Hanno Rauterberg
Brief eines Lesers (12)
Was macht die Kunst? Sie macht, das hat sich herumgesprochen, ein Vermögen. Geschätzte 50 Milliarden Euro konnten die Galerien, Auktionen und Messen 2014 umsetzen, denn es gilt die Regel: Je schlechter die Weltwirtschaft dasteht, desto besser steht es um die Kunst. Sie ist ein Krisengewinnler, produziert einen Millionenrekord nach dem nächsten, sie wird zum ultimativen Statussymbol einer postfordistischen Gesellschaft.
Natürlich bleibt die fast schon hysterische Ökonomisierung des Kunstfelds nicht ohne Folgen für die Macht der Ästhetik. Neben den glanzvollen Auktionsergebnissen erscheint die Kunst oft seltsam ermüdet und ausgehöhlt. Sie hat eine schlagende Konkurrenz bekommen. Denn, so formuliert es der Theoretiker Jörg Scheller, der Markt beginnt sich als ein eigenes Artefakt zu begreifen. »Mehr noch, er wird autonom, er beerbt die in die Jahre gekommene autonome Kunst. Was Mittel war, wird zum Zweck.«
Die Folgen sind oft Ratlosigkeit und Depression, abgemischt mit einer gehörigen Portion Bigotterie, wie sich auf der Biennale in Venedig im Sommer 2015 beobachten ließ. Im Zentrum der gewaltigen Kunstausstellung stand kein Bild, keine Skulptur oder Installation, sondern ein schwarzer leerer Raum, ein Auditorium, in dem neben einigen musikalischen Einlagen vor allem das Kapital von Karl Marx verlesen wurde, alle Bände von der ersten bis zur letzten Seite. Arrangiert und organisiert wurde die Lesung von dem Künstler Isaac Julien, offenbar ein engagierter Antikapitalist. In einem Nebenraum unterhielt er sich, dargeboten auf großen Bildschirmen, mit dem Marxisten David Harvey über die Abgründe des Neoliberalismus. Zugleich präsentierte Julien auf der Biennale seinen neuen Film, in Auftrag gegeben von Rolls-Royce. Offenbar gehört es zu den hinnehmbaren Nebenwidersprüchen der Gegenwartskunst, einerseits die wachsende Ungleichheit zu beklagen und zugleich von ihr zu profitieren.
Entsprechend doppelzüngig kommen mir manche der Aussagen Okwui Enwezors vor, der in München das Haus der Kunst leitet und als Kurator die Biennale ins Werk gesetzt hatte. Einerseits beschwört er in seinen Katalogbeiträgen die hellseherische Macht der Kunst. Andererseits sieht er sie in heilloser Ohnmacht gefangen. Mit Blick auf die 120-jährige Geschichte der Biennale erinnert er daran, wie eilfertig diese oft mit den Mächtigen paktierte, vor allem mit den Faschisten. Auch heute, so Enwezor, habe sich das Kunstsystem in »stillschweigendem Einverständnis« mit den Interessen des Kapitals arrangiert und seine Autonomie ebenso eingebüßt wie jede Art von transformierender Kraft. Enwezor spricht von »vollständiger Machtlosigkeit«.
Was also macht die Kunst, was bleibt ihr anderes übrig, als sich nach neuen Geschäftsmodellen umzuschauen? War sie bislang dem Ideal eines Angebotsmarkts verpflichtet, setzt sie nun, so kommt es mir vor, auf das Prinzip der Nachfrage und findet nichts dabei, den Wünschen und Begehrlichkeiten ihrer Kunden zu entsprechen. Mal sind es Kuratoren, mal reiche Sammler, mal Museen, die als Patrone fungieren und damit eine Form der Kunstproduktion reetablieren, die über weite Strecken der Moderne ausgeschlossen schien, weil sie gegen das Reinheitsgebot der Autonomie verstieß. Ich nenne es die Wiederkehr der Auftragskunst. Selbst ein Maler wie Michaël Borremans, eigentlich als eigensinniger Geist bekannt, lässt sich für ein Auftragswerk im neohöfischen Sinne gewinnen, wenn er auf Bitten des Händlers und Sammlers Axel Vervoordt dessen Reitpferd auf die Leinwand bringt, lebensgroß und naturgetreu.
Gebraucht werden die Künstler aber nicht nur für Ausstattungszwecke. Sie dienen auch als Reputationsbeschaffer, als Produktveredler, als Bedeutungsgaranten. Sogar einem Wäscheunternehmen wie Schiesser scheint es nun hilfreich und angemessen, ein Doppelrippunterhemd für Herren künstlerisch aufwerten zu lassen. Das Unternehmen lud 2012 zehn namhafte Künstler dazu ein, dem üblicherweise verdeckt getragenen Kleidungsstück zu markanter Sichtbarkeit und einem neuen Image zu verhelfen. Tobias Rehberger, Marc Brandenburg, Monica Bonvicini oder Thomas Zipp ließen sich nicht lange bitten, entwarfen mal bunte Muster, launige Streifen oder auch einen Totenschädel und stellten sich außerdem für den Prospekt als Models zur Verfügung, bekleidet mit einem weißen, ungestalteten Schiesser-Unterhemd. Vertrieben werden die von den Künstlern bearbeiteten Hemden als »limitierte Sonderedition« für einen Stückpreis von 129 Euro. In gehobenen Kaufhäusern wurden Fotografien der Sonderstücke im Stile einer aufwendigen Kunstausstellung dargeboten, und der Konzern rühmte sich der Inszenierung als eines »Kunst und Mode überschreitenden Werks«.
Aufschlussreich an dieser »Artists for Revival« betitelten Unternehmung ist vor allem der enorme rhetorische Aufwand, der im begleitenden Prospekt getrieben wird. Dort erklärt der Konzern sein Selbstverständnis und damit auch, warum er Kunst und Künstlern eine besondere Bedeutung zumisst. »Mit Neugier und Entdeckungslust«, heißt es dort, »mit Innovation und höchster Qualität kleiden wir lebenshungrige Individualisten und Pioniere, die selbstbewusst und wagemutig in die Zukunft vorausgehen.«
Manche mögen darin ein fortschrittliches Moment erkennen, gehört es doch spätestens seit den 1960er-Jahren zu den selbst gesetzten Zielen vieler Künstler, das vermeintlich elitäre Museum zu verlassen und die ästhetische Wirklichkeit des Alltags für sich zu erobern. Unter dem Stichwort »Entgrenzung« ging es lange Zeit darum, high culture mit low culture zu vereinen. Design, Werbung, Mode, Kino, Fernsehen und die ganze Welt der Unterhaltung wurden nun nicht mehr als mindere Sphären der Gestaltungskultur angesehen. In gewisser Weise folgten auch die Museen diesem Credo, indem sie sich für Rockkonzerte öffneten oder Modeschöpfern eine Ausstellung ausrichteten. Der Prinzipienlosigkeit des »anything goes« folgend, löste man sich von vielen Traditionen und erklärte die Verschmelzung der vormals getrennten Sphären zum produktiven, ja emanzipatorischen Ereignis. Allerdings erschien dieses Credo nur glaubwürdig, solange sich eine deutliche Differenz zwischen Hoch- und Populärkultur ausmachen ließ. Waren es anfangs die Künstler, die sich bei Werbung, Design und dem Unterhaltungskino bedienten, so den Spielraum ihrer Kunst erweiterten und zugleich ihre Allzuständigkeit unter Beweis stellten, so drehten sich die Verhältnisse rasch um. Nun begann low auf high zuzugreifen, und die anfänglich bereichernde Bewegung der Kunst heraus aus den üblichen Gefilden der Stile und Sujets wurde mit einem Mal von ökonomischen Interessen durchzogen.
Allerdings gibt es, das sollte nicht verschwiegen werden, auch eine Gegenbewegung: Künstler, die sich einer vorschnellen Vereinnahmung durch den Markt entziehen, die andere Produktionsformen erproben, die aussteigen aus dem System der Galerien und Museen und sich ihre eigenen Aufträge suchen. Ihr Ziel ist der soziale Wandel. So sammelte 2008 der Künstler Pedro Reyes für sein Projekt »Palas Por Pistolas« in einer mexikanischen Stadt mehrere Hundert Waffen ein und ließ sie zu Schaufeln umschmelzen, mit denen dann mehrere Hundert Bäume gepflanzt wurden. In Argentinien kümmerte sich die Künstler- und Umweltgruppe Ala Plástica um die Folgen einer Öltankerkatastrophe. Die dänischen Künstler der Gruppe Superflex wiederum halfen brasilianischen Bauern, eine eigene Limonade namens Guaraná Power herzustellen und zu vermarkten, um so das Monopol der Getränkeindustrie aufzulösen. Und die Künstlerin Suzanne Lacy lud 2013 rund 400 Frauen in New York zu öffentlichen Gesprächen über Genderfragen. Die Kunst macht sich nützlich. Von den Zwecken der Zweckfreiheit will sie nichts wissen.
Mitunter ist der Drang zur sozialen Tat so stark, dass sich manche Hilfseinrichtungen schon bedrängt fühlen und die Künstler um Zurückhaltung bitten. Die in Melbourne ansässige Flüchtlingsorganisation Rise veröffentlichte im Oktober 2015 einen geradezu flehentlichen Appell an jene Künstler, die sich beständig bei ihnen meldeten und ihre Unterstützung anboten: »Wir sind nicht dein nächstes interessantes Kunstprojekt«, heißt es dort. Statt vorschnell den eigenen, vermeintlich guten Absichten zu folgen, sollten die Künstler lieber innehalten und sich fragen, welche Intentionen sie tatsächlich verfolgten. »Wir sind ganze Menschen mit verschiedensten Erfahrungen, Kenntnissen und Fähigkeiten. Wir können uns zu vielen Dingen äußern, reduziere uns nicht auf ein einziges Narrativ.«
Auch andernorts drohen meiner Beobachtung nach die eigentlich Hilfsbedürftigen zu Objekten einer künstlerischen Selbstbestätigung zu werden. Aus Sicht des Künstlers Renzo Martens scheitern etliche der sozialen Interventionisten mit ihren Vorhaben schon deshalb, weil sie sich außengesteuert um die Anerkennung der Kunstwelt bemühten und »überall auf der Welt alle möglichen Dinge tun, doch entfalten diese Dinge ihre wahren sozialen Auswirkungen an den Orten der Rezeption und nicht an den Orten, an denen sie angeblich intervenieren«. Selber um eine politische Kunst der Veränderung bemüht, war Martens 2008 in den Kongo gereist, gelangte dort allerdings zu der Erkenntnis, dass Künstler unweigerlich zu einem Teil jener Hilfsindustrie werden, die sich über das Elend definiert und vom Elend profitiert, das sie doch eigentlich bekämpfen möchte. Am Ende erschien es ihm am sinnvollsten, einem...