Einführung
SPIEGEL 45/1970
„Dasein ist alles“
SPIEGEL-Reporter Hermann Schreiber über Hans-Dietrich Genscher
Es gibt die Macher, und es gibt die Merker. Hans-Dietrich Genscher steht, wie immer, in der Mitte. Er ist ein Könner. Er ist sowohl potent als auch potentiell. Das heißt, was er kann, ist kaum wichtiger, als was er könnte.
Schon seine Bilderbuch-Karriere beweist es. Er war ein potentieller Abgeordneter, kaum daß er im Lohndienst die Geschäftsführung der FDP-Fraktion übernommen hatte; er war potentieller Minister, kaum daß er als Abgeordneter Zutritt zum Parlament erlangt hatte; er galt nicht wenigen Freidemokraten als potentieller Parteichef, kaum daß er Walter Scheels Stellvertreter geworden war.
Und heute? Er kann, hat er letzte Woche im Gespräch mit Rudolf Augstein und Günter Gaus (SPIEGEL 44/ 1970) gesagt, er kann sich „keine Situation vorstellen“, in der an der Absicht der Freien Demokraten, die Koalition mit den Sozialdemokraten vier Jahre lang durchzustehen, „etwas geändert werden müßte“. Er stellt Palmström in den Dienst der moralischen Aufrüstung seiner von Zweifeln an der sozialliberalen Koalition heimgesuchten Partei. Das muß er tun, will er die Truppe erst einmal beisammen und bei der Fahne halten.
Hans-Dietrich Genscher kann, vielleicht besser als andere, die freidemokratische Flagge auch in dieser Koalition mit den Sozialdemokraten zeigen: Er kann bleiben und bremsen (wo immer SPD-Reformen die klassische Klientel bourgeoiser FDP-Wähler vollends verärgern könnten, zum Beispiel in der Eigentumspolitik und in Sachen Mitbestimmung); er kann bleiben und beschleunigen (wo immer traditionelle FDP-Wähler bevorzugt bedient werden können, zum Beispiel bei der Beamtenbesoldung).
Hans-Dietrich Genscher könnte aber auch anders – wenn die Situation einmal dasein sollte, die er sich jetzt nicht vorstellen darf; wenn die FDP in Hessen unter die Fünfprozent-Grenze geknüppelt, in Bayern am Boden zerstört, schließlich sogar in Schleswig-Holstein existenzgefährdend dezimiert werden sollte; wenn im Gefolge solcher Katastrophen Partei und Fraktion auch in Bonn zu zerbröckeln drohen sollten. Dann könnte Hans-Dietrich Genscher, er und kein anderer, der Mann der letzten Stunde sein, der die übriggebliebenen Freidemokraten einigermaßen geschlossen aus der Koalition mit den Sozialdemokraten wieder herausführt.
Sein Entwurf war sie nicht. Er hat das FDP-Votum für Bundespräsident Heinemann zwar durchaus als Bereinigung des alten Abhängigkeitsverhältnisses seiner Partei zur CDU verstanden, als Rückkehr zur Handlungsfreiheit, aber darum noch lange nicht als Vorentscheidung für eine Koalition mit der SPD. Er hat vor der Wahl 1969 als einer der letzten FDP-Präsiden gegen die Festlegung auf eine Koalition mit der SPD argumentiert.
Genscher war weiland der offizielle Kontaktmann zur CDU. Er hatte mit dem Mainzer Ministerpräsidenten und damaligen Kiesinger-Intimus Helmut Kohl verabredet, daß „in der Wahlnacht nichts passiert, bevor wir nicht miteinander geredet haben“. Die Verabredung wurde auch eingehalten, freilich ohne noch ändern zu können, daß zwischen SPD und FDP derweil etwas „passierte“. Den Eindruck, daß Genscher dies lieber verhindert hätte, daß er zumindest nicht glücklich darüber war, hatte damals nicht nur Kohl.
Eines jedenfalls will Genscher ganz gewiß nicht: daß eine linksliberal umfunktionierte FDP, der Polarisierung der Wählerschaft folgend, zum Huckepack-Bündel, zum Trittbrettfahrer, zum Schrägstrich-Kompagnon der SPD wird. Denn, von allen warmen Worten für eine eigenständige liberale Kraft einmal abgesehen: Eine „linke“ FDP, darüber soll sich niemand täuschen, wäre nicht mehr Genschers Partei.
Das hat weniger mit den „Grundpositionen“ zu tun, von denen er gern und viel redet – Privateigentum, Marktwirtschaft, West-Bindung, Ost-Ausgleich – und die sich immer noch ganz gut auch in der SPD vertreten lassen.
Es hat mehr zu tun mit Lebensgefühl, mit Ambiente, auch mit Herkunft. Es geht an das, was Genscher in solchen Zusammenhängen das „Eingemachte“ nennt und wovon er möglichst überhaupt nicht redet. Aber wer ihn näher kennt, der weiß: Wenn Genscher die Wahl hätte, mit Roten auf Urlaub zu fahren oder mit Schwarzen, dann fiele ihm die Entscheidung nicht schwer: Er ginge (außer vielleicht mit Helmut Schmidt) mit den Christdemokraten.
Hans-Dietrich Genscher ist von Herkunft ein richtiger deutscher Mensch. Er entstammt einem, nach eigener Definition, deutschnationalen, in der Scholle wurzelnden Elternhaus. Beide Eltern waren in der preußischen Provinz Sachsen, wo er zu Reideburg bei Halle an der Saale am 21. März 1927 geboren wurde, auf relativ kleinen Bauernhöfen aufgewachsen. Der Vater hatte gleichwohl Jura studieren können und war Syndikus eines landwirtschaftlichen Verbandes geworden. Der Sohn studierte, nach einem durch Arbeitsdienst und Militär bedingten Ergänzungsabitur, ebenfalls die Rechte; er hatte nie einen anderen Berufswunsch (außer Lokomotivführer) als Rechtsanwalt, genauer: Strafverteidiger.
Daß es Unrecht gibt, war ihm zum erstenmal faßbar geworden, als er beim Spielen auf dem großelterlichen Hof eine Jüdin mit dem gelben Stern in einer bewachten Kolonne die Straße fegen sah. Er ist, rückblickend, nicht abgeneigt, darin so etwas wie ein Schlüsselerlebnis zu erkennen – einen Keim nicht nur seines juristischen, sondern auch seines politischen Engagements. Jedenfalls wirkte das Erlebnis weiter, Gefühle der Gegnerschaft weckend, die sich fast bruchlos vom braunen auf das rote Regime übertrugen.
Noch bevor er im März 1946 das Ergänzungsabitur bestand, ging Genscher in eine politische Partei. „Ich habe von Anfang an nur über CDU oder LDP nachgedacht. Die CDU redete von christlichem Sozialismus. Den wollte ich nicht.“ Also ging er in die Liberal-Demokratische Partei. „Die waren am aggressivsten gegen die KP und deren absolute Unterwürfigkeit unter die Russen.“
Und weil er sich aus Abscheu vor solcher Unterwürfigkeit und aus verletztem Rechtsempfinden an so manchen Widersetzlichkeiten junger LDP-Leute gegen die Übergriffe der sozialistischen Staatsmacht beteiligte, kam Genscher drüben halbwegs unangefochten nur bis zum Referendar. Er fiel auf – zum Beispiel weil er der gefürchteten Hilde Benjamin patzige Antworten auf deren tadelnde Frage nach seiner LDP-Zugehörigkeit gab. Und auf die Dauer wurde das Risiko für Leib und Leben zu groß. Im August 1952 rettete sich der Referendar Genscher in den Westen.
Auch hier, wo der strebsame Mann schon knapp zwei Jahre nach seiner Flucht den Assessor bauen und sich im Oktober 1954 in einer honorigen Sozietät zu Bremen als Rechtsanwalt etablieren konnte, auch hier brauchte er nicht lange über seine Parteizugehörigkeit nachzusinnen. „Die Entscheidung war praktisch schon gefallen mit dem Eintritt in die LDP.“ Er ging zur Schwesterpartei, er wurde Jungdemokrat, er kam in den Landesvorstand der bremischen FDP.
Der Parteifreund, der ihn damals am meisten beeindruckte, war kein geringerer als der Feuerkopf Thomas Dehler – wohl weniger des Feuers als vielmehr des Umstandes wegen, daß Dehler genau jene Anliegen zu artikulieren und in Aktion umzusetzen verstand, die Genscher sozusagen als politisches Startkapital aus der Zone mitgebracht hatte: das Engagement gegen den Mißbrauch jeglicher Staatsgewalt und das Engagement für die nationale Einheit der Deutschen.
Es wäre also gewiß unfair zu sagen, daß Hans-Dietrich Genscher ein Mann ohne Überzeugungen sei, ein Politiker ohne Standort. Das ist er nicht. Er ist – in des Wortes jungfräulichem, von keinem Zoglmann geschändeten Sinne – ein Nationalliberaler.
Nur sind es mitnichten diese nationalliberalen Überzeugungen, die Genscher in Aktion versetzen, die ihn als Politiker motivieren. Sie sind allenfalls sein Potential. Seine politische Potenz hingegen hat damit überhaupt nichts zu tun.
Die kann er, im Gegenteil, nur dort voll entfalten, wo es ihm gelingt, als „Mann der Mitte“ zu firmieren und als solcher in Anspruch genommen zu werden – als ein Mann ohne eindeutige Überzeugungen also, dessen bloßes Nähertreten bewirkt, daß die Wogen der ideologischen Auseinandersetzung sich vor ihm teilen. Wenn Genscher eine eindeutige Aussage zu machen wünscht, dann gibt er das eigens an, dann sagt er: „Eindeutig ja“, oder „Eindeutig nein“. Die Tatsache aber, daß er der Polarisierung – gerade in seiner eigenen Partei – so lange entronnen Ist, verdankt er einem kalkulierteni Mangel an Eindeutigkeit.
Das ist es, was seine Wirksamkeit – und seine Karriere – in der FDP vor allem anderen ausgemacht hat: daß alle, auch die miteinander zerfallenen Gruppierungen innerhalb der Partei, ihn alsbald für sich reklamiert und ihn so in den Stand gesetzt haben, im toten Winkel der innerparteilichen Auseinandersetzungen das Management der Macht zu betreiben.
Das ist es, was ihn, in allen seinen Parteifunktionen, unentbehrlich gemacht hat: seine Fähigkeit, Zusammenhalt zu repräsentieren, auch wo es gar keinen gibt. Sein großer Coup ist das Mittelding. Als Equilibrist hat er in dieser Partei des Züngleins an der Waage nicht seinesgleichen. Und als Manager der Macht ist er in der FDP stets ein Profi unter Amateuren gewesen.
So hat er, um eine treffliche Formulierung von Claus Heinrich Meyer aus dem „Monat“ zu zitieren, „den Aufstieg von der Seele des Geschäfts (worunter ein unentbehrliches Faktotum verstanden wird) zum Teilhaber geschafft, zu einem Teilhaber, der aber...