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Kennen Sie die Fallstricke der Technischen Analyse?
Die „KISS“- Falle
„Komplexität kann nur durch Komplexität beherrscht werden“.”
Ashbys Gesetz der erforderlichen Varietät
Ist die Anzahl der Elemente und der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen eines Systems oder einer Situation so groß, dass ihr Zusammenwirken nicht vollständig beschreibbar ist, dann spricht man in der systemorientierten Managementlehre von äußerst komplexen Systemen. Je komplexer ein System ist, desto unterschiedlicher ist sein Verhaltensrepertoir und desto vielfältiger sind seine Interpretationsmöglichkeiten. Systeme mit gegebener Komplexität können ohne die erforderliche Varietät (gleich komplexe Systeme) nicht unter Kontrolle gehalten werden. Gegen einen guten Schachspieler kann eben nur ein guter Schachspieler bestehen. Wer ein System lenken, gestalten oder gar beherrschen will, das komplexer ist als er selbst, kann das nur, indem er die Organisationsstruktur des Systems begreift und sie für seine Zwecke nutzt. Wissenschaftler und moderne Manager verwenden hierzu einen kybernetischen Denkansatz (Kybernetik = griech. Steuermannskunst, steuern und kontrollieren von dynamischen Prozessen). Obwohl die Mechanismen der Börse als äußerst komplex eingestuft werden können, ist man hier von kybernetischen, wissenschaftlichen oder zumindest wirklich analytischen Vorgehensweisen bei der situativen Steuerung der Märkte noch weit entfernt.
In einer Zeit, in der der technologische Fortschritt in sämtliche Lebensbereiche vorgedrungen ist, verharrt die Technische Analyse fatalerweise noch immer im KISS-Modus. „KISS“ steht für den „Keep it simple stupid“- Gedanken, der sich unter den Anwendern wie ein ideenfressender Virus verbreitet hat, da er jegliche Versuche, innovative Lösungen anzustreben, von vornherein zunichte macht. Das KISS-Konzept wurde ursprünglich von der US-Army entwickelt, um komplexe Regeln so zu vereinfachen, dass ein jeder Soldat sie verstehen und leicht umsetzen kann. Die grundlegende Vorgehensweise des KISS-Ansatzes war so effektiv, dass sie später auch von der NASA beispielsweise für die Rettung von Apollo 13 übernommen wurde. Während man bei der NASA aber modernste Technik einsetzte, um simple Lösungen mit den entsprechenden Entscheidungsregeln zu finden, hat man in der Technischen Analyse von vornherein einfache Instrumente und Techniken eingesetzt und diese Vorgehensweise als Voraussetzung für Erfolg definiert. Anstatt modernste Technik und innovative Methoden einzusetzen, um einfache Handelsregeln für die Märkte zu generieren, wurden komplexer erscheinende Verfahren von vornherein abgelehnt.
„Vieles geht in der Welt verloren, weil man es zu geschwind für verloren gibt.“
Johann Wolfgang von Goethe
So blieben gute Ideen oftmals auf der Strecke, weil man annahm, dass ein Handelsansatz, der bereits die erste Hürde (z. B. Programmieren) nicht überwinden konnte, die nächste erst gar nicht schaffen könnte. Scheiterten Analysten beispielsweise schon an der Umsetzung eines zweiteiligen Handelssystems (Verknüpfung von zwei Indikatoren), wurde ein mehrteiliges System noch nicht einmal ausprobiert. Fragt man bei den KISS-Vertretern einmal genauer nach, so stellt sich schnell heraus, dass sich die wenigsten überhaupt die Mühe gemacht haben, sich nachhaltiger mit komplexeren Ansätzen zu beschäftigten. Dennoch behaupten sie, dass man an den Börsen nur mit einfachen Ansätzen erfolgreich sein kann. Wer dies wirklich annimmt, der sollte sich mit den Prozessen beschäftigen, die für evolutionäre und innovative Quantensprünge des Wissens verantwortlich sind.
Unterstützung fanden die KISS-Jünger durch die Befragungsergebnisse erfolgreicher Trader. Wenn überhaupt, so deren Auskunft, dann nutzen sie einfache Ansätze. Da die Top-Performer gleichzeitig von den Verlierern erfuhren, dass diese weder mit einfachen noch mit komplexen Verfahren zurechtkamen, entstand ein Rückkoppelungseffekt. Dieser hatte zur Folge, dass die Top-Trader den Verlierern vermittelten, dass sie nur mit einfachen Methoden erfolgreich sein können (weil sie es sind !). Da sie aufgrund ihrer Erfolge als Vorbilder fungieren, wird fälschlicherweise angenommen, dass die KISS-Philosophie für alle Gültigkeit besitzt. Was letzten Endes völlig außer Acht gelassen oder lediglich in Nebensätzen erwähnt wird, ist die Tatsache, dass die meisten Trading-Legenden von Mutter Natur mit einem hochkomplexen System ausgestattet wurden, das in der Fachwelt als „Bauch, Intuition, Talent“ oder auch als „seltene Gabe“ bezeichnet wird. Diesem erhabenen Kreis gehören leider nur 2% bis 5% der Bevölkerung an.
Um diese „Denke“ zu korrigieren, möchte ich folgendes Beispiel einfügen. Bei der Performance-Analyse eines Top-Traders ließ ich mir von ihm alle Details seines Handelsansatzes erklären und daraus für Vergleichszwecke ein Handelssystem programmieren. Während der Händler mit einem einfachen Regelwerk für drei gleitende Durchschnitte gutes Geld verdiente, kam das mechanische System kaum über das „Break Even“-Niveau hinaus. Ein Nachwuchstrader, der diesen vielversprechenden Ansatz manuell testen sollte, machte sogar Verluste damit. Es stellte sich heraus, dass der Top-Händler mit Hilfe seiner Intuition manchmal ein paar Kontrakte mehr hielt, wenn die Position für ihn lief, Verlust-Trades teilweise schneller glattstellte und Gewinne meistens besser realisierte als es sein Regelwerk vorschrieb. Trotz der Erkenntnis, dass der Erfolg dieses einfachen Ansatzes auf seine Intuition zurückzuführen ist, empfiehlt er – wie viele andere Top-Trader auch – heute noch immer jedem Nachwuchstrader, der ihn um Rat bittet, seinen Ansatz zu probieren.
Der KISS-Virus hat zwei Krankheitsbilder mit sich gebracht, für die die Technische Analyse scheinbar noch immer kein Gegenmittel gefunden hat. Zum einen handelt es sich um den Irrglauben, dass man nur mit dem KISS-Prinzip an den Börsen zum Erfolg kommen kann. Dies hat nämlich dazu geführt, dass sich viele Anleger mit den in Deutschland so populären, meist veralteten und wegen ihres „Einfachst-Regelwerks“ als eher abenteuerlich zu bezeichnenden Methoden wie MACD, Momentum, RSI oder Stochastik sehr oft die Finger verbrannt haben. Schließlich birgt eine tendenzielle Vereinfachung der Ansätze immer die Gefahr in sich, dass Einsteiger mit ihrer oberflächlichen Interpretation der 08/15-Standardregeln eines Tages die „Mutter aller Verluste“ erleiden werden. Da dies in den letzten Jahren häufiger geschehen ist, hat der Ruf der Technischen Analyse gelitten. Die daraus gewachsene Skepsis gegenüber ihren Instrumenten verhindert aber auch eine vielversprechende Weiterentwicklung und einen wirklichen Durchbruch.
Zum anderen ist die im Vergleich zum Fortschritt der gesamten Computertechnologie antiquierte Ausrüstung zu bemängeln, die heutzutage „Chartisten“ offeriert wird. Während über der Technischen Analyse noch immer der Nimbus der altehrwürdigen Bankenwelt schwebt, beinhaltend, dass ein konservatives Auftreten mit Qualität und Verlässlichkeit gleichzusetzen ist, hat sich in anderen Wirtschaftszweigen längst die Philosophie durchgesetzt, dass man nur mit neuen und innovativen Ideen weiterkommt. Unternehmen, die am Markt nicht nur überleben möchten, sondern auch erfolgreich agieren wollen, setzen sich Benchmarks, die sich an den besten Lösungen der Konkurrenten orientieren. Da sich die börsenorientierten Software-Kunden hingegen recht genügsam zeigen (fehlendes Anspruchsdenken) und sich oftmals mit schlechten Lösungen zufriedengeben, hat sich die Software-Industrie auf diesem Gebiet bei der Etablierung von „Benchmarks“ nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Beide Krankheitssymptome haben dazu geführt, dass die herkömmlichen Betrachtungen der Technischen Analyse große Mängel aufweisen. Immer dann, wenn Börsianer mit dem KISS-Stichwort argumentieren, fällt mir daher nur ein:„. . . and stay that way!“
Bremsklötze
„Unser gesamtes Wissen bringt uns näher zu unserer Ignoranz.“
T.S. Eliot
Ignoranz
Je mehr man zu wissen glaubt, desto ignoranter verhält man sich gegenüber neuen oder anderen Ideen. Ist das Wissen dann erst einmal veraltet, kann es sehr beschwerlich sein, neue Wege zu schreiten. Während sich die Welt in einem kontinuierlichen Wandel befindet, strebt der Mensch nach Beständigkeit und Ordnung. Was dem Alltag eine gewisse Ruhe (Routine) verleiht, kann aber dem Erfolg an den sich wandelnden Finanzmärkten im Wege stehen.
„Ein amerikanischer Forscher sagte 1900 anlässlich der Weltausstellung in Paris vorher, dass sich der Fortschritt in Zukunft wohl deutlich verlangsamen würde, da bereits alle wichtigen Dinge dieser Welt entdeckt oder erfunden wurden.“
„. . . es irrt der Mensch, wohin er denkt und....