Einleitung:
Das mittelalterliche Island und die heidnisch-germanische Mythologie
Die entlegene Insel Island, 1200 km von Norwegen und ebenso weit von Irland entfernt, wurde zuerst wohl von irischen Einsiedlern entdeckt. Aber erst als im 9. Jahrhundert norwegische Wikinger sich auf der weitgehend menschenleeren Insel niederließen, kam es nach einigen Jahrzehnten zur Bildung einer einmal jährlich tagenden Versammlung aller freien Bauern, um Gesetze zu beschließen und Rechtshändel zu schlichten. Die Gründung dieses Allthing als zentrales Organ des Gemeinwesens um 930 markiert den Beginn des isländischen Freistaats, der ganz ohne Herrscher zurechtkam, bis 1264 der norwegische König nach langen bürgerkriegsähnlichen Kämpfen Island endlich der norwegischen Krone einverleibte. Schon im Jahre 1000 beschloss diese Volksversammlung die Annahme des Christentums, und obwohl es noch bis 1056 dauern sollte, bis Island einen einheimischen Bischof bekam, führte die Christianisierung doch innerhalb etwa eines Jahrhunderts dazu, dass sehr viele Isländer in den beiden Domschulen und später in den Klöstern lesen und schreiben lernten. Der Grad der Alphabetisierung wird für das mittelalterliche Island höher angesetzt als für das übrige Europa. Es gehört zu den faszinierendsten Phänomenen des europäischen Mittelalters, dass das kleine Island mit seinen wohl kaum mehr als 120.000 Einwohnern eine der bemerkenswertesten und umfangreichsten Literaturen des europäischen Mittelalters hervorgebracht hat. Dabei bildet die hier zu behandelnde eddische Dichtung nur einen ganz kleinen Ausschnitt aus dieser altnordischen Literatur, wie man die norwegische und isländische Literatur des Mittelalters bezeichnet.
Das Leben auf der Insel war trotz des relativ großen Angebots an freiem Land wegen der klimatischen Lage knapp unter dem Polarkreis durchwegs ein harter Überlebenskampf. Die Menschen waren abgesehen von etwas Fischfang, der Verwertung von angetriebenen Walen und dem Sammeln von Vogeleiern ganz auf die Viehzucht angewiesen. Trotzdem nahm die von archaischen bäuerlichen Strukturen geprägte Insel, die eben weder Zentralmacht noch fürstliche Mäzene kannte, in intellektueller Hinsicht durchaus am europäischen Geistesleben teil und übertraf viele größere Reiche an Qualität und Quantität der Literaturproduktion. Dabei kam es zu einer glücklichen Verschmelzung von einheimischen Stoffen und sogar Dichtungsformen mit den europäischen mittelalterlichen Gattungen der Prosaerzählung und prosimetrischen Formen (also der Kombination von Prosa und gebundener Dichtung) zu einer der weltweit wichtigsten Nationalliteraturen. Eine wirklich stichhaltige Erklärung für die Sonderstellung Islands gibt es nicht. Der hohe Anteil an Lese- und Schreibkundigen in dem kleinen Staat, das große Selbstbewusstsein der freien, wenn auch armen Bauern, vielleicht auch die langen dunklen Monate, in denen jede bäuerliche Arbeit unmöglich ist – all dies hat wohl eine Rolle gespielt für die Entstehung dieser einzigartigen Literatur. Dazu kam, dass die viehzüchtenden isländischen Bauern aufgrund des beschränkten Heuvorrats für den Winter jeden Herbst viele Tiere schlachten mussten, sodass das aus Tierhäuten hergestellte Beschreibmaterial Pergament anders als im restlichen Europa relativ billig war. So konnte es sich damals auch ein Bauer leisten, sich Sagas über die isländischen Vorfahren oder über die Wikingerzeit abschreiben zu lassen.
Die Sagaliteratur ist die am besten bekannte Gattung altnordischer Literatur: Die Geschichten über Könige und Heilige, über Wikinger, Skalden, Totschläger und Geächtete gehören zweifellos zu den großen Werken der Weltliteratur. Daneben hat Island aber auch noch eine reiche wissenschaftliche Literatur hervorgebracht, und außerdem begann man im 13. Jahrhundert, die Gedichte der Skalden, der Hof- und Gelegenheitsdichter, von der Wikingerzeit bis zum Hochmittelalter aufzuzeichnen, ebenso wie die ältesten der Edda-Lieder. Dazu kam aber offenbar das Bedürfnis, diese Gattungen nicht aussterben zu lassen, sodass nicht nur Snorris Edda die Kunst der Skaldendichtung systematisch lehrte, sondern auch die meisten der Edda-Lieder überhaupt erst im hohen Mittelalter nach dem Vorbild älterer Dichtungen, aber auch nach ausländischen Vorbildern entstanden. Die gelehrte Renaissance des 12. Jahrhunderts, die auch den isländischen Klerikern Zugang zu der Welt der Gelehrsamkeit der Antike verschaffte, wirkte in Island nachhaltig, und das 13. Jahrhundert gilt dann trotz der langwierigen blutigen Kämpfe, die schließlich zur Unterwerfung durch Norwegen führten, als das große Jahrhundert der Sagaschreibung.
Dass die in dieser literarisch so produktiven Krisenzeit aufgezeichneten Edda-Lieder, auch wenn sie von alten Göttern handeln, nicht den Glauben einer lang entschwundenen heidnischen Zeit wiedergeben, sondern mehr der Rückschau und der Vergangenheitsbewältigung dienten, versteht sich von selbst. Die ältesten der Edda-Lieder wurden wohl von Personen geschrieben, die das Heidentum noch selbst miterlebt hatten, und die jüngeren von Dichtern, die sich aus künstlerischen oder historisch-antiquarischen Gründen für die heidnische Zeit und ihre Götter interessierten und dafür auch andere Quellen verwenden konnten wie die Skaldengedichte, Runeninschriften und selbst die Überlieferungen von Augenzeugen.
Es ist demnach kein Wunder, dass eine ganze Reihe von Liedern dem Gott Odin in den Mund gelegt ist oder von ihm handelt, wusste man doch noch im Mittelalter, dass der bei den Südgermanen Wodan, im Norden Óðinn genannte Gott die wichtigste und höchste Gottheit des alten heidnischen Pantheon gewesen war. Er war nicht nur Göttervater und weisester der Götter, sondern auch Gott der Dichtkunst, der «gottgegebenen» Runen, des Sieges, aber auch der Toten und selbst der Magie. Es war aber auch bekannt, dass Odin, wohl wegen seiner Vielschichtigkeit, auch für seine Verehrer mit Risiken behaftet war: Er konnte den Menschen an einem Tag den Sieg schenken und an einem anderen Tag ohne Vorwarnung das Leben rauben – was sicherlich nicht zuletzt den Erfahrungen des Kriegeralltags entsprach. Die letzte Hoffnung war, dass die Gefallenen durch Odin in sein Kriegerparadies Walhall (altnord. Valhöll, eigtl. «Halle der Gefallenen») aufgenommen wurden, wo sie am Jüngsten Tag gemeinsam zum Endkampf auf Seiten der Götter antreten würden; deswegen wurden sie auch als Einherier (altnord. Einherjar, «die allein – auf Seiten Odins? – Kämpfenden») bezeichnet.
Ganz anders verhält es sich mit dem zweiten der Asen (Götter), Thor, für den Orts- und Personennamen schon sehr früh eine weite Verehrung bezeugen. Im Süden Donar genannt – davon ist der Wochentagsname Donnerstag abgeleitet, als Übersetzung des latein. dies Jovi, «Tag des Jupiter» –, im Norden Þórr, war er zweifellos der bei der bäuerlichen Bevölkerung Skandinaviens beliebteste Gott: Nicht nur war er der kräftige Verteidiger der Menschen gegen Riesen, Monster und die Mächte der Unterwelt, sondern wurde auch um gutes Wetter, günstige Winde und selbst Fruchtbarkeit gebeten. Die meisten der noch mit annähernder Sicherheit als heidnisch zu identifizierenden Mythengeschichten beschäftigen sich mit Thor. Die wichtigste und am besten belegte davon ist die Geschichte von Thors Fischfang, als er auszieht, die Midgardschlange zu ködern. Dieser Mythos ist sowohl in der Snorra Edda als auch im eddischen «Lied von Hymir» (Hymiskviða) als auch in etlichen Bilddokumenten erhalten (s.S. 78f.). Aber auch die Geschichte von Thors Böcken, die seinen Wagen ziehen, war gut bekannt, und nicht zuletzt deswegen wurde er auch als der Wagen-Gott bezeichnet. Er nahm auch dem Gewitter seinen Schrecken, denn das Donnern erklärte man sich noch im Spätmittelalter als das Rumpeln von Thors Wagen.
Dürfen wir den mittelalterlichen Beschreibungen trauen, dann war der dritte der in hölzernen Standbildern verehrten Götter der Gott Freyr, der mythische Ahnherr des schwedischen Königsgeschlechts der Ynglinge, was noch in seinem Beinamen Yngvi-Freyr zu erkennen war. Er stand als Gott der ältesten skandinavischen Könige für Macht, Herrschaft, Reichtum und vielleicht auch Fruchtbarkeit, also die Eigenschaften, die notwendig für die glückliche Herrschaft eines Königs waren.
Seine (Zwillings?)-Schwester Freyja war sicherlich die später den Christen noch am besten bekannte Göttin, war sie doch angeblich laut Snorri für alle «Liebesgeschichten und Heiratssachen» zuständig und wurde somit im Mittelalter mit der römischen Venus gleichgesetzt. Das war nicht immer so, denn als in der Spätantike der Wochentagsname dies Veneris, «der Tag der Venus», von den Germanen übersetzt worden war, trat an die Stelle der Venus die germanische Hauptgöttin Frigg, im Süden Frîja (davon eben deutsch Freitag), die Gattin Odins und damit sozusagen auch Götterkönigin. Neben Freyja und Frigg nennt Snorri zwar noch eine lange Liste von Asinnen, also weiblichen Göttinnen, aber in heidnischer Zeit dürften diese wohl höchstens regionale oder...