1 Krankheit
Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der darauf saß, des Name hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach. Und ihnen ward Macht gegeben, zu töten den vierten Teil auf der Erde mit dem Schwert und Hunger und mit dem Tod und durch die Tiere auf Erden.
Die Offenbarung des Johannes 6,8
Der Krieg, den Krankheiten und Ärzte auf dem Schlachtfeld des Fleisches ausfechten, hat einen Anfang und eine Mitte, aber kein Ende. Die Geschichte der Medizin ist alles andere als eine simple Abfolge triumphaler Erfolge. Geschichten wie die von der Büchse der Pandora oder vom Sündenfall deuten es an. Seuchen und Pestilenz sind mehr als unvermeidliche Gefahren, die hoffentlich zu überwinden sind: Wir haben sie uns zum großen Teil selber zuzuschreiben. Epidemien kamen mit der Zivilisation auf, und Krankheiten waren und sind ebenso ein soziales Produkt wie die Medizin, die sie bekämpft. Zivilisation bringt nicht nur Unzufriedenheit, sondern auch Krankheit mit sich.
Anthropologen zufolge trat vor etwa fünf Millionen Jahren der erste Affenmensch in Afrika auf, der Australopithecus mit seiner niedrigen Stirn und dem kräftigen Kiefer. In nur drei Millionen Jahren entwickelte sich unser aufrechtgehender Vorfahr, der Homo erectus mit seinem großen Gehirn. Er lernte, Feuer zu machen und Steinwerkzeuge zu benutzen und schließlich das Sprechen. Dieser Allesfresser breitete sich vor etwa einer Million Jahren nach Asien und Europa aus, und eine direkte Linie führt, um 150000 v. Chr., zum Homo sapiens.
1 Der Tod auf der Weltkugel.
Frontispiz aus English Dance of Death, Thomas Rowlandson, 1816.
Als Jäger und Sammler in einer rauhen und gefährlichen Lebenswelt führten unsere steinzeitlichen Ahnen zwar nur ein kurzes Leben, entgingen aber den Seuchen, die spätere Gesellschaften befallen sollten. Sie lebten als Nomaden in kleinen, verstreuten Gruppen, ähnlich den Buschleuten der Kalahari. Ansteckende Krankheiten wie Pocken, Masern, Grippe und dergleichen müssen so gut wie unbekannt gewesen sein, da die dafür verantwortlichen Mikroorganismen einer hohen Bevölkerungsdichte mit entsprechend großen Zahlen anfälliger Individuen bedürfen. Diese isolierten Jäger und Sammler blieben nicht lange genug an einem Ort, um Wasserquellen zu verschmutzen oder Unrat zu hinterlassen, der seuchenverbreitende Insekten anzieht. Vor allem aber hielten sie keine zahmen Tiere, welche in der Geschichte des Menschen eine sehr schillernde Rolle spielen: Haustiere machten einerseits die Zivilisation erst möglich, waren andererseits aber auch die Ursache anhaltender und oft fataler Krankheiten.
Als der Mensch die Erde kolonisierte, wurde er selber von Krankheitserregern kolonisiert. Dazu gehörten parasitische Würmer und Insekten – Helminthen (Eingeweidewürmer), Flöhe, Zecken und Arthropoden (Gliederfüßler); aber auch Mikroorganismen wie Bakterien, Viren und Einzeller, deren ultraschnelle Reproduktionsrate im Wirt schwere Krankheiten verursacht, dem Überlebenden jedoch – dies ist der Silberstreif am Horizont – in der Regel eine gewisse Immunität gegen Neuansteckung verschafft. Solche mikroskopischen Feinde haben sich mit dem Menschen in einem evolutionären Überlebenskampf verzahnt. Ein Kampf, der weder in Sieg noch in Niederlage, sondern nur in eine prekäre Koexistenz mündet.
Als die menschliche Rasse sich vervielfachte, zog sie aus Afrika zunächst in die warmen Regionen Asiens und des südlichen Europa, dann auch weiter nach Norden. Nomadische Lebensformen setzten sich bis ans Ende der letzten Eiszeit (des Pleistozäns) fort, vor circa 12000 bis 10000 Jahren. Da die Wildbestände abgenommen hatten und es keine weiten, unbesiedelten Gebiete mit reichem Wildbestand mehr zu erobern gab, trieb der Bevölkerungsdruck die Menschen dazu, den Boden zu bestellen.
Vom Hunger bedroht, lernten die Menschen durch Ausprobieren, natürliche Ressourcen zu erschließen und ihre Nahrung selber anzubauen. Sie begannen, wilde Gräser als Getreide zu züchten – Weizen, Gerste, Reis, Mais usw. – und Hunde, Rinder, Schafe, Ziegen, Schweine, Pferde und Geflügel zu domestizieren. Innerhalb von wenigen Jahrtausenden wurden aus Steinzeitjägern Hirten und Ackerbauern, die ihre weniger entwickelten Nachbarn beherrschten. Die Menschheit bestand ihren ersten Überlebenstest.
Seßhaftigkeit, Haustierhaltung und systematische Landwirtschaft ermöglichten ein zunehmendes Bevölkerungswachstum. Wälder roden, die Ernten einbringen und Essen zubereiten waren allesamt arbeitsintensive Tätigkeiten, die viele Hände erforderten, welche jetzt auch ernährt werden konnten. Solche Entwicklungen führten mit der Zeit zur Herausbildung stärker organisierter und dauerhafterer Gemeinschaften wie Dörfer und Städte mit Anführern, Gesetzen und sozialen Hierarchien, sowie in der Folge mit Gerichtsbarkeit und Bürokratie. Neben anderen Berufen und Autoritäten kamen jetzt auch Heiler auf.
Die Ausbreitung der Landwirtschaft bewahrte den Menschen vor der »Malthusischen Krise« des Verhungerns, erzeugte jedoch eine neue Gefahr: ansteckende Krankheiten. Denn nun sprangen Krankheitserreger, die einst ausschließlich auf Tiere beschränkt gewesen waren, durch lange und komplexe evolutionäre Prozesse auf Menschen über: Tierseuchen überwanden die Artenschwelle und mutierten zu Menschenseuchen. Im Verlauf der Geschichte haben solche Darwinschen Anpassungen dazu geführt, daß der Mensch heute mehr als sechzig mikroorganische Seuchen mit Hunden teilt, und nur unwesentlich weniger mit Rindern, Schafen, Ziegen, Schweinen, Pferden und Geflügel.
In der Jungsteinzeit steuerten Rinder Tuberkulose, Pocken und andere Viren zum Erregerbestand beim Menschen bei. Schweine und Enten gaben ihre Grippeviren weiter, während Pferde Rhinoviren übertrugen, darunter nicht zuletzt das gemeine Erkältungsvirus. Masern sind eine Folge der Übertragung des Morbillivirus (Hundestaupe und Rinderpest) von Hunden und Rindern auf Menschen. Ein jüngeres Beispiel dieser Entwicklung ist die heutige BSE/CJK-Krise – Rinderwahn (Bovine Spongiforme Encephalopathie) als Ursache der menschlichen Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. Auf Habgier ausgerichtete und schludrige Landwirtschaftsmethoden werden den Sprung weiterer Seuchen von Tieren auf Menschen zunehmend begünstigen.
Der Mensch erwies sich noch in anderer Hinsicht als anfällig. Tiere in Haus und Stall sind ebenso wie Ungeziefer Träger von Salmonellen und anderen Bakterien; mit Fäkalien verunreinigtes Wasser verbreitet Kinderlähmung, Cholera, Typhus, Hepatitis, Keuchhusten und Diphtherie; und Kornspeicher werden durch Bakterien, giftige Pilze, Nagetierexkremente und Insekten verseucht. Kurzum, die Seßhaftigkeit lud auch Seuchen ein, sich niederzulassen.
Unterdessen nahmen im menschlichen Körper Würmer ihren festen Wohnsitz. Der parasitische Spulwurm Ascaris entwickelte sich im Menschen wahrscheinlich aus Ascaris suis (dem Spulwurm des Schweins) und führte zu Durchfall und Unterernährung. Andere wurmartige Helminthen besiedelten den Darm, darunter der meterlange Hakenwurm und die Fadenwürmer, die für die tropische Elephantiasis und die Onchozerkose (Flußblindheit) verantwortlich sind. Schwere Krankheiten wurden endemisch, wo immer die Landwirtschaft auf Bewässerung basierte – in Mesopotamien, Ägypten, Indien und entlang den großen Flüssen Südchinas. In den Reisfeldern gelangten Parasiten in den Blutkreislauf von Arbeitern mit nackten Füßen, so etwa der Saugwurm Schistosoma (Pärchenegel), der Bilharziose oder Schistosomiasis verursacht.
Die dauerhafte Seßhaftigkeit schuf so ideale Bedingungen für Insekten, Würmer und Parasiten. Darüber hinaus führte die Landwirtschaft zu einer übermäßigen Abhängigkeit von stärkehaltigen Monokulturen mit niedrigem Eiweiß-, Vitamin- und Mineralgehalt, wie Mais. Durch einseitige Ernährung sind Menschen anfälliger für Krankheiten, und Nährstoffarmut verursachte denn auch Pellagra, Marasmus, Kwashiorkor, Skorbut und andere Mangelkrankheiten. Beim Übergang von der nomadischen zur jungsteinzeitlichen Gesellschaft wurde das Gleichgewicht zwischen Krankheit und Gesundheit gestört, das Pendel schlug zur falschen Seite aus: Infektionen wurden häufiger, die Vitalität nahm ab, die Körpergröße ging zurück.
Die Seßhaftigkeit brachte auch die Malaria mit sich, die bis in unsere Zeit eine Geißel in den wärmeren Klimazonen und bei anhaltender Klimaerwärmung vielleicht sogar weiter auf dem Vormarsch ist. Bei der Umwandlung von Wäldern in Agrarland entstanden zunächst südlich der Sahara jene warmen Wasserrinnen und -löcher, welche ideale Brutstätten für Moskitos bilden. Die Symptome des Malariafiebers waren den Griechen zwar schon bekannt, konnten wissenschaftlich jedoch erst um 1900 erklärt werden, als die neue Tropenmedizin nachwies, daß Malaria durch den mikroskopisch kleinen, einzelligen Parasiten Plasmodium, der in der Anopheles-Stechmücke lebt, hervorgerufen wird. Die Parasiten werden durch den Stich der Mücke auf den Menschen übertragen und gelangen über den Blutkreislauf in die Leber, wo sie sich während einer Inkubationszeit von mehreren Wochen vermehren. Anschließend kehren sie ins Blut zurück, greifen die roten Blutkörperchen an und verursachen wiederkehrende heftige Schüttelfröste und hohes Fieber.
Die Malaria breitete sich über Afrika, das bis heute stark malariaverseucht ist, in alle landwirtschaftlichen Siedlungen des Nahen und Mittleren Ostens und des Mittelmeers aus. Auch Indien erwies sich als empfänglich für die Infektion, ebenso die...