situiertheit des Einzelnen ergeben, den Einzelnen entsprechend seiner gesellschaftlichen Zugehörigkeit ähnlich denken, fühlen und handeln lassen und so sozialpsychologische Aussagen über die psychische Struktur und das Unbewusste der Gesellschaft erlauben. Die wichtigsten theoretischen Beiträge zur Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie schrieb Fromm zwischen 1929 und 1934.[1]
Fromm verfolgte in seinem gesamten wissenschaftlichen Werk das Ziel, die psychische Dynamik der Vielen und das Unbewusste gesellschaftlicher Größen aufzudecken und das Individuum als ein primär soziales Wesen zu verstehen. Dieser Versuch zeigte ihm aber bald die Grenzen einer mechanistisch verstandenen Triebtheorie, mit deren Hilfe Freud seine Entdeckungen in einen systematischen Erklärungszusammenhang gebracht hatte. Fromm erkannte, dass es wichtige Antriebskräfte im Menschen gibt, für die die von der Libidotheorie bestimmte Triebtheorie Freuds gerade keine plausible Erklärung bot.
War Fromms Blick seit seinem Soziologiestudium und seiner 1922 eingereichten Dissertation (Das Jüdische Gesetz, 1989b) bereits für die gesellschaftlichen Determinanten sozialpsychologischer Zusammenhänge geschärft und hatten ihm die Diskussionen am Institut für Sozialforschung in Frankfurt über eine Synthese von Marxismus und Psychoanalyse ein wichtiges Begriffsinstrumentarium zur Ausformulierung seiner sozialpsychologischen Theorie in die Hand gegeben, so waren es neben seinen Erfahrungen mit Patienten Mitte der Dreißiger Jahre vor allem die kulturanthropologischen Einsichten und die Forschungen zum Matriarchat, die ihn in die Offensive gegen die von Freud formulierte Triebtheorie gehen ließen.
Im Jahr 1935 erschien der provozierende und Freud kritisierende Beitrag Die gesellschaftliche Bedingtheit der psychoanalytischen Therapie in der Zeitschrift für Sozialforschung (1935a, GA I, S. 115-138). Der Aufsatz rief ein geteiltes Echo hervor. Der orthodoxen Psychoanalyse gerade deutscher Provenienz, die sich inzwischen unter die Fittiche des Nationalsozialismus begeben hatte, lieferte Fromm mit diesem Beitrag ein weiteres Argument, sich von dem Juden und Marxisten Fromm zu distanzieren. Aber auch am Institut für Sozialforschung, das seit 1934 durch Fromms Mithilfe an der Columbia University in New York untergekommen war, stieß sein Neuansatz auf wenig Gegenliebe und leitete die Entfremdung zwischen Horkheimer und Fromm ein, die schließlich 1939 zum Ausscheiden Fromms aus dem Institut für Sozialforschung führte. Lebhaftes Interesse weckte Fromm hingegen vor allem bei einem Kreis von Psychoanalytikern, die mit Harry Stack Sullivan in Verbindung standen, sowie bei kulturanthropologisch ausgerichteten Psychologen und Soziologen.
Fromm übte in dem Artikel zur gesellschaftlichen Determiniertheit der Freudschen Therapie vor allem an der klinischen Anwendung der Psychoanalyse Kritik. Hier positionierte er sich eher an einem Therapieverständnis, das Sándor Ferenczi repräsentierte. Sein Unbehagen machte sich aber zunehmend daran fest, wie Freud mit seiner Libidotheorie die Triebhaftigkeit des Menschen erklärte. Das mechanistische Denken Freuds war für Fromm zunehmend ungeeignet, den Menschen als ein Beziehungswesen zu begreifen. Dies aber legte sich nicht nur von den psychiatrischen Erkenntnissen Sullivans nahe, sondern auch von den kulturanthropologischen und soziologischen Forschungen und Erkenntnissen einer Ruth Benedikt oder Margaret Mead, mit denen Fromm in wissenschaftlichem Kontakt stand.
Bereits im Sommer 1936 machte sich Fromm während eines Aufenthaltes in Mexiko an die Ausformulierung seiner eigenen triebtheoretischen Anschauungen. Dann arbeitete er monatelang im Herbst und Winter 1936/1937 an einem „grundsätzlichen Aufsatz“, mit der er das libidotheoretische Paradigma zur Erklärung der psychischen Antriebskräfte durch ein bezogenheitstheoretisches ersetzte. Die meisten psychischen Erscheinungen (Gefühle, Strebungen, Fantasien, Leidenschaften usw.) des Menschen seien aus seiner sozialen Bezogenheit zu erklären, und nicht aus einer sexuellen Triebnatur, die einer mechanischen Logik von Spannung und Entspannung, Lust und Unlust folgt. Auch sei der Mensch als ein primär soziales Wesen zu begreifen, und nicht als ein selbstgenügsames.[2]
So kommt Fromm zu der Erkenntnis, dass die meisten psychischen Antriebskräfte nicht im Sexualtrieb gründen und keine Abkömmlinge der von Freud beschriebenen Libidoentwicklung sind, sondern ihre Entstehung als psychische Antriebskräfte den Erfordernissen des gesellschaftlichen Zusammenlebens verdanken. Davon handelt der erste Beitrag dieses Bandes mit nachgelassenen Schriften; er trägt den Titel Die Determiniertheit der psychischen Struktur durch die Gesellschaft. Zur Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie (1992e).
Der Beitrag sollte in der Zeitschrift für Sozialforschung, dem Publikationsorgan des Instituts für Sozialforschung, veröffentlicht werden. Doch anders, als dies Fromm erwartete, fiel sein sozial-psychoanalytischer Ansatz bei einer Besprechung am 7. September 1937 bei Horkheimer und anderen Institutsmitgliedern in Ungnade. Er wurde nie veröffentlicht und galt als verschollen.
Es gelang mir, den als verschollen geglaubten Aufsatz im Frühjahr 1991 unter jenem Teil des Nachlasses, den Fromm in den fünfziger Jahren der New York Public Library zur Aufbewahrung gegeben hatte, zu finden. Die Archivare der New Yorker Bibliothek hatten das deutsch verfaßte Manuskript einem unbekannten Autor zugeordnet, doch ist Fromm ganz zweifelsfrei der Verfasser und ist der Beitrag identisch mit dem 1937 erstellten „grundsätzlichen Aufsatz“.
Dem Beitrag Die Determiniertheit der psychischen Struktur durch die Gesellschaft (1992e) kommt aus verschiedenen Gründen eine ganz besondere Bedeutung zu: Zum einen ist dieser Aufsatz ein Herzstück der sozialpsychologischen und psychoanalytischen Theorieentwicklung bei Fromm, das meines Erachtens das Verständnis des Frommschen Ansatzes wesentlich erleichtert und für die Fromm-Forschung von epochaler Bedeutung ist. [3] Schließlich macht der Beitrag auch plausibel, warum Fromm einen eigenen Weg in der Psychoanalyse ging, ja gehen musste, und zeigt, dass dieser Weg noch heute Aktualität besitzt. Zum anderen macht er sehr viel besser verständlich, warum die Mitglieder des Instituts, die als Nicht-Psychoanalytiker ein vorrangiges Interesse an der ideologiekritischen Funktion der orthodoxen psychoanalytischen Triebtheorie hatten, nicht bereit waren, die Neuformulierung der psychoanalytischen Theorie durch Fromm mitzuvollziehen, und sich mehr und mehr von Fromm distanzierten.
Gleichsam als Ergänzung zum Aufsatz von 1937 folgt im zweiten Beitrag dieses Bandes unter der Überschrift Psychische Bedürfnisse und Gesellschaft (1992f) die Teilwiedergabe eines Vortrags zu Fromms Bedürfnislehre, wie er sie in seinem Buch Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a, GA IV, S. 20-50) ausgeführt hat.
Fromms Neuformulierung der psychoanalytischen Theorie hat weitreichende Konsequenzen. Im Aufsatz von 1937 formuliert Fromm: „Die Gesellschaft ist nichts als die lebendigen, konkreten Individuen, und das Individuum kann nur als vergesellschaftetes Individuum leben.“ Fromm selbst hat die Auswirkungen seines sozial-psychoanalytischen Ansatzes auf die therapeutische Praxis nur in Ansätzen in Veröffentlichungen verdeutlicht. Er war zwar über Jahrzehnte Lehr- und Kontrollanalytiker und bildete mehrere Generationen von Analytikerinnen und Analytikern in New York und Mexiko aus, doch spiegelte sich diese Tätigkeit nicht in seinen Publikationen. Von den klinisch relevanten Vorträgen, die sich (meist in Nachschriften) erhalten haben, gibt es drei Vorlesungstranskripte aus einer Serie von vier Vorträgen, die Fromm 1959 am William Alanson White Institute in New York hielt. Sie werden in diesem Band erstmals unter dem Titel Das Unbewusste und die psychoanalytische Praxis (1992g) veröffentlicht. Die drei Vorlesungen vermitteln einen sehr guten Einblick in Fromms besonderen Umgang mit den Patienten und sein in vielen Hinsichten völlig anderes Verständnis von psychoanalytischer Praxis. Anders als in dem ebenfalls posthum veröffentlichten Transkript eines Seminars zur therapeutischen Praxis, das Fromm 1974 in Locarno für amerikanische Studierende gegeben hat und unter dem Titel Von der Kunst des Zuhörens (1991a) veröffentlicht wurde, geben diese Vorlesungen von 1959 erstmals systematisch Fromms Positionen in diesem zentralen Anwendungsbereich der Psychoanalyse wieder und werden für viele psychoanalytisch Versierte und therapeutisch Interessierte eine echte Entdeckung sein.
Der Band wird mit dem Beitrag Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Zukunft (1992h) abgeschlossen. Dieser gibt einen Vortrag wieder, den Erich Fromm am 24. Mai 1975 zur Eröffnung eines Symposiums anlässlich seines 75. Geburtstags in Locarno-Muralto gehalten hat. Nur mit Hilfe von ein paar Stichpunkten hatte Fromm fast zwei...