Kapitel II.
Mystizismen und Religionen.
Unterschied von Religion und Mystizismus. – Zwischengrade. – Mystische Endekstase. – Ihr Mechanismus und ihre Hauptarten. Sie findet sich in allen Religionen und scheint durch konzentrische Einengung des Bewusstseinsfeldes auf einen fortschreitenden Monoideismus zurückzugehen, bis sie endlich aussetzt.
Ehe wir weitergehen, ist es wichtig den unterschiedlichen Sinn zu erklären, welchen wir den Worten Religion und Mystizismus unterlegen, die eine in ihren Beziehungen zum anderen.
Religion heißt die Hypothese, durch welche die Gottheit oder die Gottheiten dem Geiste begreiflich werden. Mystizismus ist die Ausübung dieses Glaubens vermittels des Hirns der Gläubigen, unter Heranziehung gewisser Hilfspraktiken (Gebete, asketische Gebräuche, Betrachtungen, Gelübde, Beschauungen, geistige Ansteckungen, Vergiftungen usw.).
Der Gläubige kann so schließlich dahin gelangen, seinen Gott in einer Art halluzinatorischer Inbrunst anzurufen und psychisch zu objektivieren. Seiner Einwirkung schreibt er alsdann die mannigfachsten Erscheinungen seines eigenen Körpers oder der ihn umgebenden Welt zu.
Die Religionen sind der Spiegel und gleichsam die Blüte der menschlichen Zivilisationen. Sie sind es, in denen die Völker den synthetischen Ausdruck ihrer moralischen Entwicklung geben. „Es kommt wenig darauf an,“ sagt Revon, „ob die Religion sich von den feineren Empfindungen, der vorgeschritteneren Wissenschaft, der reineren Moral einer Elite überholen lässt. Sie bleibt nichtsdestoweniger, besonders in den Anfängen, die getreueste Widergabe der Vorstellungen der Masse, und nicht allein schöpft sie ihr Dasein aus allen Moralelementen im Leben eines Volkes, sie senkt ihre Wurzeln auch in sein soziales, ja vor diesem sogar in sein materielles Leben. Kurz, in die ganze Tiefe der Kultur, welche ihr das Leben gibt, die sie jedoch beherrscht und als ihre lebendige Blüte krönt. Letzten Grundes ist im Gesamtbilde einer Zivilisation, also die Religion zu studieren; ist sie doch alles in allem nichts als der glänzende und verstärkte Reflex eben dieser Zivilisation selbst, nichts als ihr Ebenbild, vom Herzen der irdischen Wirklichkeiten in Riesenmaßen auf die geheimnisvolle Wolkentiefe des Himmels geworfen.“
So kommt es, dass die neugierig-kindlichen Urmenschen für die verwickeltsten Dinge so bequeme Ursachen finden, und diese ihre Erklärungsmythen umfassen allmählich das ganze Gebiet der ihre Verwunderung reizenden Geheimnisse, von den allgemeinsten Naturerscheinungen bis zu den geringsten Einzelheiten menschlicher Sitte, deren Ursprungspunkt sie vergessen haben.
So sind also die wesentlichen Eigenschaften der primitiven Seele mit Bezug auf Gefühl und auf Intelligenz beschaffen. Wollen wir nun der Entstehung der Götter beiwohnen, so brauchen wir nur zu beobachten, wie dieses subjektive Element, auf sein Objekt angewandt, die es umgebende Welt deutet.
Unter diesem sich umgestaltenden objektiven Element verstehen wir alles, was die lebhafte Aufmerksamkeit des Menschen erregt, was seine Achtung erweckt, alles, was seinen wissbegierigen Verstand in Erstaunen setzt, kurz, alles, was ihm überlegen ist oder scheint.
Zuerst drängt sich die allmächtige Natur seinem Denken und Fühlen auf; denn besonders in den Anfängen ist sie es, in der er lebt und stirbt und durch welche er existiert. Zu allererst wird er daher die großen Naturdinge vergöttlichen, welche seinen Geist blenden und – Wohltat oder Geißel – ihm als schützende Freunde oder als schreckliche Gegner erscheinen.
Wie fasst er diese Naturkräfte auf? Als Kräfte ähnlich ihm selbst. Da bedarf es keiner überklugen Personifizierungen oder komplizierter Überlegungen. Nichts Instinktiveres, Intuitiveres, Spontaneres gibt es, als diesen ursprünglichen Vergleich. Selbst ehe er noch weiß, dass er eine Seele hat, legt er den Naturdingen die Äußerungen dieser Seele bei, geleitet von der unklaren Vorstellung, dass sie auch in jenen existieren müssen, da sie doch in ihm existieren. Er gibt ihnen seine Leidenschaften, seine Vernunft, sein ganzes Leben. Er betrachtet sie als persönliche Wesen, weil er sie sich nicht auf andere Weise denken kann.
Der Irrtum der alten Mythologen, wie Max Müller, war hauptsächlich, da künstliche Erfindungen zu sehen, wo es sich nur um spontane Personifizierungen handelte. Herbert Spencer jedoch, der diese Theorien so lebhaft bekämpft (Prinzipien der Soziologie) verfiel selbst in einen ähnlichen Irrtum, indem er diese primitiven Personifizierungen lediglich den abstrakten Vorstellungen über das Schicksal der Toten zuschrieb.
Herbert Spencers Irrtum bestand darin, dass er die Erklärung eines sehr einfachen Phänomens allzu fern suchte. Wenig Nutzen verspricht es, eine lange Abschweifung ins spiritistische Gebiet zu machen, um sich über so natürliche Personifizierung klar zu werden, wie die des primitiven Animismus. „Selbst wenn man zugibt,“ sagt Albert Reville, „dass die Anbetung des Himmels, der Sonne, der Berge, der Vulkane, der Bäume usw. einzig und allein dem Glauben entsprang, in all diesen metamorphosierte Ahnen zu verehren, so glaubte man damit doch immer, dass diese verschiedenen Erscheinungen beseelt waren. Wann aber ist diese Begriffsverwirrung des Beseelten und Nichtbeseelten wahrscheinlicher, als in Zeitläuften, wo die Reflexion bereits gewachsen war gegenüber der alten Zeit, wo die anfängliche Naivität noch kein Gegengewicht hatte?“ (Religion der nichtzivilisierten Völker) Diese Beobachtung, bemerkt Revon, scheint das System Herbert Spencers deutlich zu widerlegen.
Ganz wie das Kind oder der Urmensch beseelt der Wilde unwissentlich, durch die ganze Ausdehnung der Natur, das Seelenlose. Diese Vermengung des Beseelten und Unbeseelten ist übrigens keine absolute; und man kann sagen, dass sie im ganzen, gemeinhin noch mehr im Gefühl wurzelt, als im Geist. Tatsächlich ignoriert der ganz ursprüngliche Mensch unsere Unterscheidung der Wesen und Dinge keineswegs. Wie das Kind und wie selbst das Tier, weiß er prinzipiell recht gut zu erkennen, was Leben hat und was kein Leben hat. Zu gleicher Zeit aber lässt er sich, infolge seines impulsiven Charakters und seiner begrenzten Kenntnisse, immer wieder dazu verleiten, die Dinge der materiellen Welt zu beseelen. Diese allgemeine Denkungsart, deren Hauptgebiet das Gefühl ist, beschränkt und stützt sich auf ein klareres Begriffsbild, sobald es sich um mit Bewegung ausgestattete Objekte handelt. Gerade hier muss der kulturlose Mensch den sich vor seinen Augen abspielenden merkwürdigen Vorgängen notwendigerweise eine Ursache unterlegen, die der geheimnisvollen Kraft gleicht, welche er in sich fühlt. Sein nebelhafter Verstand überträgt auf alle diese bewegten Dinge den Willen, dessen Bewusstsein er in sich selber hat. Die innige Verbindung von Kraft und Wirkungen, welche ihm eine unklare Erfahrung seines eigenen Wesens unaufhörlich enthüllt, läßt seinen Geist notwendigerweise überall, wo er ähnliche Wirkungen sieht, auch ähnliche Kräfte vermuten. Konnte er einen Dudelsack zuerst für ein lebendes Tier halten, weil ihm dies Instrument Augen zu haben schien, so wird er mit viel mehr Grund eine Taschenuhr, mit ihrem geheimnisvollen Tiktak, als ein persönliches Wesen betrachten, das einen handelnden Willen besitzt. Und wenn er geneigt ist, die kleine glasbedeckte Maschine in seiner Hand so zu betrachten, warum sollte er ein Naturobjekt wie die Sonne anders beurteilen, die Sonne, die mit ganz anders großartiger Bewegung eine wunderbare Gewalt und eine mächtige Wärme vereinigt, alle die noch vergrößerten Eigenschaften lebender Wesen?! So geht die Vermengung des Beseelten und Nichtbeseelten ursprünglich, trotz der ersten vernunftgemäßen Unterscheidungen, hauptsächlich aus einem impulsiven Gefühle hervor und verstärkt sich um ein intellektuelles Element, das um so logischer arbeitet, je mehr die Bewegungserscheinungen die Illusion des Lebens geben.
Dieser anfängliche Irrtum, der einem ganz normalen Vergleich aller eigener Bewegung fähigen Wesen seinen Ursprung verdankt, muß sich unfehlbar weiter entwickeln, vergrößern und schließlich selbst auf die bewegungslosen Gegenstände ausdehnen, weil das klare Gesichtsfeld sich unter dem ungeheueren Wachstum der alles überwuchernden Einbildungskraft am Ende völlig verdunkelt. Später erst, wenn der Urmensch sich selber wiedergefunden hat, wird er den toten Dingen, wenigstens der Mehrzahl von ihnen, ihre rechte Natur zurückgeben, aber auch dann noch wird er, jahrhundertelang, in den mit Bewegung begabten Dingen gleichsam einen Reflex seiner eigenen Seele schimmern sehen.
Ist die Religion also, nach dem Vorausgegangenen, die angenommene Theorie oder Hypothese über die Beziehungen der Gattung zu der höheren Macht, von der sie ausgegangen und abhängig ist, so bleibt jetzt nur noch übrig, die Eigenschaften und Kennzeichen dieser Kraft und ihre mystischen Offenbarungen zu bestimmen. Für die Urmenschen, die Wilden, die Kinder, oder die Kranken (geschwächte, schwachköpfige, geisteskranke, senile), mit einem Wort für die Einfältigsten sind die höheren Mächte ganz allgemein vielfacher Art, sind sie mehr oder weniger in Rangstufen gegliedert, mehr oder weniger in feindliche Heerlager geteilt (Götter und Teufel); alle diese eingebildeten Wesen, geboren aus dem Schrecken und dem Bedürfnis nach einem Stützpunkt im Drange des Lebenskampfes, haben hauptsächlich einen Zug gemeinsam, der darin besteht, dass man sie sich vorstellt ähnlich dem Menschen oder den anderen ihm bekannten Lebewesen, welche auf ihn den tiefsten Eindruck gemacht haben. Daher die Tier- oder Menschengestaltigkeit der primitiven...