Unterwegs mit den Fahrradknackern
Jeder Amsterdamer hat drei Fahrräder.
Aber er weiß nicht, wo sie sind.
(Sprichwort aus Amsterdam)
Es ist morgens um zehn. Wir sind in Amsterdam-West, einem alten Arbeiterviertel voller vierstöckiger Wohnhäuser aus der Zeit um die Jahrhundertwende. Oben auf einem Balkon im ersten Stock steht ein Mann im Bademantel. Die Haare stehen ihm zu Berge, sein Kopf ist rot. Offenbar ist er gerade aus dem Bett gefallen. Das Geräusch einer Flex hat ihn geweckt. Die Flex ist ein Winkelschleifer, den ein unauffällig gekleideter Mann mittleren Alters gerade an einem Kettenschloss ansetzt. Zwei Helfer stehen ihm zur Seite neben einem Lastwagen, auf dessen Ladefläche schon drei Räder liegen. Es ist eine ruhige Anliegerstraße, verkehrsarm, roter Klinker. Doch die Flex sägt sich durch die Morgenruhe.
Das sei Spezialwerkzeug, hatten uns die Fahrradknacker weismachen wollen. Nicht frei erhältlich. Doch der Mann mit der Schweißerbrille hantiert mit einem handelsüblichen Modell, um uns zu demonstrieren, dass man in acht Sekunden selbst ein dickes Kettenschloss knacken kann.
Mark Visser, so sein richtiger Name, gehört einer Bande von Fahrradknackern an, zu deren Verteidigung man zweierlei sagen muss: Ohne die Fahrradknacker würde Amsterdam ersticken an alten Rädern. Kein Fahrradständer wäre noch zu gebrauchen. Außerdem ist Mark mit seinen Kollegen im Auftrag der Gemeinde unterwegs. Ihr Tagessoll sind einhundert Räder.
Die Fahrradknacker können aber nicht nach Belieben Räder auf ihren Anhänger wuchten. Erst müssen sie eine schriftliche Verwarnung hinterlassen – einen Zettel, den sie am Fahrrad anbringen –, wenn ein Rad offenbar eine Zeitlang nicht bewegt wurde. Nach drei Wochen Wartezeit dürfen sie dann zugreifen.
Der dicke Mann aus dem ersten Stock brüllt: »Aufhören! Das könnt ihr doch nicht machen!« Kurz darauf erscheint er in der Haustür, er trägt nur einen Bademantel, der über seinem Bauch etwas spannt. Darunter hat er offensichtlich nichts an. Mit großen Schritten läuft er über die Straße zur Ladefläche des Lasters und greift sich ein Fahrrad.
»Aber wir haben dich doch gewarnt«, sagt Mark.
Der dicke Mann mit dem roten Gesicht knurrt: »Das könnt ihr nicht machen. Fahrräder klauen. Die gehören euch nicht.«
Er hebt sein Fahrrad über die Schulter, wie andere einen Umhang über die Schulter schwingen – und weg ist er. Davor schimpft er noch: »Ich war höchstens zwei Wochen lang weg!«
Zwei ältere Damen schauen von der anderen Straßenseite aus zu. Ihrem singenden Akzent nach zu urteilen, stammen sie aus der ehemaligen Kolonie Surinam (ein Land in Südamerika, das die Niederländer 1667 in einem Tauschgeschäft von den Briten erhielten; die Briten bekamen dafür die Insel Manhattan). Ihren Schwatz haben die Damen unterbrochen, um das kleine Drama, das sich in ihrer Nähe abspielt, zu beobachten. Sie sind Augenzeugen.
Ich gehe zu ihnen hinüber und frage sie, ob das Ganze ihrem Gefühl nach mit rechten Dingen zuging. Die entscheidende Frage lautet: Wie lange standen die Fahrräder bereits dort?
Die beiden entpuppen sich als Cousinen und lassen sich gerne auf einen kleinen Plausch mit mir ein.
»Sehr, sehr lange«, sagt die eine. »Das mit den zwei Wochen hat er nur so gesagt. Das Rad stand da viel länger.«
Da schaltet sich die andere Cousine ein. »Eigentlich sind die Fahrradständer ja genau dafür da, dass darin Fahrräder parken. Die Räder einfach loszuschneiden, das geht nicht. Da müssten sie die Fahrradständer auch gleich mitnehmen oder ganz klare Regeln schaffen.«
Und schon sind sie mitten drin in der schönsten Diskussion.
Ich wusste doch, dass sich, fragt man zwei echte Amsterdamer, und seien es Cousinen, schnell zwei unterschiedliche Meinungen entwickeln, manchmal sogar drei. Amsterdamer gelten als schlagfertig und gewitzt. Nichts ist schöner, als sich zu streiten.
Es ist allerdings auch kein Zufall, dass es in den Niederlanden ausgerechnet über Fahrräder zum Streit kommt. Das Fahrrad ist die Klammer der Nation, ist Lieferwagen und Kindertransporter. Es gibt mindestens so viele Fahrräder im Land wie Bewohner.
Mit Fahrradfahrern legt man sich besser nicht an. So verzögerte sich etwa der Umbau des weltbekannten Rijksmuseums um mehrere Jahre, weil die große Radfahrergemeinde darauf bestand, ihre angestammte Durchfahrt mitten durch das prachtvolle Gebäude hindurch zu behalten, während die Museumsleitung meinte, darauf verzichten zu können.
Das Rad gehört eben zur Grundausstattung. Wer in den Niederlanden einen offiziellen Besuch abstatten will, kommt am besten mit dem »fiets« vorgefahren. Auch die Königskinder fahren mit dem Rad zur Schule, und einige Minister radeln zur Arbeit. Das Fahrrad ist der kleinste gemeinsame Nenner. Es kennt kein schlechtes Wetter: Am Bahnhof von Amsterdam parken auch im Winter 20 000 Fahrräder.
Es gibt nur ein einziges anders Land in Europa mit so vielen Fahrrädern, und das ist Dänemark. Kurt Tucholsky schrieb 1932 von einer Reise in die Hauptstadt Kopenhagen: »Wenn die Kinder anderswo zur Welt kommen, schreien sie – in Kopenhagen klingeln sie auf einer Fahrradklingel. So viele Fahrräder gibt es da.«
Die Nähe der Niederländer zum Zweirad ist noch inniger. Sie scheinen wirklich von Geburt an mit dem Fahrrad verwachsen, so elegant ist ihr Umgang damit. Schön anzuschauen, schwierig mitzuhalten, zumal in Amsterdam, wo Fahrradfahrer eingebaute Vorfahrt haben und ein sehr hohes Durchschnittstempo halten. Rote Ampeln, Passanten und Autos stören da nur.
Es gibt eine richtige Rushhour vom Dam Richtung Amsterdam-West. Man fährt zweispurig, jeder Dritte hat das Handy am Ohr, und die Abstände zwischen den Fahrradgriffen sind knapp eine Handbreit. Diese traumwandlerische Art, durch die Straßen zu gondeln, muss man von klein auf erlernen. Deutsche Touristen tun sich da schwer. Wouter Meijer, ein niederländischer Journalist mit viel Berlin-Erfahrung, sagte einst knapp: »Deutsche können einfach nicht Fahrrad fahren.«
Das ist natürlich Quatsch – und wenn es doch stimmen sollte, reiner Darwinismus.
Glücksgefühle
Es ist Mittag. Die festangestellten Fahrradknacker haben ihre Runde gemacht und ihr Soll erfüllt. Nun geht es zum Depot, einem Areal am Hafen, wo hinter einem hohen Zaun zwölftausend Fahrräder lagern. Ein Teil davon wird von den Besitzern abgeholt, gegen Bußgeld versteht sich. Was stehen bleibt, geht in den Gebrauchthandel, einige werden nach Afrika verschifft, der Rest landet auf dem Schrottplatz.
Im Depot werden die Räder drei Monate aufbewahrt. Wer glaubt, Niederländer seien immer lässig und Bürokratie für sie ein Fremdwort, der kennt den Sachbearbeiter Georg nicht. Er ist ein Musterbeispiel an Gewissenhaftigkeit, wie er da an seinem Schreibtisch mitten in der Halle thront und die Ausbeute mustert.
Mark Visser führt ihm ein Rad nach dem anderen vor. Als Erstes muss er die Fahrgestellnummer unten am Rahmen finden. Viel mehr ist oft auch nicht über die Räder zu sagen. Ein Licht ist bereits Luxus, eine Handbremse sowieso. (Früher galt die Faustregel: Ein Fahrrad mit Licht ist eine Polizeistreife auf zwei Rädern; jedenfalls in Amsterdam.)
Draußen stehen derweil, Regen und Sonne ausgesetzt, die restlichen Fundstücke und warten auf ihre ehemaligen Besitzer. Die Besitzer wiederum laufen die Reihen ab und lassen sehnsuchtsvoll die Blicke schweifen. Es braucht Zeit, um im Depot unter zwölftausend Rädern das stählerne Eigentum zu finden.
Genial und einfach ist hingegen die Auslöse geregelt: Die Räder werden mit ihrem geknackten Schloss ausgestellt, die Ketten hängen über dem Lenker. Wie könnte sich ein Besitzer besser legitimieren, als mit dem passenden Schlüssel?
»Wenn es dann klick macht, ist das schon ein kurzer Glücksmoment für viele«, sagt Mark schmunzelnd. »Unser Job ist manchmal nicht leicht, weil viele nicht einsehen, dass ihre Räder stören. Zum Ausgleich arbeiten wir dann auch mal hier im Binnendienst. Dann kriegen wir mit, wenn Halter und Fahrrad wieder vereint sind.«
So ein Glück wird normalen Fahrraddieben nicht gewährt.
Geborene Verkäufer
Gute Fahrräder verschwinden schnell. Niederländer schleppen ihr Lieblingsfahrrad deshalb oft mit in die Wohnung, während das Zweitrad unten im Fahrradständer rostet und das Drittrad am Bahnhof steht.
Es gibt aber auch den Typus des »Ein-Fahrrad-Besitzers«. Zu denen gehört mein Freund Rob. Sein wunderschönes nagelneues Modell mit zehn Gängen und Naben-Dynamo war am helllichten Tage vor der Universität geklaut worden. Holland in Not! Denn wenn Rob auslüften will, schwingt er sich aufs Rad und fährt fünfzig, sechzig Kilometer, etwa zu Tineke in die Eilandspolder. Ein neues Fahrrad musste her. Aber diesmal vielleicht ein preiswertes Modell. Doch der Händler erkundigte sich eingehend nach dem verschwundenen und stellte dann lapidar fest: Wer gerade ein solch schönes Fahrrad verloren habe, sollte sich nicht zum zweiten Mal an einem einzigen Tag frustrieren. Er sollte sich für den Verlust entschädigen, sprich: ein richtig gutes Fahrrad kaufen!
Und so geschah es.
Diese Methode des Verkaufens nennt man »Framing«. Sie stammt aus der Denkwelt des NLP (Neurolinguistisches Programmieren) und somit von der Westküste der USA. Vereinfacht gesagt liefert man zu einem Verkauf auch noch eine gute Geschichte dazu und...