Vom Schlesischen Bahnhof zum Kurfürstendamm: Eine kriminalhistorische Topographie
Eine Topographie der Berliner Unterwelt zu skizzieren ist kein leichtes Unterfangen, denn es gibt kein homogenes sogenanntes Verbrecherviertel. Ähnlich einem Flickenteppich erstreckt sich das »dunkle Berlin« über ein weitläufiges Areal, dessen Hauptbrennpunkte in den östlichen und nördlichen Stadtteilen konzentriert sind: angefangen vom Schlesischen Bahnhof über den Alexanderplatz in Richtung Norden, über das Scheunenviertel beziehungsweise die Spandauer Vorstadt und den Stettiner Bahnhof bis nach Moabit und in den Wedding. Ein weiterer Brennpunkt der Kriminalität konzentriert sich im Berliner Westen rund um den Bülowbogen, zieht sich bis zum Nollendorfplatz und von hier aus weiter zum Wittenbergplatz und Kurfürstendamm.
Rund um den Alexanderplatz
Versetzen wir uns zurück in das Jahr 1928 und beginnen wir unseren Spaziergang durch das »dunkle Berlin« unweit des Polizeipräsidiums, jenes zwischen 1885 und 1889 vom Stadtbaurat Hermann Blankenstein errichteten roten Backsteinkolosses am Alexanderplatz, wo sich, so Curt Moreck, »gleichsam unter dem Protektorat der Polizei« die Verbrecherwelt konzentriert. Treffen wir uns vor dem Haupteingang des Kaufhauses Hermann Tietz, bei »Tietzen«, wie die Berliner sagen. Mit Erstaunen stellen wir fest, dass die dicke Berolina, die bronzene Heroine, die vor kurzem noch einfältig grinsend über den Platz schaute, inzwischen ihren Sockel verlassen hat. Sie ist, wie wir erfahren, vorübergehend in irgendeinem Depot verschwunden. Der Grund: Die Gegend rund um den Alexanderplatz ist zurzeit Großbaustelle, denn die U-Bahn wühlt sich von hier aus weiter nach Osten durch. Wohin man auch blickt: Allenthalben bestimmt Abriss das Bild. Aus reiner Neugier gehen wir zunächst ein Stück in die Landsberger Straße hinein. Die heruntergekommenen Mietskasernen sind als nächstes dran. Ganze Häuserzeilen stehen bereits als Ruinen, ohne Türen und Fenster, ausgeschlachtet von armen Leuten auf der Suche nach Brennholz. Die Straße ist menschenleer.
Des Nachts jedoch wird sich diese Totenstadt mit geisterhaftem Leben erfüllen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schlurft bereits der erste Obdachlose mit seinem schmutzigen Lumpenbündel in einen der verwaisten Keller, um zwischen Schutt, Gerümpel und Unrat sein Nachtlager aufzuschlagen. Eine ganze Schar Gleichgesinnter wird es ihm im Laufe der Nacht noch gleichtun. Hier ist es immerhin besser als im städtischen Asyl in der Fröbelstraße, wo man sich nicht nur allerlei ansteckende Krankheiten holen kann, sondern auch noch beklaut wird.
Im ebenfalls abbruchreifen Nebenhaus verschwindet gerade eine Nutte mit ihrem Freier. Für sie ist es ein Glücksfall, denn eine wohlfeilere Absteige wird sie gewiss nirgendwo in der Stadt finden. Sie ist nur eine von Hunderten von Straßendirnen aus der Münzstraße oder der Dragonerstraße (heute Max-Beer-Straße), die auch in dieser Nacht wieder in den Abrisshäusern ihrem Geschäft nachgehen werden.
Vor zwei Tagen erst haben Bauarbeiter im Keller eines solchen Abrisshauses eine Tote gefunden. Der Mordkommission ist es bisher nicht gelungen, die Leiche zu identifizieren. Auch die Todesursache ist noch ungeklärt. War es Mord? Selbstmord? Ein tragischer Unfall? Ein ganz ähnlicher Fall wird uns später noch beschäftigen …
Gehen wir zurück zum Alexanderplatz, am Bahnhof vorbei und in die Dircksenstraße, wo sich die Zentralmarkthallen unmittelbar an den Stadtbahnviadukt anlehnen. Die Berliner sind stolz auf ihre Stadtbahn. Oberbaurat August Dircksen hat diese erste Viaduktbahn Europas, sie ist am 7. Februar 1882 eröffnet worden, innerhalb von nur sechs Jahren errichten lassen. Die 731 Viaduktbögen, sie erstrecken sich vom Schlesischen Bahnhof bis zum Bahnhof Zoologischer Garten, beherbergen in der Nähe der Bahnhöfe Kneipen, Restaurationsbetriebe oder Läden, weiter entfernt finden sich Pferdeställe, Garagen, Lagerräume oder Kulissenunterstände.
Die ebenfalls von Stadtbaurat Blankenstein projektierten, nach nur dreijähriger Bauzeit im Mai 1886 eröffneten Zentralmarkthallen sind mit 11.000 Quadratmetern Grundfläche um ein Viertel größer als Les Halles von Paris und dreimal so groß wie die Londoner Markthallen. Zudem verfügen die Berliner Zentralmarkthallen über einen direkten Eisenbahnanschluss. Zu diesem Zweck ist der Viadukt auf der Höhe der Markthallen für den Güterverkehr um drei Gleise erweitert worden. Hydraulische Aufzüge bringen die angelieferten Waren direkt ins Erdgeschoss oder in den Keller.
Nur die Fischhändler müssen ihre Waren mit eigenen Fuhrwerken von den jeweiligen Eingangsbahnhöfen direkt abholen. Lachs und Stör aus der Ostsee, Schellfisch, Kabeljau, Hering und Schollen aus der Nordsee kommen in speziellen Fischgüterwagen an. In einigen der sieben direkt mit den Markthallen verbundenen Viaduktbögen haben die Fischgroßhändler ihre Niederlassungen. Für Hummer gibt es hier sogar ein Riesenbassin mit Meerwasser.
Rund um die Markthallen herrscht immer Hochbetrieb. Die Anfahrtsstraßen sind von Lastkraftwagen und Fuhrwerken verstopft, dazwischen Markthelfer mit Handkarren und die berüchtigten, ständig keifenden Berliner Marktweiber. Es ist laut und schmutzig. Papier, Holzwolle, Apfelsinenschalen, Gemüseabfälle und allerlei anderer Unrat zieren das Pflaster. Obdachlose und die Ärmsten der Armen lungern herum und sammeln nach Geschäftsschluss heruntergefallenes oder angefaultes Obst auf. Manchmal haben die Händler auch Spendierhosen an und verschenken leicht verderbliche, nicht mehr verkäufliche Ware.
Freilich nehmen es nicht alle Händler mit der Hygiene so genau. Da ist zum Beispiel die Marktfrau, die ihren nicht mehr ganz einwandfreien Harzer Käse statt in die Mülltonne in einen Bottich mit Eiswasser wirft. Dann krabbeln die Maden heraus. Morgen wird sie ihn wieder als »Spezialität« verkaufen.
In den Stadtbahnbögen rund um den Alexanderplatz finden sich zahllose Kaschemmen und billige Restaurationsbetriebe, in denen allerlei zwielichtige Gestalten verkehren. In unmittelbarer Nähe des Polizeipräsidiums befindet sich die berüchtigte »Kruke«, in der sich tagsüber die Obdachlosen versammeln. Die beliebte Wärmehalle ist ihre Informationsbörse und, obwohl streng verboten, ihre Handelszentrale. Bei Wohnungseinbrüchen erbeutete Textilen – im Winter sind besonders warme Mäntel gefragt – finden hier reißenden Absatz. Auch Schrippen-Emil, von dem Willy Pröger in seinem Buch erzählt, dürfte in der »Kruke« Stammgast sein. »Wollt’a Schrippen koof’n, sechse ha ick noch, alle sechs zwanzich Fennje, viere sin beschmiat«, zitiert Pröger den Bettler, der aus einem Sandsack Stullen und Schrippen anbietet, die er von gutmütigen Hausfrauen erbettelt hat. Gegen Abend, wenn die »Kruke« schließt, zieht, namentlich in den Wintermonaten, ein trauriger Zug abgerissener Gestalten in Richtung Prenzlauer Berg in die Fröbelstraße, in die »Palme«, das städtische Obdachlosenasyl.
In unmittelbarer Nähe der »Kruke«, in einem weiteren Stadtbahnbogen, finden wir ein Lokal mit dem Namen »Zum großen Seidel«. Das »Milljöh« kennt es besser unter dem Namen »Brillantenbörse«, denn hier werden Schmuck, Edelsteine und bei Wohnungseinbrüchen erbeutetes Tafelsilber verschoben. Zahlreiche Hehler haben in dieser Kaschemme fliegende Büros eingerichtet.
Dass in den Kneipen und Kaschemmen Pläne für Verbrechen ausgeheckt werden, ist weit mehr als nur ein Klischee. »Die Wolfsschlucht« im Stadtbahnbogen 72, unweit des Polizeipräsidiums, gilt als eine solche Verbrecherkaschemme, in der schon so mancher schwere Junge festgenommen werden konnte. Kaschemmen dieser Art sind im Übrigen beliebte Aufenthaltsorte für Vigilanten, jene Polizeispitzel, die auch Achtgroschenjungen genannt werden. In der Regel sind es Kleinkriminelle, die das Milieu im Auftrag der Polizei ausspionieren, in der Hoffnung, dank dieser Hilfsleistung in eigener Sache glimpflich davonzukommen.
Zwischen Münz- und Linienstraße: Im Scheunenviertel
Unser nächstes Ziel ist die Spandauer Vorstadt, das sogenannte Scheunenviertel, das strenggenommen gar nicht mehr das Scheunenviertel ist, denn das alte, Elend beherbergende, wirkliche Scheunenviertel existiert schon längst nicht mehr. Im Zuge einer großangelegten Sanierungsaktion hatte man 1906 damit begonnen, die heruntergekommenen Häuser, insgesamt einhundertneunzehn, abzureißen. Das gesamte Areal wurde dem Erdboden gleichgemacht, und somit waren auch die alten, berüchtigten Straßen, die Füsilier-, Amalien- und Koblankstraße, verschwunden. Allein die Weydingerstraße blieb, wenigstens dem Namen nach, erhalten. Zunächst wurde das...