Einleitung
„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“
Immanuel Kant, deutscher Philosoph
Strategien schalten Gefühle aus
Menschen und Affen können viel voneinander lernen. Drei Forscher von der schottischen St. Andrews Universität und von der Emory Universität in Atlanta beobachten 32 Schimpansen. Victoria Horner, Andrew Whiten und Frans de Waal haben den Primaten eine Aufgabe gestellt: Mit Hilfe eines Stocks sollen die Tiere mehrere Köder aus röhrenförmigen Behältern holen, die mit Korken verschlossen sind. Zwei der Schimpansen haben zuvor gelernt, wie sie an das Fressen kommen. Die Wissenschaftler leiteten die Primatin Erika an, den Korken bis ans Ende des Rohres zu drücken, sodass der Köder hinten herausfällt und durch ein anderes Rohr in ihre Hände rollt. Der Schimpansin Georgia hingegen zeigten die Forscher, wie sie den Verschluss mit einem Haken öffnen kann, wodurch ihr das Fressen direkt vor die Füße fällt. Daraufhin teilten die Forscher die Affen in zwei Gruppen ein. Zur einen gehörte Erika, zur anderen Georgia. Zwei Monate später hatte das erste Team gelernt, nach Erikas Methode an den Köder zu gelangen. Das zweite imitierte Georgias Vorgehen. Selbst wenn ein Affe eine andere Möglichkeit fand, das Problem zu lösen, schwenkte er nach kurzer Zeit auf das in seiner Gruppe übliche Verfahren um. Eine dritte Gruppe, die ohne „Lehrer“ am Versuch teilnahm, scheiterte. Der Schimpanse lernt offensichtlich durch Nachahmen. Und der Mensch lernt vom Schimpansen, wenn er etwas über sich selbst erfahren will.
Auch Menschen eifern ihren Artgenossen nach. Sie lernen dadurch. An der Börse wird ihnen diese Verhaltensweise jedoch zum Verhängnis. Sie kaufen Aktien, die auch der Freund oder Kollege ordert. Und sie hören auf den Rat von Gurus und Analysten, die an der Börse gerne die Lehrerrolle von Erika und Georgia übernehmen. Anders als bei den Primaten bleibt der Erfolg meist aus: Die Mehrzahl der Privatanleger treibt orientierungslos auf dem Meer von Expertenmeinungen, Prognosen und Kauftipps. Mal spült sie die Welle ans Ufer der Vorsicht, dann wieder an das der Euphorie. Manchmal sind sie so verunsichert, dass sie den Einstiegszeitpunkt verpassen und zusehen müssen, wie die Kurse davonlaufen. Dann wieder schieben sie nach dem Motto „Augen zu und durch“ ihre Bedenken beiseite – und öffnen sie erst wieder, wenn das Depot schon 50 Prozent im Minus liegt. Am Ende begleitet sie beim Investieren eine Vielzahl negativer Gefühle. Ständig kommen Zweifel auf: Ist das Geschäftsmodell wirklich so gut? Steuert die Branche, in der das Unternehmen arbeitet, auf eine Krise zu? Sollte man mit dem Einstieg warten, bis die Stimmung am Aktienmarkt wieder steigt? Mit solchen Fragen quälen sich Privatanleger immer wieder. Im schlimmsten Fall rauben sie einem den Schlaf. Warum finden so wenige Investoren einen Ausweg aus diesem Dilemma? Die Antworten liegen eigentlich auf der Hand: Weil nur wenige eine echte Strategie verfolgen. Weil nur wenige ein Konzept haben, das sie immun macht gegen schwankende Stimmungen und Fremdeinschätzungen.
Die Börsenstrategie ist der entscheidende Schritt zur erfolgreichen, unaufgeregten Geldanlage. Was aber ist eine Börsenstrategie? Die Frage hört sich einfach an. Trotzdem fällt die Antwort ganz unterschiedlich aus. Wenden wir uns zuerst an die Profis: Wer Fondsmanager in Frankfurt fragt, welche Strategie sie anwenden, bekommt vor allem eine Antwort: Sie verbinden mit dem Wort Strategie die computergestützte Auswahl von Aktien nach einer Vielzahl verschiedener Kennzahlen und Kriterien. Diese Antwort hilft dem Privatanleger nicht weiter. Er hat nicht die Möglichkeit, komplizierte Analysen im Tages- oder Wochenrhythmus auszuführen. Viele institutionelle Investoren geben zudem an, ihre Strategie sei es, auf unterbewertete Aktien zu setzen. Aber versuchen wir das nicht alle? Wer ordert schon absichtlich eine überbewertete Aktie (außer in der Internet-Euphorie um die Jahrtausendwende, aber daran wollen wir lieber nicht erinnert werden)? Die Frage nach der Strategie wirft also meist nur neue Fragen auf: Wann ist eine Aktie unterbewertet? Wann ist sie so teuer, dass man sie wieder abstoßen muss? Wie viele Aktien soll man kaufen?
Und welche Strategie verfolgt der private Investor? Wer ehrlich antwortet, wird wahrscheinlich feststellen, dass er gar keine Strategie verfolgt. Das ist nicht weiter verwunderlich: Eine Strategie verfolgen heißt ja, konsequent eine Investmentmethode anzuwenden. Aber Menschen sind gefühlsbetont und werfen ihre Entscheidungen immer wieder über den Haufen. Ein ganzer Forschungszweig mit dem Namen Behavioral Finance (zu Deutsch: Verhaltensökonomie) durchleuchtet, wie Anleger an der Börse agieren – und bestätigt ihr emotionales Verhalten beim Investieren. Tenor der Wissenschaftler: Die Investoren handeln meist irrational und verlieren deshalb viel Geld (wir gehen in Kapitel 9 noch genauer auf die Ergebnisse ein). Eines sind ihre Anlageentscheidungen indes fast nie: konsequent.
Und genau darin liegt die Crux: Weil sie sich nicht an ihre Vorsätze halten, folgen sie immer wieder falschen Ratgebern, Gurus, Propheten – oder einfach ihrem Bauch. Börsenstrategien, die diesen Namen verdienen, müssen genau an diesem Punkt ansetzen. Sie müssen einen Ausweg aus dem emotionalen Labyrinth weisen. Das erhöht nicht nur die Rendite, sondern gibt überdies Sicherheit. Eine Investmentmethode muss einen Leitfaden an die Hand geben, den jeder nachvollziehen kann – ohne tagelange Zusatzlektüre, detaillierte Trading-Kenntnisse oder aufwändige Berechnungen. Mechanische Börsenstrategien erfüllen diese Anforderungen in hohem Maß. Mechanisch heißen sie, weil sie festen Regeln unterliegen.
Wer eine mechanische Börsenstrategie verfolgt, schaltet emotionale Fehlentscheidungen aus. Er hält sich strikt an die vorgegebene Investmentprozedur. Auch James P. O’Shaughnessy, Pionier der quantitativen Aktienanalyse aus Greenwich (Connecticut), sieht darin den Schlüssel zum Investmenterfolg. Er rät Anlegern, sich zu disziplinieren und lieber einem Computermodell zu trauen als einem Tipp, einer Prognose oder einem Gefühl. „Computermodelle haben keine Launen, keinen Streit mit ihrer Frau, keinen Kater von der Nacht zuvor“, schreibt der Autor in seinem Bestseller What Works on Wall Street. Das gemeinsame Merkmal aller wirklich erfolgreichen Investoren ist für ihn Stetigkeit. O’Shaughnessy meint: Selbst mit einer mittelmäßigen Strategie schlägt man all jene, die ständig aus- und einsteigen und ihre Taktik nach der Mehrheitsmeinung richten.
In diesem Buch untersuchen wir elf Strategien. Jede folgt einem strengen Algorithmus. Dieser regelt Aktienauswahl, Gewichtung der Titel, Ein- und Ausstiegszeitpunkt, kurz: alles, was der Investor zur Anlage seiner Gelder wissen muss. Manche Strategien sind allgemein bekannt, andere nur in Finanzkreisen geläufig. Nicht alle sind gleich attraktiv: Teilweise sind sie nur für spekulative Investoren geeignet, andere scheinen überhaupt nicht zum Erfolg zu führen, obwohl sie in der Investorenzunft als aussichtsreiche Modelle bekannt sind. Um sie zu entlarven, wollen wir auch die negativen Ergebnisse nicht verschweigen. Wir haben all diese Strategien über einen langen Zeitraum getestet und bewertet. Jeder Investor kann nach dieser Untersuchung beurteilen, ob eine Strategie für seine Zwecke die richtige ist.
Sieg über den Herdentrieb
Ein Hauptvorteil von Börsenstrategien liegt in der Unabhängigkeit, die der Anleger mit ihnen gewinnt. Die Strategie hilft dem Aktionär, aus der Börsenherde auszuscheren. Wie wichtig das ist, haben private wie professionelle Investoren unter Schmerzen erfahren, als die Jahr-2000-Euphorie an der Börse in Panik umschlug. In der Baisse von März 2000 bis März 2003 sank der Wert der im DAX notierten Aktien insgesamt um 700 Milliarden Euro. Die Privatanleger tragen einen hohen Anteil an diesem Verlust.
Die Lehre aus dem Debakel kann nur sein: Es bringt nichts, Aktien allein wegen ihrer tollen Story zu kaufen. Aktien, über die jeder spricht, die jeder haben will – und die daher oft astronomisch hoch bewertet sind. Oft propagieren Analysten und Fondsmanager den Kauf dieser Titel. Solchen Empfehlungen sollten Anleger stets mit einer gehörigen Portion Skepsis begegnen. Denn die Experten liegen mit ihren Prognosen häufig daneben. Das bestätigen zahlreiche Studien. Der Finanzinformationsdienst Digital Look nahm zum Beispiel die Analystenurteile in London von 2002 bis 2004 unter die Lupe. Als Messgröße diente den Marktbeobachtern das Verhältnis von Kauf- zu Verkauftipps. Sie stellten fest: Wenn die Analysten besonders viele Aktien zum Kauf empfehlen, fallen die Kurse in der Folgezeit meist. Umgekehrt steigen die Notierungen in der Regel, wenn die Analystenurteile besonders häufig auf „Verkaufen“ lauten. Andy Yates, Chef von Digital Look, sagte der Times: „Die Analysten der Stadt bekommen einen Haufen Geld dafür, richtig zu liegen. Aber es scheint, als lägen sie...