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E-Book

Alles inklusive

Aus dem Leben mit meiner behinderten Tochter

AutorMareice Kaiser
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783104036342
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
»96 Prozent aller Kinder kommen gesund zur Welt. Meine Tochter gehört zu den anderen vier Prozent.« Ein Buch, das mitnimmt - in einen außergewöhnlichen Familienalltag. Elternwerden hatte sich Mareice Kaiser anders vorgestellt: Ihre erste Tochter kommt durch einen seltenen Chromosomenfehler mehrfach behindert zur Welt. Das Wochenbett verbringen sie im Krankenhaus, statt zur Krabbelgruppe gehen sie zum Kinderarzt. Mareice Kaiser erzählt von der Unplanbarkeit des Lebens, vom Alltag zwischen Krankenhaus und Kita, von ungewollten Rechtfertigungen, dummen Sprüchen, stereotypen Rollenverteilungen, bürokratischem Irrsinn und schwierigen Gewissensfragen. Es ist die Geschichte einer jungen Mutter, die mehr sein will als die Pflegekraft für ihre behinderte Tochter. »Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der mein Kind die Kita verlassen muss, weil es zu behindert ist. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der ich dankbar dafür sein muss, wenn jemand mein Kind betreut, weil ich arbeiten möchte. Ich möchte nicht immer auf Glück angewiesen sein. Wie soll sich was verändern, wenn niemand kämpft?« Fragen, die uns alle angehen. >Alles inklusive< ist das erste Buch der Berliner Autorin. Ein wichtiger, moderner und kämpferischer Beitrag zu den aktuellen Debatten um Inklusion, Pränataldiagnostik und Vereinbarkeit von Familie und Beruf unter besonderen Bedingungen - und die Liebeserklärung einer Mutter an ihre Tochter.

Mareice Kaiser, Jahrgang 1981, lebt in Berlin und im Internet. Über ihr inklusives Familienleben als Mutter von zwei Kindern - mit und ohne Behinderung - berichtet sie auf ihrem Blog Kaiserinnenreich, mit dem sie innerhalb kürzester Zeit digitale Newcomer-Preise gewann.Als Journalistin veröffentlicht sie Artikel zu den Themen Inklusion, Geschlechtergerechtigkeit und Vereinbarkeit von Familie und Beruf u. a. bei der tageszeitung (taz), ZEIT Online und im MISSY Magazine.

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Leseprobe

12 Diagnose-Achterbahn


Falsche Hoffnungen


»Doktor Becker kommt gleich, bitte haben Sie noch einen Moment Geduld«, sagt Schwester Miriam beim Verlassen des Zimmers. Greta schläft ohne Piepen, der Monitor schweigt. Thorben und ich auch. Heute ist der Tag, auf den wir seit Gretas Geburt warten. Nun schon über drei Wochen. Wir wollen endlich wissen, was sie hat. Wie es heißt, was sie hat. Wonach wir googeln können. Bisher beschränkte sich unsere Internet-Suche auf ihre Symptome. Vielleicht gibt es irgendwo auf der Welt Menschen, die die gleichen haben?

 

Es klopft an der Tür. »Ja, bitte?«, sagt Thorben, als sich durch die Tür schon ein Kopf streckt. »Darf ich reinkommen?«, fragt Nina leise. Enttäuschung in unseren Gesichtern. »Ja, klar, entschuldige«, sage ich. Wir erklären. »Uns soll gleich Gretas Diagnose mitgeteilt werden.« Nina versteht sofort. »Soll ich wieder gehen?« »Nein, nein«, sagt Thorben. »Es ist gut, wenn du uns ablenkst.«

Auch Nina kennt das Gefühl, wenn nach der Geburt eines Kindes alles anders ist als erwartet. Ihren Sohn Hugo kennen Thorben und ich schon lange – dass er behindert ist, hatten wir nie bemerkt. Jetzt spricht Nina, mit der Thorben einige Monate zusammengearbeitet hat, Tacheles. »Wir wussten damals auch nicht, was los ist.« Hugo hat noch eine Zwillingsschwester, Lydia. Sie ist bildhübsch und nicht behindert. »Hugo hat auch einen Chromosomenfehler«, erklärt Nina. »Außer ihm gibt es noch zwölf weitere Menschen mit den gleichen Chromosomen.« Nina erzählt von der ersten schwierigen Zeit und wie alles besser wurde. Sie macht uns Mut und nimmt uns ernst. Dann klopft es wieder. Herr Becker. Nina geht. »Soll ich warten?«, fragt sie. Wir nicken.

 

Dr. Becker hat einen kleinen Stapel Papier in der Hand. »Tut mir leid, dass es so spät geworden ist«, sagt er. Erst da fällt mir auf, dass es draußen bereits dunkel ist. Ich habe schon lange kein Gefühl mehr für Tageszeiten und den Ablauf der Zeit, geschweige denn den Wochentag. Die Krankenhaustage vergehen wie im Flug, wie im Rausch. »Ich komme heute erst aus meinem Urlaub wieder«, erklärt er uns sein spätes Erscheinen. »Aber«, verkündet er mit einem Anflug von Lächeln: »Ich habe gute Nachrichten für Sie!«

Schwungvoll legt er den Stapel Zettel und Broschüren auf den Tisch. Sofort lese ich die für mich wichtigsten Wörter. »Trisomie 8« und »Mosaik«. Innerlich atme ich schon auf. Mein Kopf platzt vor Google-Wissen. Seitdem wir mit Greta auf der Kinderstation sind, hagelt es von allen Seiten mögliche Diagnosen. »Also, Downsyndrom ist’s nicht«, meinte Schwester Barbara. »Aber Trisomie 9 könnte es sein, wenn Sie mich fragen«, fügte sie hinzu. Wir hatten sie aber nicht gefragt. »Bestimmt Trisomie 8«, meinte hingegen Schwester Marianne zu wissen. Überall Halbwissen, jedoch nicht hinter vorgehaltener Hand, sondern einfach so, geradeheraus.

Eine Diagnosen-Achterbahn. Trisomie 13 – die Achterbahn fährt ganz nach oben, dann geht es im Sturzflug nach unten, lebensverkürzend, die Kinder erreichen oft nicht das Erwachsenenalter. Trisomie 8 – die Achterbahn fährt langsame Schleifen, mal hoch, mal runter. Aber sie kommt zu einem guten Ende: Ein leicht geistig behindertes Kind, das laufen können wird, hören können wird, lachen können wird. »Aber die Ohren, die passen nicht dazu … diese Ohren …«, mutmaßen alle. Nun also anscheinend doch, trotz der Ohren: Auf dem obersten Zettel des Stapels steht »Trisomie 8

 

»Also«, beginnt Dr. Becker. »Wir haben nun einen Namen für das gefunden, was Ihre Tochter Greta mit auf die Welt gebracht hat: Trisomie 8 im Mosaik. Das bedeutet, eine leichte geistige Behinderung. Greta wird höchstwahrscheinlich gehen können. Gehörlos wird sie nicht bleiben, die meisten Kinder mit Trisomie 8 können irgendwann – meist unterstützt von Hörgeräten – hören und sprechen. Sicher nicht normal, aber so, dass man sie versteht.« Ich atme auf. Eine Zukunft mit einem laufenden, hörenden Kind? Ein Klacks. Ich fange an zu weinen, vor Erleichterung.

 

Auch Thorben hat Tränen in den Augen, er hält Gretas Hand, schon seit Beginn des Gesprächs. Allerdings sieht er nicht so erleichtert aus, wie ich mich fühle. »Und Sie sind ganz sicher?«, fragt er leise. »Ja«, antwortet Dr. Becker. »Ich habe Ihnen hier alle Infos zusammengestellt. Trisomie 8 ist nicht so selten, es gibt einen gut arbeitenden Elternverein, dort werden Sie auch sicher hilfreiche Kontakte knüpfen können«, sagt er und gibt Thorben zwei der Broschüren in die Hand. Darauf zu sehen sind Kinder, die fröhlich in die Kamera lächeln.

Aber Thorben ist noch nicht beruhigt, ich sehe es ihm an. »Darf ich mal die Unterlagen sehen?«, fragt er, und Herr Becker gibt ihm den restlichen Stapel. Es handelt sich dabei um Gretas bisherige Krankenhausunterlagen. Schon nach diesen paar Wochen sind es viele Seiten. Ganz oben drauf liegt das Untersuchungsergebnis des Gentests. Stille im Raum, ich weiß nicht, was ich sagen soll, und kann die Gefühlsachterbahn nicht artikulieren. Thorben liest sich aufmerksam die Untersuchungsergebnisse durch. Vor ein paar Tagen hätten wir mit allen den Begriffen, Zahlen und Formeln nichts anfangen können. Heute können wir die Begrifflichkeiten zumindest einordnen. Dann stutzt Thorben und zeigt auf eine Zeile. »Hier steht Duplikation«, sagt er. »Soweit wir mittlerweile recherchiert haben, bedeutet eine Duplikation zwei. Eine Trisomie drei. Sind Sie sich wirklich sicher, dass Greta eine Trisomie hat?« Dr. Becker weiß keine Antwort. Thorben gibt ihm das Blatt und schaut mich augenrollend an. Mir wird plötzlich schlecht. Der Arzt, der noch vor einigen Minuten lächelnd und voller Kompetenz den Raum betrat, schweigt. Ich sehe ihm seine Anspannung an. Sein Gesicht errötet. »Ich …«, stottert er nun. Dann steht er auf und verspricht, das zu klären. Dann ist er weg.

 

Eine Sekunde später betritt Nina den Raum. »Was war los?«, fragt sie. Thorben und ich wissen keine Antwort. »Ich fasse es gerade selbst nicht«, sage ich zu ihr. Dann muss ich wieder weinen. Thorben übernimmt. »Der Arzt hat uns gerade eine falsche Diagnose übermittelt«, sagt er. Nina schaut erst fassungslos Thorben an, dann mich. »Wie bitte?«, sagt sie.

»Hier steht Duplikation«, Thorben deutet auf den Untersuchungsbogen. »Und Dr. Becker hat uns gerade alles über das Leben mit einem Kind mit Trisomie 8 im Mosaik erzählt. Nur leider hat Greta das nicht. Was ja irgendwie klar ist, wenn dort was von Duplikation, also zwei, steht. Trisomie bedeutet ja, etwas ist dreimal vorhanden.« »Und was bedeutet das jetzt für euch?«, fragt Nina. »Keine Ahnung«, flüstert Thorben und nimmt mich in den Arm. »Ich fasse es nicht«, sage ich. Dann sage ich nichts mehr. Drei Wochen lang haben wir mehrere Stunden am Tag alles gelesen, was im Internet an Literatur zu Humangenetik zu finden war. Dass es sich bei einer Duplikation nicht um eine Trisomie handeln kann, war eine der ersten Basis-Informationen, die Google uns gab. Und dann steht da der Oberarzt der Kinderklinik und vermittelt uns in Selbstsicherheit eingewickelt eine falsche Diagnose.

»Das ist furchtbar«, meint Nina. »Allerdings kann ich euch aus Erfahrung sagen, dass so was leider häufig passiert. Wahrscheinlich nicht so krass wie jetzt bei euch, aber ich kann euch sagen, dass wir ähnliche Zeiten mit Hugo durchmachen mussten. Sein Chromosomenfehler ist so selten – es hat wahnsinnig lange gedauert, bis wir endlich gefunden hatten, worum es bei ihm geht.« Nina empfiehlt uns die Selbsthilfe-Initiative Achse. Dort gibt es Informationen über alle seltenen Erkrankungen. »Aber ist es nicht verrückt, dass uns ein Oberarzt nicht weiterhelfen kann?«, frage ich sie.

In dem Moment betritt Dr. Becker wieder den Raum. Sein weißer Kittel schwingt durch die Tür, sein Gesicht ist errötet, er wirkt nun hektisch und verunsichert. Nina nickt uns kurz zu, geht aus dem Raum und sagt noch in der Tür »Ich warte draußen, wenn ihr mich braucht.«

»Frau Kaiser, Herr Kaiser«, fängt Dr. Becker an, als er vor uns sitzt. Dieses Mal nur mit einem kleinen Post-it-Zettel in der Hand. »Es tut mir furchtbar leid, was da gerade passiert ist. Ich bin erst seit heute wieder aus meinem Urlaub zurück, und Gretas Unterlagen lagen auf meinem Schreibtisch. Ich habe sie nicht noch mal im Detail überprüft, bevor ich zu Ihnen kam. Sie haben natürlich völlig recht: Eine Duplikation hat nichts mit einer Trisomie gemein. Es tut mir leid, dass ich Ihnen falsche Hoffnungen gemacht habe.«

Dann schweigen wir. Ich sehe die Anspannung in Thorbens Gesicht. Mir fallen keine Worte ein, alles ist leer. Gretas Monitor piept. Wie in Trance stellt Thorben die Sauerstoffzufuhr höher. Das Piepen hört auf. »Und jetzt?«, frage ich in den Raum.

»Wie gesagt, es tut mir furchtbar leid. Ich weiß, so was darf nicht passieren. Ich will Ihnen nun auch keine weiteren Fehlinformationen geben«, sagt Dr. Becker niedergeschlagen. Dann klebt er den Zettel, mit dem er die ganze Zeit in seinen Händen gespielt hat, auf den Tisch neben Gretas Bett. »Hier ist die Nummer von Professor Lorenz. Er ist der Experte für Humangenetik und wird sich morgen bei Ihnen melden. Leider habe ich ihn heute Abend nicht mehr ans Telefon bekommen, es ist ja schon spät.« Mittlerweile ist es draußen stockdunkel. »Professor Lorenz meldet sich morgen...

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