Einleitung – Eine Krise der Demokratie
»Europa neu ausrichten«, das »Demokratiedefizit« beseitigen, die europäische Debatte »politisieren« … Nach sechs Krisenjahren in der Eurozone existiert heute das unbestimmte Gefühl, dass die Europäische Union in einer Demokratiekrise steckt. Das Versprechen auf eine Demokratisierung der Union, das die Verfasser des Vertrages von Lissabon (2007) in den schönsten Farben ausmalten, die Absicht, das Europaparlament zu »stärken« und einen »Dialog« mit den Bürgerinnen und Bürgern zu führen, hat die Krise nicht überlebt. In der Überzeugung, die Glaubwürdigkeitsschlacht gegen die Märkte nicht gewinnen zu können, haben die europäischen Spitzenpolitiker schließlich ihren Gestaltungsspielraum zugunsten »unabhängiger« Organe oder automatischer Sanktionsverfahren aufgegeben. Damit haben sie die führende Rolle bei der Leitung der europäischen Angelegenheiten auf den Gerichtshof der Europäischen Union, die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank übertragen.
Alle Anzeichen sprechen dafür, dass es, trotz zwei Jahrzehnten gezielter Stärkung der Befugnisse des Europaparlaments, um die demokratische Legitimität in der Union äußerst schlecht bestellt ist. Umgekehrt verfügen Institutionen, die der demokratischen Legitimation durch den Wähler enthoben sind, heute über eine gesicherte Position. Das ist das Paradoxe an den europäischen Demokratie: In einer Art symbolischen Umkehrung haben der Präsident der Europäischen Zentralbank und der des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland die politischen Führer mehrfach an ihre »demokratische Verantwortung« bei der Krisenverwaltung erinnert.
Gleichwohl hat es an Versuchen, die Herausforderung der Demokratisierung anzunehmen, nicht gefehlt. Immer wieder wurde das Werk der europäischen Politik auf den Prüfstand gestellt, auf zahllosen Regierungskonferenzen und »Konventen zur Zukunft Europas«, die den Auftrag hatten, das »Demokratiedefizit« und die »Kluft zwischen den Bürgern und Europa« zu beseitigen. Von der Direktwahl zum Europaparlament bis zur Gründung von Parteien auf europäischer Ebene, von der Europäischen Bürgerinitiative bis zum Mechanismus der Bestätigung der Kommission durch das Europaparlament wurde das ganze »Set« der repräsentativen Demokratie auf die Unionsebene übertragen. Und doch, es hilft alles nichts: Der Raum demokratischer Verfahren und der Raum der politischen Entscheidungspraxis haben sich unaufhörlich voneinander entfernt.
Wie kommt es, dass alle diese Versuche, die europäische Demokratie zu begründen, gescheitert sind? Dieses Buch liefert einen Hinweis: Was, wenn ein Großteil unserer Fehlschläge, Europa neu auszurichten, von unserer Unfähigkeit herrührte, das real existierende Europa zu verstehen?
Ein dichter Begriffsnebel hat sich über unsere Wahrnehmung der Europäischen Union gelegt. Die Worte, mit denen man sie beschreibt (»Europaparteien«, »Europaparlament«, »Regierung«, »Bürgerschaft«, »repräsentative Demokratie« usw.), sind für viele nur Schwindel und Augenwischerei. Als Resultat wiederholter semantischer Gewaltakte, die im Laufe der Jahre in den Verträgen vorgenommen wurden, um herbeizureden, was gerade nicht existiert (nämlich eine »europäische Demokratie«), haben sie zu einer ständigen Verwechslung geführt zwischen dem Europa, wie es wirklich existiert, dem Europa, wie es zu sein behauptet, und dem Europa, wie man sich wünscht, dass es wäre.
Und was, wenn man es in der allzu großen Hoffnung, in Brüssel eine Demokratie »wie im eigenen Land« entstehen zu sehen, aufgegeben hätte, die Besonderheit des europäischen Politikmodells zu erfassen? Wenn man gar zu sehr in der Gegenwart nach den Prämissen und Versprechen einer »künftigen« demokratischen Politik gesucht und darüber vergessen hätte, die Trägheitspunkte und Neigungslinien der Institution Europa zu berücksichtigen, die sich über sechzig Jahre hinweg auf dem Boden des Binnenmarktes und der wirtschaftlichen Integration konsolidiert hat? Dabei lässt sich auf der Grundlage einer Vielzahl historischer, juristischer und sozialwissenschaftlicher Studien eine andere Geschichte erzählen: eine zugegeben weniger heroische Geschichte, die stattdessen die Entstehung einer europäischen Regierung im Aufbau eines auf kontinentaler Ebene regulierten Binnenmarktes verortet.
Das vorliegende Werk beabsichtigt aufzuzeigen, dass diese ursprüngliche, unter dem Zeichen der Unabhängigkeit und des Expertentums entstandene Europapolitik den Weg gebahnt hat, auf dem sich die europäische Integration noch heute befindet. Innerhalb des Politikmodells, das sich so abzeichnet, wird den »Unabhängigen« – nämlich dem Trio aus Gerichtshof, Europäischer Kommission und Zentralbank – eine besondere Nähe zum europäischen Gemeinwohl bescheinigt, während die Legitimierung durch den Wähler auf eine Restkategorie beschränkt bleibt.
Somit nimmt die Politik in der Union neuartige Formen an, die es aufzufinden und zu inventarisieren gilt. Durch den Nachweis der speziellen Kontinuität dieser europäischen Regierung ist dieses Werk auch eine – in diesem Fall stärker politisch akzentuierte – Einladung, neue Wege für eine wirkliche Demokratisierung der Union zu erkunden. In einem Europa, das sein Schicksal beharrlich in die Hände der »Unabhängigen« und der Experten legt, befindet sich die Strategie der »Parlamentarisierung«, die seit mehr als zwanzig Jahren als Hauptstrategie zur Behebung des »Demokratiedefizits« gilt, offenbar in einem ständigen Dilemma. Das Warten auf eine demokratische Revolution, die das Parlament wieder in den Mittelpunkt des politischen Geschehens stellen würde, läuft Gefahr, zu einer weiteren europäischen Chimäre zu werden, zumal wenn sich – wie durch den Fiskalpakt und den Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus – die Entscheidungs- und Kontrollbefugnisse der »Unabhängigen« unaufhörlich vergrößern.
Es ist an der Zeit, diesen Sonderweg der europäischen Regierung zur Kenntnis zu nehmen und jene Territorien zu erforschen, die beim Nachdenken über die europäische Demokratie allzu lange übersehen wurden. Egal, ob dies aufgrund geistiger Trägheit angesichts der vermeintlichen Komplexität ihrer Abläufe geschah oder – was kaum besser wäre – aufgrund der ihnen unterstellten Neutralität, Tatsache ist jedenfalls: Der Gerichtshof der Europäischen Union, die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank und die zahlreichen Exekutivagenturen der Union sind für viele weiterhin eine terra incognita, als sollten sie dauerhaft aus dem Blickfeld der europäischen Öffentlichkeit verbannt bleiben.
Diese Nachlässigkeit war bereits kritikwürdig, als der Gerichtshof und die Kommission den gemeinsamen Binnenmarkt aus der Taufe hoben; sie wird heute, da die EZB und die europäische »Troika« sich täglich in die Politik der von Insolvenz bedrohten Staaten einmischen und sich rühmen, den »Euro gerettet« zu haben, gänzlich unentschuldbar.
Durch Analyse der charakteristischen Merkmale dieser »Unabhängigen« möchte dieses Werk unser geistiges Rüstzeug verbessern, wenn es um die Entschlüsselung ihrer politischen Rolle geht oder das Nachdenken darüber, welche neue Beziehungen in der demokratischen Praxis geknüpft werden könnten. Die Anomalität der europäischen Demokratie findet sich nämlich nicht dort, wo man sie vermutet: Es geht weniger um den Widerstand Europas gegen die »Parlamentarisierung« als um seine Entschlossenheit, die »Unabhängigen« aus dem politischen Raum herauszuhalten. Um die Regierung der Union wirklich zu demokratisieren, ist es weniger sinnvoll, (ein weiteres Mal) auf nationale Politikmodelle zurückzugreifen, als die »unabhängigen« Institutionen selbst zu demokratisieren: durch Förderung politischer Kontroversen über ihre Aufgaben und Befugnisse, durch das Aufbrechen ihrer geschlossenen Entscheidungssysteme, indem abweichende Meinungen aus ihren Reihen aufgespürt und publik gemacht werden, beziehungsweise durch Gewährleistung ihrer sozialen und politischen Repräsentativität. Durch dieses Fragen nach den Bedingungen ihrer Wiedereingliederung in den politischen Prozess versteht sich das Buch als Beitrag zur politischen und geistigen Debatte über die europäische Demokratie, die in den letzten Jahren vor allem in Deutschland und Großbritannien begonnen hat, in Frankreich aber bisher eigentümlich verhalten geblieben...