Technik verdrängt das direkte Glück – Wenn wir zwischen digitaler Dokumentation und virtueller Bereicherung den Moment verpassen
Auf die Überfahrt nach La Gomera hatte ich mich schon gefreut. Habe mir gleich einen Platz auf dem Außendeck gesichert, um das vorbeiziehende Meer genießen zu können – und vielleicht Delfine zu sehen. Delfine sind meine Lieblingstiere. Ich weiß alles über Delfine. Aber einen Delfin live in freier Wildbahn beobachten zu können, ist natürlich etwas ganz Besonderes. Und ich habe Glück: Tatsächlich tauchen am Horizont die charakteristischen Rückenflossen auf, sogar ein Delfin-Baby ist dabei. Für mich das Highlight des Tages, ich bin glücklich. Doch das Glück währt nicht lange, plötzlich herrscht helle Aufregung. Eine Menschentraube stürzt an die Reling, ich werde gegen die Metallstange gequetscht. Hektisch werden die Kameras gezückt. Ohne Rücksicht auf Verluste versperrt man dem Nachbar mit der eigenen Kamera die Sicht. Jeder will das perfekte Foto, das den Delfin beim Sprung zeigt. Keiner hat es am Ende (Delfine sind schnell und unberechenbar). Keiner sieht den Delfin mehr wirklich springen.
Bootsüberfahrt nach La Gomera
Ein Delfin, ein Delfin!
Auf der Insel angekommen, geht die Foto-Rallye weiter. Von San Sebastian fahren wir Richtung Westen ins Valle Gran Rey, auf dem Weg durch die Berge gibt es zahlreiche Aussichtspunkte mit wirklich beeindruckender Natur. Ja, ein bis zwei Fotos machen wir auch, aber wir beschließen dann schnell, uns damit nicht lange aufzuhalten. Die Weite der Landschaft und das herrliche Panorama lassen sich mit der Handycam sowieso nicht erfassen. Lieber den Moment aufsaugen, die Sonne auf der Haut spüren, den Ausblick genießen. Ist das schön.
Diese Zeit scheinen viele Leute nicht zu haben. Es ist an jedem Spot das Gleiche, plötzlich strömen die Horden auf uns zu und genauso schnell, wie sie gekommen sind, sind sie auch wieder weg. Keiner nimmt sich einen Moment, um wirklich zu erfassen, was er vor sich hat. Die Scharen kommen und machen ihr Foto, Aufgabe absolviert. Die Aussicht mit den uns eigenen Wahrnehmungsorganen aufzunehmen, scheint außer Mode zu sein.
Foto-Rallye auf La Gomera
Altertümliche Form der Aufnahme der Aussicht
Ein kleines Gedankenexperiment: Wie würde sich das Erlebnis verändern, wenn die Reisegruppe kollektiv ihre Kameras zu Hause vergessen hätte? Würde man versuchen, das Bild im Gedächtnis statt als Foto zu speichern? Oder wenn die Gruppe noch mit Analogkameras und einer begrenzten Zahl von Filmen für den Urlaub ausgestattet wäre? Würde man dann bewusster wahrnehmen und gezielter entscheiden, ob das jetzt ein ganz besonderer Anblick ist, den ich versuche, auf Film zu bannen? Könnte dieses Foto dann später die Erinnerung an den besonderen Moment wachrufen? Könnte das Foto vielleicht sogar den »wahren Ausblick« vor dem inneren Auge entstehen lassen, mehr Erinnerungen abrufen, als das Foto zeigt?
Der heutige inflationäre Einsatz der Digitalfotografie macht die Verknüpfung von außergewöhnlichen Erinnerungen mit Fotos immer schwerer: Oder wer hat zu jedem der tausend Fotos pro Urlaubstag noch eine genaue Erinnerung und die tatsächliche Szenerie vor Augen? Dazu müsste man den Moment ja auch erst einmal bewusst wahrgenommen haben, wozu es mit Kamera-Linse vor den Augen oftmals nicht mehr kommt.
Es wird mehr fotografiert, als man bewusst erlebt hat. Bevor man sich so richtig dafür entschieden hat, ist der Auslöser schon gedrückt. Ist aber auch nicht so schlimm, würde manch einer erwidern: Ich kann es mir ja am Abend dann auf meiner Handy-Kamera ansehen. Während der abendlichen Bildershow vor Freunden erlebe auch ich erst wirklich, was ich heute so alles erlebt habe.
Dieses Phänomen ist natürlich nicht nur dem Urlaub vorbehalten, sondern an allen Orten zu beobachten, an denen es etwas zu sehen und damit auch zu fotografieren gibt. Live kann man das beispielsweise jeden Tag auf dem Marienplatz in München erleben, wenn das Glockenspiel ertönt. Das Glockenspiel ist nämlich zugleich Startschuss für ein weiteres Spiel: Dutzendfach greifen Menschen in ihre Taschen und zücken ihr Smartphone, um ein Video zu erstellen. Natürlich ein Video, auf einem Foto hört man weder die Klänge, noch sieht man die sich drehende Spielebene. Andere Menschen beobachten das und folgen diesem Beispiel – was so viele Leute machen, kann ja nicht falsch sein!
Natürlich haben wir alle gerne Fotos, und auch ein Video schaut man sich vielleicht gern noch einmal an – aber paradox wird es, wenn es sich um tatsächlich schwer festzuhaltende Dinge handelt. Wie das Glockenspiel, das mit der Handykamera aufgenommen einfach nur grausig klingt. Wer möchte das seinen Freunden noch mal vorspielen?! Ähnlich ist das bei Liveaufnahmen eines Konzerts der Lieblingsband. Da lässt sich durchaus fragen, ob man nicht tatsächlich mehr davon hätte, den Moment einfach nur zu genießen …
Egal, um welches bedeutsame Ereignis es geht – Hochzeit, Taufe, Konzert –, je wichtiger das Event, umso dichter wird die Mauer von Smartphones. Je kürzer und bedeutsamer der Moment – der springende Delfin –, umso wichtiger scheint es, ihn festzuhalten. Und umso trauriger ist es doch eigentlich, wenn man ihn nicht mit allen Sinnen genießen konnte. Das Tragische daran ist, dass es in vielen Situationen schon technisch fast unmöglich ist, ein Foto zu machen, das den Moment adäquat festhält. Einen Delfin beim Sprung zu erwischen ist einfach unheimlich schwer, und im kontrastarmen Meer sind die Tiere nur schwer zu erkennen – auf Fotos noch weniger als in der Realität. Statt eines posterreifen Fotos kann man den Freunden ein Suchbild präsentieren.
Suchbild
Genauso verhält es sich mit dem Glockenspiel. Eine Handykamera macht nun einmal keine tollen Tonaufnahmen – und der trubelige Marienplatz schafft auch nicht gerade ideale Voraussetzungen. Aber das Ergebnis scheint fast egal: Man knipst, filmt, dokumentiert ohne Pause. Man verschenkt den Live-Moment für die sehr geringe Chance, etwas Brauchbares zu bekommen. Das ist wie Lotto spielen, dafür aber zu einem hohen Preis: Verluste erleidet man, weil man den Moment nur nebenbei wahrnimmt, weil das einzelne Foto bedeutungslos wird, und weil man weniger hat, über das es sich mit anderen zu reden lohnt.
Unglücksregel 1:
Denke nicht darüber nach, wie hoch deine Chancen, ein gutes Foto zu schießen, wirklich sind. Der Versuch zählt. Du würdest es bereuen, wenn du den Moment mit allen Sinnen erlebt hättest, ohne dich nebenher mit der Bedienung deiner Kamera zu beschäftigen.
Verluste für die Wahrnehmung
Die Kamera wird zum Werkzeug, mit dem wir die Welt erfassen. Was dazu führen kann, dass wir die eigene Wahrnehmung weitgehend ausschalten. Durch die Linse gucken, aber nicht wirklich wahrnehmen, was das Auge sieht.
Familienausflug, Besuch in einer Kunstausstellung. Ein Bild gefällt mir besonders gut. Mein Papa will mir einen Gefallen tun und das Bild für mich fotografieren. Das funktioniert nicht richtig gut, aber er gibt nicht auf. Er hat seine Mission gefunden. Die restliche Ausstellung ist jetzt egal. Am Ende sind wir am Shop angelangt, ich entdecke mein Lieblingsbild als Postkarte. »Cool, das nehme ich mir mit.« –»Oh, das sieht aber schön aus, was du dir da ausgesucht hast.« – »Aber das ist doch das Bild, das du die ganze Zeit für mich fotografiert hast.« – »Wirklich?« – »Ja, na klar!« – Moment, Direktvergleich. Tatsache. Er war ganz aufs Fotografieren konzentriert, das Bild hat er sich dabei nicht angesehen.
Wie kann das sein? Man schaut die ganze Zeit auf ein Bild und nimmt es dennoch nicht wahr?
Machen wir einen kurzen Ausflug in die Wahrnehmungspsychologie: Tatsächlich können wir viel mehr wahrnehmen als bewusst verarbeiten. Nur ein geringer Teil dessen, was über unsere Sinneszellen auf uns einströmt, wird zur bewussten Wahrnehmung. Ob aus Wahrnehmung bewusste Wahrnehmung wird, ist eine Frage der Aufmerksamkeitssteuerung. Man kann sich die Aufmerksamkeit vorstellen wie einen Lichtkegel, der über der Gesamtheit von Sinneseindrücken kreist, und nur dort, wo die Aufmerksamkeit stehen bleibt, entsteht ein bewusstes Bild der Realität. Die Aufmerksamkeit wird gelenkt von Aufgaben, den Befehlen, die wir unserem Gehirn erteilt haben. Zum Beispiel, ein Bild abzufotografieren. Infolgedessen dessen wird die Wahrnehmung auf für diese Aufgabe relevante Merkmale fokussiert. Beispielsweise den Foto-Ausschnitt so zu wählen, dass das abzufotografierende Bild komplett zu sehen ist. Nur diese Aspekte, mit denen wir uns auseinandersetzen, weil sie für unsere aktuelle Aufgabe relevant sind, werden bewusst wahrgenommen. Andere Aspekte – was zeigt das Bild eigentlich inhaltlich? – schaffen es nicht ins Bewusstsein, obwohl sie genau im Blickfeld liegen. Die visuelle Wahrnehmung ist vorhanden, aber es findet keine Interpretation statt, keine Einordnung, was daran bedeutsam ist. Kurzum, alle Punkte, die aus »den Blick auf etwas richten« ein Erlebnis machen, fehlen am Ende.
Ähnliche Phänomene finden sich auch in anderen Bereichen des Alltags, mit teils drastischen Konsequenzen. So zählt das »Looked-But-Failed-To-See-Phänomen« (LBFS) zu den häufigsten Unfallursachen im Straßenverkehr. Das Objekt/der andere...