Die Chronologie des Entführungsfalls
Montag, 2. März 1998
Frühmorgens, die genaue Uhrzeit kennen wir nicht, setzt sich Wolfgang Přiklopil hinter das Steuer seines Mercedes-Benz-Kastenwagens. Die Ladefläche ist jetzt von außen nicht mehr einsehbar, die Scheiben hat er mit schwarz eingefärbten Folien beklebt. Dabei hat ihm seine Mutter geholfen. Die Maßnahme begründete er damit, dass er Werkzeuge und andere Sachen transportieren und sie vor fremden Blicken schützen wolle.
ca. 7.00 Uhr
Brigitta Sirny, damals 47, und ihre zehnjährige Tochter Natascha haben einen kleinen Streit miteinander. Es ist schon spät, und Natascha soll pünktlich in der Schule sein. Aber die Kleine bummelt. Ein Wort gibt das andere, und im Vorübergehen gibt die genervte Mutter dem Kind einen Klaps auf den Mund. Natascha ist gekränkt und spricht kein Wort mehr mit ihr.
Die Zehnjährige ist eine Nachzüglerin. Sie hat zwei bereits erwachsene Halbschwestern, die aus einer früheren, längst geschiedenen Ehe ihrer Mutter stammen. Auch ihre Eltern, die nicht miteinander verheiratet waren, haben sich getrennt. Ihr Vater, der Bäcker Ludwig Koch, achtet darauf, dass er den Kontakt zu seiner Tochter behält, und holt sie an den Wochenenden häufig zu sich. Für ihre Mutter, Absolventin einer Wiener Modeschule, ist es wichtig, dass die Kleine immer wie aus dem Ei gepellt aussieht. Sie schneidert ihr immerzu neue Kleider, sodass Natascha unter den Kindern im Kindergarten wie eine kleine Prinzessin hervorsticht.
An diesem Morgen schnappt sich Natascha ihren roten Anorak, greift zur Schultasche und verlässt die Wohnung mit einem beleidigten »Tschüß«. Das Angebot ihrer Mutter, sie zur Schule zu fahren, hat sie abgelehnt.
Anlass für die Streiterei ist gewesen, dass ihr Vater sie am Vorabend nicht, wie vereinbart, um 18.00 Uhr, sondern wie so oft verspätet zurückbrachte und sie, da er in Eile war, im Dunkeln am Auto absetzte, statt sie bis an die Haustür zu begleiten.
»Bedrückt und deprimiert darüber bin ich losgegangen, weil ich jetzt dafür bestraft werde«, wird uns Natascha Kampusch später erzählen. »Ich hatte mir vorgenommen, mit meiner Mutter nicht zu kommunizieren, ihr sozusagen die kalte Schulter zu zeigen. Ich habe mir auch fest vorgenommen, mich diesmal mit ihr wirklich nicht zu vertragen. Es könnte ja einem von uns was passieren, und man sollte ja nie im Streit auseinandergehen. Das hat sie nicht an dem Morgen, aber sonst immer gesagt. Und ich dachte mir, mir ist bis jetzt nichts passiert, und ich probiere das jetzt mal aus, mal schauen, es wird sicher nichts passieren.«
Brigitta Sirny tritt auf den Balkon und will ihr vom siebten Stock aus nachwinken. Das macht sie in den seltenen Fällen, wenn Natascha mal ohne sie zur Schule geht. Doch diesmal schaut Natascha nicht zu ihr hoch, sondern hält den Blick trotzig nach vorne gerichtet. Brigitta Sirny sieht ihr nach, bis sie zwischen den Hochhäusern verschwunden ist. Diese letzten Bilder ihres Kindes werden sich in ihre Seele einbrennen und sie achteinhalb Jahre Tag und Nacht begleiten.
Die Rennbahnsiedlung, in der Natascha mit ihrer Mutter lebt, wurde Mitte der siebziger Jahre erbaut und gehört zu den größten Gemeindebauten Wiens mit heute etwa 7000 Einwohnern. Unzufriedenheit mit dem stetig wachsenden Ausländeranteil hat der zuwanderungsfeindlichen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) bei den Gemeinderats- und Bezirksvertretungswahlen 1996 im 22. Wiener Bezirk Donaustadt, zu dem die Siedlung gehört, Stimmenzuwächse zwischen sieben und acht Prozent beschert. Damit hat sie als zweitstärkste Kraft den Abstand zu den Sozialdemokraten (SPÖ) deutlich verringert, die erdrutschartige Verluste haben hinnehmen müssen. 2010 stimmt jeder Dritte wahlberechtigte Bewohner der Trabantenstadt für die rechtspopulistische Partei, darunter auch alteingesessene Migranten, die sich gegen den Zuzug von Neuzuwanderern wehren. Wegen der anfänglich hohen Kriminalitätsbelastung hat die Siedlung ein negatives Image. Nach einer sich über ein Jahrzehnt hinziehenden Generalsanierung ergibt eine Anfang der 2000er-Jahre erarbeitete Studie, dass sich die Bewohner der Rennbahnsiedlung weitgehend wohlfühlen und die Sicherheit in der Anlage positiv bewerten. Vielleicht auch aufgrund des veränderten Stimmungsbildes ehren sie 2009 mit gewissem lokalen Stolz posthum einen bis in die USA und Kanada bekannt gewordenen internationalen Popstar, der einer der ihren war: Johannes Hölzel alias Falco. Er lebte, wenn auch selbst nur für kurze Zeit, mit seiner Mutter4 in der Siedlung, durch die ein Weg führt, der nun den Namen »Falcogasse« trägt. Der Künstler verunglückte am 6. Februar 1998 tödlich, gut drei Wochen bevor sich das Leben von Natascha Kampusch dramatisch ändern wird.
zwischen ca. 7.13 Uhr und 7.18 Uhr
»Ich ging durch das Einkaufszentrum über die Straße, eine Riesenkreuzung, zur Schule. Und irgendwann am Schulweg bemerkte ich einen Mann in einem weißen Kastenwagen mit einer weißen Sonnenmütze, also mit so einem Hut, unauffällig gekleidet, der auf mich gewirkt hat wie ein Tapezierer, Maler, Anstreicher oder wie ein Handwerker. Ich dachte zuerst, irgendwie ist es so seltsam. Vielleicht sollte ich die Straßenseite wechseln. Dann habe ich mir das doch überlegt und mir Mut zugesprochen und dachte, der wird dich schon nicht beißen und kannst halt einen Riesenbogen um ihn machen. Das ist eh nur ein kurzer Moment, und dann hast du ihn hinter dir. Und dann kam ich immer mehr auf ihn zu, und mit einem Mal schnappt mich die Person, packt mich wie einen Sack Zement und wirft mich in diesen Kastenwagen hinein.« Dabei verpasst er ihr einen Faustschlag aufs Auge.
Der Mann ist Wolfgang Přiklopil.
»Mittäter habe ich keine gesehen. Er war alleine. Er hat mich runter auf den Boden gedrückt und gesagt, wenn ich mich rühr’, dass es mir dann schlecht geht. Ich wollte schreien, es kam leider kein Laut, es wurde ein stummer Schrei. Und dann saß ich verwundert, überrascht und verängstigt in diesem Auto und angeherrscht von diesem Entführermenschen. Der ist mit mir durch die Seitentür eingestiegen, hat sie zugezogen, sich hinters Steuer geklemmt, alles in Sekundenbruchteilen, und ist dann sofort losgefahren. Natürlich gemächlich, dass es nicht auffällt, er wollte ja keine Aufmerksamkeit auf sich lenken.«
Der Faustschlag ist offenbar nicht eingeplant gewesen.
»Das tat ihm dann auch leid. Weil er keine Blessuren sehen konnte. Was auch witzig ist. So eine Mimose im Prinzip. Er konnte niemanden weinen sehen, er konnte keinen blauen Flecken sehen. Und wenn er sich wo geschnitten hat, hat er auch die Krise gekriegt.«
Er bedient sich anderer Mittel, um das Kind während der Fahrt gefügig zu halten.
»Er hat mir ein Betäubungsmittel in einer Art Tiegel gezeigt und gesagt, wenn ich mich jetzt bewege, betäubt er mich. Vielleicht war es auch nur ein Schmierfett, und er hat es als Betäubungsmittel ausgegeben.«
Natascha Kampusch liegt mit ihrer schweren Schultasche auf dem Rücken auf der Ladefläche des Transporters, rührt sich nicht.
»Wir sind dann ewig im Kreis herum gefahren. Ich konnte das sehen durch die Bäume. Weil, wenn ich am Abend mit meiner Mutter nach Hause fuhr und schon müde war, legte ich mich auch immer runter und sah dann eben nur die Masten und die Bäume. Und so wusste ich auch ungefähr, in welche Richtung wir fuhren. Denn ich durfte mich ja nicht aufsetzen und aus dem Fenster schauen.«
Přiklopil beginnt ein Gespräch mit dem Kind. Was er damals gesagt hat, weiß Natascha Kampusch nicht mehr. »Ich hab’ mich einfach nur erkundigt, ob er mich jetzt missbraucht oder was er mir alles antut und wo wir hinfahren. Weil ich mir dachte, bestenfalls werde ich missbraucht, schlimmstenfalls werde ich an einen Kinderpornoring oder so weiterverscherbelt. Er hat zwar gemeint, ich soll ruhig sein, aber ich habe ihn trotzdem gefragt. Er war total irritiert und hat gesagt, wenn ich nicht still bin … Aber das war mir egal, weil ich dachte, na ja, er wird mich sowieso umbringen, warum sollte ich dann irgendwie Rücksicht nehmen?«
Bis jetzt kann sich Wolfgang Přiklopil ziemlich sicher sein, dass sein Verbrechen noch unbemerkt geblieben ist – da ist keine plötzlich wachsende Dichte an Polizeifahrzeugen, an Blaulichtern oder Sirenen, ein ganz normaler Montagmorgen also.
Der Schein trügt.
Wie Natascha ist auch die zwölfjährige Ischtar A. auf dem Weg zur Schule. Sie wird Zeugin der Entführung. Sofort erzählt sie ihrer Klassenlehrerin Margit R. davon. Doch die Lehrerin misst der Schilderung keine besondere Bedeutung bei. Ischtar verfüge über einen eingeschränkten deutschen Wortschatz und neige zu verbalen Übertreibungen, wird sie später erklären. Daher habe sie auch nicht die Polizei alarmiert.
Dass der Zeitpunkt der Entführung später so exakt eingegrenzt werden kann, liegt an einer Zeit-Weg-Berechnung, die Beamte des Sicherheitsbüros (SB) am 26. Februar 2002 vornehmen. Auf der Grundlage, dass Natascha nach Angaben ihrer Mutter die Wohnung zwischen 7.00 Uhr und 7.02 Uhr verlassen hat, gehen zwei Kriminalbeamte »in normalem, eher gemäßigtem Gehschritt« die gesamte Wegstrecke bis zur Schule ab. Dabei rechnen sie eine Ampelphase von 1:30 Minuten mit ein und kommen so bis zum »Vorfallsort laut Beobachtung Ischtar A.« auf 11:56 Minuten. Durch eine am 21. September 2009 vom Bundeskriminalamt vorgenommene »geografische Visualisierung (Zeit-/Weg-Historie)« unter Einschluss bestehender Zeugenaussagen wird eine noch präzisere Berechnung möglich, und der Tatzeitpunkt kann somit auf...