Die Pünktlichkeitsgarantie
Wir haben einen neuen Stammgast. Willi. Gelassen lehnt er am Tresen, als wäre die Information eine Bar. Willi fährt nie mit der Bahn, angeblich ist er sein gesamtes Leben lang keinen Zug gefahren. Ich glaube das nicht. Annika schon. Annika glaubt grundsätzlich an die Menschen. Eigentlich würde ich Willi gerne mal fragen, was man früher auf dem Schulhof fragte, wenn einer ständig neben einem stand und redete. Da fragte man: »Sag mal, hast du kein Zuhause?« Aber das finde ich zu böse. Fand ich immer schon. Und so ganz unter uns gesagt: Im Grunde mag ich den kleinen Mann. Ich gewöhne mich schnell an Rituale. Ist es einmal da, das neue Ritual, gewöhne ich es mir nur sehr ungern wieder ab. Und Willi, das ist ein Ritual auf zwei Beinen. Zwei kurzen Beinen. Willi bringt es fertig, in noch tieferen Luftschichten zu leben als der kleine Prinz, also mein Chef. Außerdem ist Willi geduldig und brav. Er wartet mit dem Weiterquasseln immer ab, bis ich einen offiziellen Fahrgast abgefertigt habe. So wie jetzt gerade auch. Ich fertige ab, er steht schön still daneben und lauscht.
»Das heißt also, Sie können mir keine verbindliche Auskunft darüber geben, ob die Verbindung von Düsseldorf nach Krefeld im Frühjahr 2017 zuverlässig ist?«
Ich schaue mir den Kunden, der das fragt, in aller Ruhe an. Anfang dreißig, schwarze Anzugschuhe zur Jeans, graues T-Shirt, dunkelblaues Jackett. Zierliche Statur. Die Uhr ist deutlich zu groß für sein schmales Handgelenk. Sie zieht den ganzen Körper links leicht nach unten. Seine Haare hat der spätpubertäre Geschäftsmann unter Einsatz von sehr viel Gel so gestaltet, dass sie aussehen sollen, als sei er gerade aus dem Bett gefallen. Im Winter wird er nach Düsseldorf ziehen, um von unserer schönen Stadt aus täglich zu seinem neuen Job in Krefeld zu pendeln. Da braucht man selbstverständlich Planungssicherheit. Ich verstehe das. Willi rollt dezent mit den Augen.
»Die Verbindung steht«, sage ich.
»Also doch!«, freut sich die Out-of-Bed-Frisur.
»Ja, ja«, sage ich, »täglich mit der NordWestBahn, unserem freundlichen Partner in Gelb und Blau. Oder mit dem ICE und Umsteigen in Duisburg in die Regionalbahn nach Krefeld. Die Schienen liegen, der Schotter wird so schnell nicht schlecht, und ein, zwei Kunden wollen mindestens jeden Tag nach Krefeld. Da wird der dortige Bahnhof vorerst nicht abgeschafft. Ich gehe demnach stark davon aus, dass die Verbindung auch 2017 noch gegeben ist. Eine Garantie gibt es allerdings nicht.«
»Ja, aber das war doch gar nicht meine Frage!«
Jetzt guckt Out-of-Bed wieder empört. Wüsste ich’s nicht besser, könnte ich schwören, dass eines seiner steil aufragenden Haare gerade wie ein Zweig im Sturm abgeknickt ist. Er wirft seine Hühnerbrust auf die Theke und zeigt seinerseits seitlich auf meinen Bildschirm, den er trotz seiner Bemühungen nicht einsehen kann.
»Meine Frage war: Kann ich sicher sein, dass die NordWestBahn ab dem 1. März 2017 morgens pünktlich kommt und keine Verspätung hat?«
»Tatsächlich?«, frage ich.
»Wie, tatsächlich?«
»Das war wirklich Ihre Frage? Ob der Pendlerzug in einem Jahr pünktlich oben an Gleis 5 einfährt? Das war die Frage?«
»Ja! Sind Sie taub?«
»Ich wollte nur sichergehen.«
Willi dreht am Ende der Theke den Kopf ein wenig zur Seite, damit sein Kichern nicht bemerkt wird.
Ich sage: »Sie möchten also von mir eine verbindliche Zusicherung, dass der blaugelbe Zug Sie in 365 Tagen morgens pünktlich zur Arbeit bringt?«
»Ja. Oder geht das nicht, weil das die Konkurrenz ist? Für den Fall machen Sie mir irgend so ein ICE-Abo. Das mit Duisburg da, was Sie eben meinten.«
»Schiene ist Schiene«, antworte ich. »Unsere Züge müssen genauso anhalten wie die NordWestBahn, wenn ein Baum auf den Gleisen liegt. Da können wir leider keine Kurve drumherum fahren.«
»Sie sind so witzig«, sagt der junge Mann.
Ich beuge mich ein Stück vor und lege meine Stimme noch tiefer, als sie ohnehin schon brummt. Stünde ein Glas Wasser auf dem Tresen, würde dessen Oberfläche nun vibrieren wie im ersten Teil von Jurassic Park, wenn der große Saurier naht. Ich frage meinen Kunden: »Was genau bedeutet denn für Sie pünktlich?«
»Na, pünktlich eben. In time. Eine, höchstens zwei Minuten später.«
»Aha. Also drei wären schon zu spät?«
»Aber sicher!«
»Sie wollen also von mir wissen, ob der Pendlerzug oben an Gleis 5 täglich mit allerhöchstens zwei Minuten Verspätung einfährt? Im März 2017?«
»Ja, doch. Spreche ich Kasachisch?«
»Ich wollte nur sichergehen.«
Der junge Mann schüttelt den Kopf. Ich kratze mein rasiertes Kinn und schaue für ein paar Sekunden nach links in die Passage, um tiefe Nachdenklichkeit zu simulieren. Zwischen den Aufgängen zu den Gleisen kleben die Geschäfte im Tunnel. Die Parfümerie und die Apotheke. Die ReiseBank und der Tchibo-Shop. Die Schuhauslage von Görtz und die Klamotten von Six. Als ich mit dem vorgetäuschten Nachdenken fertig bin, schaue ich den gepflegten Mittdreißiger mit der schweren Uhr wieder an: »Muss der Zug jeden Tag garantiert pünktlich kommen oder würde Ihnen das Anfang März reichen, damit Sie bei Ihrem neuen Arbeitgeber die ersten fünf Werktage einen guten Eindruck machen?«
Der junge Mann schöpft Hoffnung. Eine Pünktlichkeitsgarantie von der Bahn, wenn auch nur für eine Woche!
»Nun ja«, sagt er, »eine ganze Woche, das wäre schon was.«
Ich schaue erneut kurz zu Tchibo, Görtz und Six. Zähle ein paar Sekunden ab. Beobachte schnatternde Teenager vor dem Schaufenster und einen Pfandsammler, der sich ärgert, weil er nur eine 8-Cent-Glasbierflasche aus der Tonne zieht statt eines 25-Cent-Wassers aus weichem Kunststoff.
»Gut«, sage ich. »Dann bräuchten wir für diese Woche, ich würde mal schätzen, 750 Leute.«
»Was?«
»Können auch 800 oder 900 sein, da spielen viele Faktoren eine Rolle.«
»Was reden Sie denn da?«
»Sie machen doch sicher was mit Zahlen«, sage ich. »So gut wie Sie kleidet sich ja kein Realschullehrer oder Berufslyriker.«
Der Anflug eines Lächelns erscheint auf seinem skeptischen Gesicht. So schnell geht das. Bring ein paar Feindbilder deines Gegenübers ins Spiel, und du hast einen Freund gewonnen.
»Diese zusätzlichen Mitarbeiter müssten in der ersten Märzwoche 2017 in dichtem Abstand entlang der Gleisstrecke von Düsseldorf nach Krefeld stehen. Um im Fall der Fälle Astwerk von den Schienen zu klauben, aber vor allem, um sicherzustellen, dass sich an dem Tag keiner vor den Zug wirft. Das ist schon machbar, weil die NWB75018 hier im Bahnhof startet, also nicht erst von irgendwo herkommt. Allerdings könnte sie aufgehalten werden, falls jemand meint, sich im weiteren Umkreis der Stadt umbringen zu müssen, so dass andere Linien später einfahren und dann den Vorzug kriegen. Nehmen wir aber mal an, es reicht, die Gleise entlang Meerbusch-Osterath und Krefeld-Oppum bis zum Ziel selbstmordfrei zu halten, müssen wir zusätzlich für jede beteiligte Person einen Echtzeitersatz bereitstellen. Der Zugführer und sein Assistent im Fahrzeug, die Männer in der Zentrale. Fällt einer ohne Vorankündigung aus, darf der Ersatz nicht zehn Minuten brauchen, bis er von zu Hause angetanzt ist. Am teuersten von allem wird aber sicherlich sein, die Flugzeuge loszuschicken.«
»Die Flugzeuge? Welche Flugzeuge?«
»Wetterbeeinflussung durch gezielte Abgabe bestimmter Partikel in den oberen Luftschichten. Es ist keine narrensichere Methode, aber so ließen sich eventuell heftige Niederschläge oder Gewitter in der ersten Märzwoche 2017 verhindern, die ebenfalls ein Grund für Verspätungen sein könnten. Leider hat die Bahn noch gar keine Wetterbeeinflussungsflugzeuge in ihrem Fuhrpark. Die müsste der Konzern erst einmal bei Dornier oder der Airbus-Gruppe einkaufen und vorher seine Kontakte zum Bund sowie zum Geheimdienst spielen lassen, da es Wetterbeeinflussungsflugzeuge offiziell ja gar nicht gibt. Das wird kostspielig. Sehr kostspielig.«
Der Haargelgeschäftsmann macht einen Schritt zurück und führt einen Entrüstungstanz auf, das in einer vorwurfsvoll auf meine uniformierte Brust zeigenden Hand endet.
»Wissen Sie was? Unsereins muss sein Leben planen. Unsereins kann es sich nicht leisten, nach Nordrhein-Westfalen zu ziehen und dann nicht sichergehen zu können, in der ersten Woche pünktlich zur Arbeit zu kommen! Unsereins ist in der freien Wirtschaft nämlich ganz schnell wieder weg vom Fenster! Das können Sie als Beamter natürlich nicht verstehen.«
Ich schüttele den Kopf und benenne grinsend meinen wahren Arbeitgeber: »Nix Beamter. Angestellter der DB Station & Service AG innerhalb der DB Netz AG. Hören Sie das? Da kam direkt zwei Mal AG vor in diesem Satz.«
Die Leute gucken schon. Die vorwurfsvolle Hand zeigt immer noch auf mich. Allerdings sinkt sie langsam nach unten. Sie wissen ja noch, die schwere Uhr …
»Eine Lösung hätte ich für Sie, wie Sie tatsächlich im März 2017 jeden Tag pünktlich zu Ihrem neuen Job kommen, und das garantiert.«
Die Hand ist nun wieder unten, die Uhr zieht gnadenlos Richtung Erdmittelpunkt. Der junge Mann hebt hoffnungsvoll den Kopf, weil er den Eindruck hat, dass ich das Folgende ernst meinen könnte. Diesen Eindruck hat er, weil es tatsächlich so ist. Zwei dramatische...