Teil 1: Systeme, Kommunikation und Konflikte
1. Systeme und Systemtheorie
Die Systemtheorie ist ein interdisziplinäres Erkenntnismodell, in dem Systeme zur Beschreibung und Erklärung unterschiedlich komplexer Phänomene herangezogen werden. Die Analyse von Strukturen und Funktionen soll häufig Vorhersagen über das Systemverhalten erlauben.
Als System (altgr.: "aus Einzelteilen zusammengesetztes Ganzes") wird allgemein eine Gesamtheit von Elementen bezeichnet, die so aufeinander bezogen oder miteinander verbunden sind und in einer Weise interagieren, dass sie als eine aufgaben-, sinn- oder zweckgebundene Einheit angesehen werden können, als strukturierte systematische Ganzheit. In unterschiedlichen Fachgebieten werden darüber hinaus spezifischere Begriffsverwendungen vorgeschlagen, diskutiert und angewendet (Astronomie, Biologie, Recht, Medizin, Soziologie, Wirtschaft usw.).
Die theoretischen Grundlagen der modernen Systemtheorien lieferten vor allem die Arbeiten des Rechts- und Sozialwissenschaftlers Niklas Luhmann (1927 – 1998). Luhmann übernahm den bislang nur technisch/naturwissenschaftlich verwendeten Systembegriff in die Soziologie. Eine allgemeine Systemtheorie kam bislang im Bereich der Geisteswissenschaften praktisch nicht vor. Luhmann stellte als Soziologe die Frage, wie Gesellschaften entstehen, funktionieren und sich selbst erhalten.1 Als Systemtheoretiker definierte er Gesellschaften als soziale Systeme und warf die Frage auf, was ein solches System überhaupt ausmacht. Luhmann unterschied das System von seiner Umwelt. Eine logisch strenge Fundierung dieses Ansatzes, der zu postontologischen Perspektiven führt, findet sich für Luhmann in den "Laws of Form" des britischen Mathematikers George Spencer Brown.2 Dinge existieren, weil und indem sie sich von anderen unterscheiden. Ein soziales System definiert sich danach selbst, indem es einen Unterschied zu seiner Umwelt markiert. Erst durch die Ziehung seiner "Grenze" hebt es sich von der Umwelt ab und wird zu etwas von der Umwelt Verschiedenem. Die Systemgrenze ist ein Produkt des Systems selbst. Mit anderen Worten: Das System schafft sich selbst. Für Konfliktsysteme ist das ein interessanter Gedanke, auf den wir noch zurückkommen werden.3
1.1. Systeme und Beobachter
Als erster beschrieb um 1950 Ludwig von Bertalanffy (1901 – 1972) Systeme als Interaktionszusammenhänge, die sich von ihrer Umwelt abgrenzen, die wiederum aus anderen Interaktionszusammenhängen besteht.4 Systeme definieren sich also zunächst als Differenz zu ihrer Umwelt. Diese Differenz besteht aber nicht per se, sondern (nur) in der Perspektive des Beobachters. Der Beobachter definiert System und Systemgrenze über einen von ihm gewählten Sinnzusammenhang. Dieser Sinnzusammenhang wird wiederum über die Beobachtung der Interaktionen im System bestimmt. Ein System lässt sich wie folgt definieren:
- Ein System ist eine Menge von Elementen, die in einem abgegrenzten oder abgrenzbaren Bereich so zusammenwirken, dass dabei ein vollständiges, sinnvolles, zweck- und zielgerichtetes Zusammenwirken in einem funktionellen Sinne erreichbar wird.
- Es besteht aus einem Systemkern, einer Systemgrenze, Systemelementen, dem Zusammenwirken dieser Elemente sowie aus Energie oder Signalen. Ein System ist begrenzt und abgrenzbar (System/Umwelt-Differenz).
- Alles außerhalb der Systemgrenze Liegende ist nicht Teil des Systems, sondern dessen Umwelt.
- Wenn etwas über die Systemgrenzen hinweg transportiert werden kann, ist dieses System ein offenes (anschlussfähiges) - sonst ein geschlossenes System.
- Aufbau und Funktionsweise eines Systems hängen von dem Standpunkt des Betrachters ab.
Da Systeme zumindest für eine gewisse Zeit Bestand haben (sonst wären sie nicht wahrnehmbar) und nicht ohne weiteres wieder zerfallen, muss geklärt werden, wie sie entstehen und sich organisieren. Dazu greifen Systemtheoretiker auf das Prinzip der Autopoiese zurück. Der vom chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana für die Biologie geprägte Begriff stellt einen Versuch dar, das charakteristische Organisationsmerkmal von Lebewesen oder lebenden Systemen mit den Mitteln der Systemtheorie zu definieren. Diese Idee wurde zunächst für die Soziologie und später auch für verschiedene andere Gebiete wissenschaftlichen Schaffens fruchtbar gemacht und modifiziert.
Luhmann wandelte damit den von Humberto Maturana und Francisco Varela 5 in der Systembiologie erarbeiteten Grundbegriff der Autopoiesis (griech.: Selbsterschaffung) für die Soziologie ab. Die Frage ist, wie die Abgrenzung/Selbsterschaffung von sozialen Systemen funktioniert. Es muss schließlich einen Impuls zur Bildung von Systemen geben.
Nach den in diesem Kontext verbreiteten Grundideen lassen sich Systeme als sich selbst organisierende Funktionseinheiten verstehen, die ihr Weiterfunktionieren selbst produzieren und sich in spezifischer Weise von ihrer Umwelt differenzieren, etwa durch Ausprägung spezifischer Unterscheidungsweisen. Um ein autopoietisches System zu sein, muss eine Einheit die folgenden Merkmale erfüllen:6
- Sie hat erkennbare Grenzen.
- Sie hat konstitutive Elemente und besteht aus Komponenten.
- Die Relationen zwischen den Komponenten bestimmen die Eigenschaften des Gesamtsystems.
- Die Komponenten, die die Grenze der Einheit darstellen, tun dies als Folge der Relationen und Interaktionen zwischen ihnen.
- Die Komponenten werden produziert von Komponenten der Einheit selbst oder entstehen durch Transformation von externen Elementen durch interne Komponenten.
- Alle übrigen Komponenten der Einheit werden ebenfalls so produziert oder sind anderweitig entstandene Elemente, die jedoch für die Produktion von Komponenten notwendig sind (operative Geschlossenheit).
Maturana und Varela wollten mit diesem letzten Punkt die Tatsache betonen, dass Organismen zwar Substanzen aus der Umwelt in sich aufnehmen, diese dabei jedoch sofort in verwertbare Baustoffe umwandeln. Substanzen dagegen, die für die Selbstreproduktion des Organismus keine Bedeutung haben, werden vom Organismus sozusagen ignoriert.
1.2. Strukturfunktionalismus
Die nachfolgenden Überlegungen zu einer allgemeinen Systemtheorie beginnen mit verschiedenen sozialwissenschaftlichen Theorien zum Funktionalismus der Systemerhaltung. Als wichtigste Vertreter der Soziologischen Systemtheorie gelten Talcott Parsons (handlungstheoretische Systemtheorie) und Niklas Luhmann (kommunikationstheoretische Systemtheorie).
Der soziologische Systembegriff geht auf Talcott Parsons zurück.7 Er ist mit einer Handlungstheorie hervorgetreten, hat diese aus dem Strukturfunktionalismus weiter entwickelt und diesen schließlich zu einer Soziologischen Systemtheorie ausgebaut. Nach dem Verständnis des Strukturfunktionalismus muss jedes existierende oder denkbare System vier Funktionen erfüllen, um seine Existenz erhalten zu können. Zur Verdeutlich des Gedankens dient das sog. AGIL-Schema:
Zielverfolgung: Goal Attainment | - | die Fähigkeit eines Systems, Ziele zu definieren und zu verfolgen. |
Eingliederung: Integration | - | die Fähigkeit eines Systems, Kohäsion (Zusammenhalt) und Inklusion (Einschluss) herzustellen und abzusichern. |
Aufrechterhaltung: Latency | - | die Fähigkeit eines Systems, grundlegende Strukturen und Wertmuster aufrechtzuerhalten. |
Parsons´ soziologischer Ansatz reagiert auf den vorherrschenden Empirismus in der angelsächsischen Soziologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Parsons entwickelte etwa ab 1937 eine allgemeine soziologische Theorie und stellte Zusammenhänge mit anderen Gesellschaftswissenschaften her, insbesondere zu Ökonomie, Politikwissenschaft, Psychologie und Anthropologie. Er prägte den Begriff der strukturellfunktionalen Systemtheorie. Diese beschreibt Systeme als Einheiten, die durch Handlungen den Erhalt des Systems beziehungsweise seiner Strukturen anstreben. Parsons betrachtet Handlungen als die konstitutiven Elemente sozialer Systeme. Dieser Ansatz erklärt, dass zur Sicherstellung der systemspezifischen Funktionalität bestimmte Voraussetzungen gegeben sein müssen, wie etwa lenkende Prozesse (Wirtschaft, Politik) und auch wertgebende Institutionen wie Familie, Religion oder Moral.
Über die strukturfunktionalistische Theorie geht Parsons schließlich hinaus und ersetzt den Struktur-Begriff durch den Systembegriff. Der Strukturfunktionalismus wird zusehends in einen Systemfunktionalismus überführt. Parsons versucht, die Entwicklung von Gesellschaften mit evolutionstheoretischen Begriffen zu analysieren. Die Gegenwartsgesellschaften, die über Kenntnis des Rechts verfügen, beschreibt Parsons in einem Prozess sozio-kultureller Evolution.
Dabei unterteilt er Evolution in vier Subprozesse:
- Differenzierung, d.h. die Ausbildung funktionaler Teilsysteme der Gesellschaft;
- Verbesserung durch Anpassung ("adaptive upgrading"), wodurch diese Systeme ihre Effizienz steigern;
- Inklusion, d.h. die Einbeziehung...