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SPIEGEL-Gespräche mit Helmut Schmidt

Ein SPIEGEL E-Book

VerlagSPIEGEL-Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl300 Seiten
ISBN9783877631553
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
Kein deutscher Kanzler war auf das Amt so gut vorbereitet wie Helmut Schmidt. Schließlich hatte er zuvor mehrere Ministerposten eingenommen. Und doch fürchtete er sich vor der Aufgabe, als er sie 1974 übernahm - und meisterte sie mit Bravour. Ob Terrorismus, Weltwirtschaftskrise, Kalter Krieg: Aus Sicht vieler Deutscher war Schmidt der beste Regierungschef, den wir je hatten. Nach seinem Sturz 1982 folgte eine beinahe ebenso spektakuläre zweite Karriere als Altkanzler. Der Hamburger stieg zur unbestrittenen Autorität in fast allen politischen Fragen auf. Der SPIEGEL hat den Lebensweg Schmidts mit Sympathie, aber auch Kritik begleitet. Dieses E-Book versammelt die 24 besten Gespräche und Interviews mit ihm aus über vier Jahrzehnten.

Klaus Wiegrefe, geboren 1965, ist Autor des SPIEGEL. Der promovierte Historiker ist dort für den Bereich Zeitgeschichte zuständig und Verfasser zahlreicher Beiträge zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.

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Leseprobe
DER AUFSTIEG • SPIEGEL 1-2/1971

„Ohne Macht kann man nicht reformieren“


SPIEGEL-Gespräch mit dem stellvertretenden SPD-Vorsitzenden, Verteidigungsminister Helmut Schmidt
SPIEGEL: Herr Minister, wir haben ja in Deutschland, Gott sei Dank, keinen Spiro Agnew, aber wir haben einen Helmut Schmidt. Und dem wird vorgeworfen, daß er verunsicherten Kleinbürgern nach dem Munde redet, daß er, wie Wehner auf dem Jungsozialisten-Kongreß in Bremen sagte, lästerliche Reden gehalten hat. Sind Sie der Champion der SPD für Law and Order?
Schmidt: Was Herbert Wehner gemeint haben könnte, muß er Ihnen selber erläutern, das ist nicht meine Sache. Ihnen wäre ich dankbar, wenn Sie mir konkret sagen würden, wo der Schmidt sich für „Law and Order“ eingesetzt hat.
SPIEGEL: Vielleicht meinen Wehner und wir dasselbe, nämlich Ihre Äußerungen vor dem SPD-Parteirat im Februar 1969. Da haben Sie von Versumpfung der Landschaft und moralischer Knochenerweichung gesprochen und zugleich davon, daß auch die Demokratie Führer brauche und daß es darum gehe, 25 oder 30 Millionen verunsicherten Kleinbürgern wieder die Sicherheit zu geben, ihre Volkswagen würden nicht umgeworfen.
Schmidt: Mein Diskussionsbeitrag im Parteirat bezog sich auf die Situation von 1969 und wurde in einem Bundestags-Wahljahr formuliert. Die Sozialdemokratische Partei, die die Gesellschaft und den Staat und seine Institutionen verändern will, muß ja zugleich das Kunststück vollbringen, das Vertrauen von mehr als 50 Prozent der Wähler zu erringen und zu erhalten. Das heißt: Die politisch Führenden dieser Partei müssen einerseits die eigenen und die zukünftigen Wähler, die man dazugewinnen will, in dem, was ihnen an Veränderung des Bestehenden als politisch wünschenswert vorgestellt wird, soweit wie möglich fordern, aber sie andererseits nicht so weit überfordern, daß sie sich aus Konservativismus zurückwenden zur CDU/CSU.
SPIEGEL: Damals haben Sie von der wünschenswerten Veränderung des Bestehenden nichts gesagt. Sie haben gegen „gewisse Leute“, die ja auch verändern wollten, ein bewußt gehandhabtes Prinzip strafrechtlicher Abschreckung gefordert und Richtern und Staatsanwälten vorgeworfen, daß sie die Gesetze nicht zügig anwenden.
Schmidt: Ich bin der Meinung, daß solche Gesetze, die staatliche Behörden zum Handeln auffordern, auch befolgt werden müssen. Es ist ein Unterschied zwischen einem Gesetz, das einer Behörde anheimgibt, nach Opportunität zu verfahren, und einem Gesetz, das eine Behörde anweist, das eine zu lassen oder das andere zu tun. Personen, die von Staats wegen Macht ausüben, müssen sich in ihrem Verhalten nach dem richten, was im Gesetz steht. Alles andere liefe darauf hinaus, Machtpositionen unkontrolliert benutzen zu lassen.
SPIEGEL: Warum werden Sie innerhalb Ihrer Partei von einigen Leuten angegriffen?
Schmidt: Zum Beispiel mein entschiedenes Eintreten für die Große Koalition 1966 trägt mir noch heute einiges an Gegnerschaft in der Partei ein. Zumal ich nicht zu denen gehöre, die ihr Mitmachen bei der Großen Koalition öffentlich vergessen machen wollen.
SPIEGEL: Ihr Parteifreund Wehner und die Jungsozialisten haben offenbar den Eindruck, daß Sie rigoros nach links abblocken und nach rechts den Kleinbürger streicheln.
Schmidt: Was den Kleinbürger angeht, so würde ich es für völlig falsch halten, ihn zu streicheln, ihn einzulullen. Bis zu einem gewissen Grade ist es sogar dringend notwendig, ihn unsicher zu machen hinsichtlich der ihm vertraut gewesenen Umwelt, denn ohne ein gewisses Maß an Unsichermachen ist es ja nicht möglich, ihn zum kritischen Urteil über das bisher vertraut Gewesene zu bringen. Aber eine Sicherheit darf ich ihm nicht nehmen: daß das Neue, was die Sozialdemokratische Partei an die Stelle des Vertrauten zu setzen verspricht, nicht nur möglich ist, sondern daß es für alle vorteilhaft ist und für ihn nicht das Ende seiner Existenz bringt.
SPIEGEL: Darin würden Ihnen wohl sogar die Jungsozialisten zustimmen. Dennoch gelten Sie bei den Jusos als Rechter. Wären Sie zum Juso-Kongreß nach Bremen gegangen, hätten Sie damit rechnen müssen, ausgebuht zu werden. Wie erklären Sie sich das?
Schmidt: Zunächst einmal halte ich es für unzulässig, „die“ Jungsozialisten als eine einheitliche politische Position aufzufassen. Es gibt weit über 100 000 junge Sozialdemokraten im Jungsozialistenalter, und nur ein relativ kleiner Prozentsatz von ihnen hat sich in den Jungsozialistengruppen zusammengetan. Viele politisch sehr aktive junge Sozialdemokraten sind außerhalb dieser Gruppen tätig. Und selbst der relativ kleine Teil, der sich in Jungsozialistengruppen organisiert, hat unter sich durchaus verschiedene Auffassungen zu verschiedenen Fragen.
SPIEGEL: Zugegeben, aber die Mehrheit der Jusos, die Mehrheit der gewählten Delegierten in Bremen hätte Ihnen bei dem Kongreß einen unfreundlichen Empfang bereitet.
Schmidt: Wenn es so gekommen wäre – das steht ja nicht fest –, hätte es an Vorurteilen gelegen, die der eine oder andere und manche miteinander über meine politische Position verbreiten. Und im übrigen glaube ich nicht, daß jemand, der konkret politisch denken und auch argumentieren will, im Ernst einer Diskussion mit mir ausweichen würde.
SPIEGEL: Norbert Gansel sagte, im Parteipräsidium gebe es außer Wehner, Brandt und Wischnewski nur eine reaktionäre Masse. Nun bestreiten Politiker heute gern, daß es rechte und linke Flügel überhaupt gibt. Aber ist es nicht doch so, daß es in Ihrer Partei eine rechte Mehrheit gibt und daß sie in Ihnen ihren Mann sieht?
Schmidt: Ich gehöre zu denjenigen, die sich immer gegen die Tendenz zur Gruppenbildung innerhalb der eigenen Partei gewehrt haben. Von einer rechten Flügelbildung in diesem Sinne, insbesondere wenn sie gleichgesetzt wird mit der Mehrheit in der SPD, wie Sie es eben taten, kann man gegenwärtig – und ich füge hinzu: Gott sei Dank – nicht sprechen.
SPIEGEL: Aber von markanten Gegensätzen wird man wohl sprechen dürfen.
Schmidt: Was ich für mich gelten lassen würde, ist die ausgesprochene Überzeugung, daß die Sozialdemokratische Partei Deutschlands in die Lage versetzt werden muß, aus eigener Kraft, gestützt nur auf die Mandate ihrer eigenen Fraktionskollegen, eine Regierung im Deutschen Bundestag zu bilden. Das ist mein Ziel gewesen, seit ich dieser Partei zugehöre. Damit es erreicht werden kann, ist notwendig, die Sozialdemokratische Partei wählbar zu machen und wählbar zu halten für ausreichend viele Personen, das heißt über die 50 Prozent hinaus. Ob man diese Personen als rechts, links, oben oder unten einstuft, ist im Augenblick kein brennendes politisches Problem.
SPIEGEL: Sind Sie der kompromißlose Pragmatiker der SPD, der auf die Veränderung gesellschaftspolitischer Verhältnisse verzichtet, um konservative Wähler zu gewinnen?
Schmidt: Wenn eine politische Partei danach strebt, die Mehrheit im Lande zu erringen, ist das kein Pragmatismus, sondern der Daseinszweck einer politischen Partei in einem parlamentarischen Staatssystem. Weiter: Was mich angeht, kann von einem Verzicht auf den Versuch, die Gesellschaft und den Staat und seine Institutionen zu verändern, überhaupt keine Rede sein. Ich halte es hier mit Herbert Wehner, und wir halten es beide mit Max Weber, der das Wort von der Notwendigkeit des Augenmaßes für einen Politiker zuerst geprägt hat. Augenmaß für das, was jeweils möglich ist.
SPIEGEL: Oder nötig ist.
Schmidt: Es gibt Leute, die das im Augenblick Mögliche für weniger nötig halten und sich lieber mit Fernzielen oder gar mit Endzielen beschäftigen. Andere und ich selbst halten Fern- oder Endziele für etwas unverzichtbar Notwendiges, an dem sie ihre augenblicklichen Schritte orientieren, legen aber besonderes Gewicht darauf, die augenblicklichen Schritte genauso groß zu tun, wie es nur gerade eben geht, aber nicht größer, als es geht. Um zum Beispiel nicht Gefahr zu laufen, daß sie entweder Stimmen verlieren oder daß sie Versprechungen machen, die sie im Laufe einer Legislaturperiode nicht verwirklichen können. Ich würde es für unzulässig halten, jemand als „bloßen“ Pragmatiker abzustempeln, weil er immer gerade die Schritte tut, die eben noch möglich sind, und nicht zugleich über das große Ziel spricht. Genauso würde ich es für unzulässig halten, denjenigen, der seine Aufmerksamkeit auf das Fernziel richtet, deswegen als Nichtpolitiker abzustempeln. Ich gehöre nicht der Denkrichtung an, die sich etwa den Wahlspruch zu eigen macht, das Ziel sei nicht wichtig, der Weg sei alles.
SPIEGEL: Aber dabei kommt es zu Zielkonflikten. Es könnte sein, daß gewisse Fragen keinen Aufschub mehr dulden und gelöst werden müssen, man sie aber gleichwohl nicht glaubt anpacken zu können, weil man Rückschläge bei den Wählern befürchtet.
Schmidt: Können Sie mir ein praktisches Beispiel für eine Frage geben, die aus Rücksicht auf irgendwelche Wählergruppen nicht angepackt wird, obwohl sie eigentlich keinen Aufschub duldet?
SPIEGEL: Sind Sie der Meinung, daß beispielsweise das Eigentum an Grund und Boden stärker eingeschränkt werden muß als bisher?
Schmidt: Ja. Im Prinzip muß die soziale Bindung des Eigentums an Grund und Boden in der Praxis des Bundes, der Länder und...
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