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E-Book

Dynamik des Begehrens

Systemische Sexualtherapie in der Praxis

AutorUlrich Clement
VerlagCarl-Auer Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl201 Seiten
ISBN9783849780265
FormatPDF/ePUB
KopierschutzDRM/Wasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Dieses Buch stellt die sexuell handelnde, fühlende und denkende Person in den Mittelpunkt. Selbstbestimmung geht vor Symptombesserung, 'Sein' vor 'Tun'. Insbesondere Störungen des sexuellen Verlangens werden in ihrer Bedeutung für die Selbstachtung als Mann oder Frau untersucht und therapeutisch zugänglich gemacht. Ulrich Clement interessiert sich dabei nicht nur für Gemeinsamkeiten, sondern auch für Gegensätze und Unterschiede der Partner und deren Ambivalenzen. Jenseits des trivialen Bekenntnisses 'Sex macht Spaß' geht es ihm vielmehr um den Sex, der es wert ist, gewollt zu werden. Dem bekannten Sexualwissenschaftler gelingt damit ein Aufklärungsbuch für Therapeuten. Sachlich fundiert, wissenschaftlich untermauert und mit gutem Humor klopft der Autor alle Facetten systemischer Sexualtherapie ab.

Ulrich Clement, Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych.; apl. Professor für Medizinische Psychologie an der Universität Heidelberg; Psychologischer Psychotherapeut; Leiter des Instituts für Sexualtherapie Heidelberg; Dozent und Lehrtherapeut der Internationalen Gesellschaft für systemische Therapie (IGST) e.V.; bekannt sind sein monatliches Interview auf ZEITonline ('Wir müssen reden') und sein Blog 'Clements Verkehrsnachrichten'.21,95

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Leseprobe

1 Sexualtherapie und der Versuch, das Begehren einzufangen

Psychotherapeutische Pflanzen wachsen auf verschiedenen Feldern. In den geordneten Gewächshäusern der universitär verankerten Therapien wird Klarheit und Ordnung gepflegt. Dabei mag es oft steril zugehen, aber immerhin wissen die Gärtner, was sie tun. Ganz anders die Flora der außeruniversitären Psychotherapien in einer schnell wuchernden (und verwelkenden) Dschungellandschaft verästelter Schulen, die in ihren Details kaum jemand überschaut.

Eigentlich könnten sie sich gut ergänzen: Das beschneidende gehört ebenso wie das wuchernde Prinzip zu einer lebendigen Botanik. Wenn, ja wenn sie sich gegenseitig wahrnehmen würden. Tun sie aber nicht. Dabei sind sie aufeinander angewiesen. Die meisten therapeutischen Innovationen sind außerhalb der Universitäten entstanden. Diese haben dann später ihrerseits den nicht so kreativen, aber notwendigen Part der empirischen Qualitätsprüfung übernommen. In dem Bemühen, Hafer und Spreu zu trennen, kapriziert sich die prüfende empirische Forschung mit hochgezogener Augenbraue auf eine Vermeidung von Falsch-positiv-Aussagen (nichts behaupten, was unzutreffend sein könnte). Sie wäre freilich brotlos, wenn nicht irgendwo anders ein Wildwuchs von Substanz und Quatsch wachsen würde, der überhaupt auseinandergehalten und geprüft werden kann. Dafür braucht es die theoretische und praktische Risikofreude der Innovateure, die froh und überzeugt ihre Konzepte in die Welt bringen und sich wenig um das Falsch-positiv-Risiko kümmern.

Diese unterschiedlichen Felder entwickeln sich nicht synchron. Naturgemäß sind die Innovateure den Prüfern eine gewisse Zeit voraus. Das kann dazu führen, dass die kritische Evaluation Ergebnisse liefert, die auch ohne empirische Prüfung bereits Allgemeingut sind, und das zu einem Zeitpunkt, an dem die neuen Ideen schon woanders unterwegs sind.

Das ist auch in der Sexualtherapie zu beobachten. Hier zeigt sich ein interessanter Prozess, wie auf der einen Seite versucht wird, Komplexität zu reduzieren, damit aber ungewollt eine rational begründete Sterilität erzeugt wird. Auf der andern Seite wuchern neue Ideen, die sich dem akademischen Ordnungsbestreben entziehen.

Der akademische Trend: Qualitätskontrolle

In dem führenden sexualwissenschaftlichen Journal, den Archives of Sexual Behavior, war 2009 ein bemerkenswertes Positionspapier erschienen. Mit dem scheinbar fragenden, aber provokant gemeinten Titel »The future of sex therapy: specialization or marginalization?« stellten die Autoren Yitzhak Binik und Marta Meana infrage, ob eine eigenständige Disziplin »Sexualtherapie« ihre fachliche Berechtigung habe. Handelt es sich um eine sinnvolle Spezialisierung oder eine problematische Außenseiter-Position?

Darin machen sie vor allem drei Argumente geltend:

  • Es gebe keine einheitliche Theorie des Faches.

  • Es gebe keine spezifischen Interventionen und kein spezifisches Setting.

  • Es gebe einen Mangel an Wirksamkeitsnachweisen.

Aus ihrer Kritik leiten sie unter anderem ab, dass die Behandlung sexueller Funktionsstörungen keine eigene Disziplin begründe, sondern als integraler Bestandteil der allgemeinen Psychotherapie zu verstehen sei: Deshalb sollten Sexualtherapeuten mit ihrer selbst gewählten Abgrenzung vom allgemeinen psychotherapeutischen Geschehen aufhören und lieber im allgemeinen Therapiegeschäft mitmischen. Dazu gehöre, dass sie ihre wissenschaftlichen Hausaufgaben machen und mehr randomisierte Outcome-Studien (RCT) durchführen sollten.

Das Papier ist umso interessanter, als es zu einem Zeitpunkt erscheint, an dem Sexualpsychotherapie und Sexualmedizin durch eine seit Jahrzehnten nicht gekannte Konjunktur an empirischen, theoretischen, psychotherapeutischen und pharmakologischen Innovationen belebt sind, die noch nicht ihren Höhepunkt erreicht haben dürfte. So lässt sich die Kritik als willkommene Einladung sehen, die Stärken der aktuellen Sexualtherapie – und die auch nicht gerade zu übersehenden Schwächen – sichtbar zu machen und zu kommentieren.

Die drei Kritikpunkte, die sich übrigens nur auf die etablierten kognitiv-behavioralen Ansätze beziehen, hatte ich im Einzelnen an anderer Stelle diskutiert (Clement 2014a)4. Unterm Strich ist das Binik-Meana-Paper als provokanter Aufwecker zu bewerten, angesichts dessen sich die Sexualtherapie aber nicht zu verstecken braucht. Die klassische Sexualtherapie der Masters-Johnson-Tradition hat sich als Spezialgebiet legitimiert und etabliert. Freilich zeigt sich an dieser Aufzählung auch die andere Seite des Bewährten, nämlich dass sowohl die Einzeltechniken als auch die dahinterliegenden lerntheoretischen Konzepte nicht mehr ganz jugendfrisch sind. Das Problem liegt deshalb weniger in den von Binik und Meana betonten Punkten, sondern eher in der Stagnation dieses mittlerweile klassischen Ansatzes, die Leslie Schover und Sandra Leiblum schon vor zwei Jahrzehnten beklagt hatten (Schover a. Leiblum 1994).

Wirklichkeitskonstruktionen des sexuellen Begehrens

Aber die Zukunft hat schon begonnen. Einen ganz anderen, frischeren Einstieg in eine konstruktive Kritik der Sexualtherapie wählt die Kanadierin Peggy Kleinplatz (2012a), die den aufklärerischen Impetus der Sexualtherapie als Ausgangspunkt nimmt. Sie bemängelt, dass die Sexualtherapeuten sich lange auf konventionellen »Wahrheiten« ausgeruht hätten, die mittlerweile so weit Allgemeingut seien, dass die Sexualtherapie inspirationsarm im Mainstream mitschwimme und keinen Unterschied mehr mache.

Solche Wahrheiten seien zum Beispiel:

  • Sex sei natürlich und damit gut.

  • Es gebe fundamentale Geschlechtsunterschiede zwischen Mann und Frau.

  • Es gebe ein »korrektes« Niveau sexuellen Begehrens, nicht zu viel (Sucht), nicht zu wenig (Lustlosigkeit).

  • Männer seien einfach, Frauen kompliziert.

  • Sexuelle Beziehungen seien zu Beginn heiß und kühlten dann ab.

  • Der Orgasmus müsse gut getimt sein: Männer sollten nicht zu früh kommen, Frauen könnten gar nicht zu früh kommen.

Mit ihrer Kritik liegt sie nicht falsch. Die interessanten Ansätze der letzten Jahre, deren Interesse durchweg dem Großthema des sexuellen Begehrens gilt, sind alle außerhalb der Universitäten entstanden (z. B. Schnarch 2006; Perel 2004; Clement 2004; Kleinplatz 2012c). Kleinplatz‘ Kritik lässt sich vertiefen, wenn man mit einem systemischen Blick auf die Wirklichkeitskonstruktionen sexueller Störungen schaut, die in der sexualtherapeutischen Diagnostik erzeugt werden. Ich will das an zwei Beispielen zeigen.

Fehlende Lust: Diagnostik des Mangels

Welche Rolle der jeweilige sexuelle Zeitgeist für die Sexualtherapie spielt, lässt sich besonders prägnant an der diagnostischen Aktualisierung der sexuellen Lustlosigkeit illustrieren, wie sie sich in den jeweiligen Revisionen des DSM darstellt:

 

 

 

Implizites Modell

DSM-III

Inhibited sexual desire

1980

psychodynamisches Konfliktmodell

DSM-III-R/DSM-IV5

Hypoactive sexual desire disorder6 (HSDD)

1987/1994

Sexuelle Aktivität ist gesund

DSM-5

Female sexual interest/ arousal disorder7 Male HSDD

2013

Sex als Option; geschlechtsspezifische Kategorien

Tab. 1: Wandel der Fokussierungen bei der Diagnose von Störungen der sexuellen Lust im DSM

Das DSM-III hatte 1980 noch ein implizites Konfliktmodell zur Grundlage: »Inhibited sexual desire« geht von einem Spannungsfeld zwischen Begehren und Hemmung aus, unterstellt gewissermaßen wohlwollend, dass ein sexuelles Begehren vorhanden sei, das aber durch verschiedene Ängste oder kulturelle Normen gehemmt ist. In dieser Fassung kommt die Dramaturgie des klassischen Repressionsmodells der Sexualität zum Tragen: der sexuelle Trieb im Dauerkonflikt mit den gesellschaftlich-kulturellen Normen, die – wenn sie internalisiert werden – zur Symptombildung führen.

Bereits in der revidierten Fassung des DSM-III-R (1987), dann im DSM-IV (1994) kommt eine ganz andere zeittypische Sichtweise zur Geltung: Die Störung »hypoactive sexual desire...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Einleitung: Sex im Gegenteil10
Dramaturgie der Gegensätze11
Antagonismen13
Das Ja und das Nein zum Sex13
Interesse15
Elf Kapitel, zehn Leitunterscheidungen17
1 Sexualtherapie und der Versuch, einzufangen19
Der akademische Trend: Qualitätskontrolle20
Wirklichkeitskonstruktionen des sexuellen Begehrens21
Fehlende Lust: Diagnostik des Mangels22
Sexuelle Sucht: Diagnostik des Zuviel24
Die Trivialitätskrise25
2 Vom sexuellen Tun zum sexuellen Sein – und zurück29
Sexuelle Motive34
Sexuelle Befriedigung38
Exkurs: Empirische Messung sexueller Befriedigung39
Die kognitive Konstruktion von Zufriedenheit41
Fragen zur sexuellen Befriedigung (Fokus: Erlebnisse)47
Fragen zur sexuellen Zufriedenheit (Fokus:Durchschnitt)48
3 Sexuelle Ressourcen49
Trieb und Ressourcen49
Was ist eine sexuelle Ressource?51
Ressourcen der Vergangenheit, der Gegenwart54
Ressourcenorientierte Interventionen in der Sexualtherapie57
(1) Das ressourcenorientierte Interview58
(2) Das Liebhaber-/Geliebten-Profil oder: Ich bin nicht mein Symptom59
(3) Die Selbst-Ernennung61
4 Das Nein zum Sex64
Exkurs: Das männliche und das weibliche Nein65
Varianten des Nein69
Erotische Barrieren als Übergangskompetenz70
Das Dual-Control-Modell: Das Nein als funktionale Hemmung74
Hemmung als Ressource – Nein als Kompetenz76
Therapie79
Interventionen, die Lustlosigkeit als Problem fokussieren81
Interventionen, die Lustlosigkeit als Kompetenz fokussieren82
5 Innen und außen: Bedeutungen und Handeln85
Sexuelle Skripte85
Sexuelles Verhalten und sexuelle Bedeutungen89
Feste Kopplung von innen und außen89
Lose Kopplung von innen und außen90
Veränderung von Skripten: Assimilation und Akkommodation91
Oszillieren zwischen Assimilation und Akkommodation95
6 Das Dauerthema: Nachhaltige Erotik97
Das Dilemma: Berechenbarkeit und Lebendigkeit98
Paardynamik von Bindung und Autonomie100
Bindungssicherheit und Erotik104
»Sicherung« durch Stagnation105
Exkurs: Das innere Familiensystem in der Sexualtherapie107
Exkurs: Bindungssicherheit und erotisches Sprechen109
Reise in den erotischen Raum112
Therapie: Das Zwei-Schritte-Konzept115
7 Ambivalenzen des sexuellen Begehrens119
Sexuelle Lustlosigkeit119
Exkurs: Das Ideale Sexuelle Szenario (ISS)122
Zwei Systeme: Werte und Begehren127
Paardynamik der Ambivalenz:130
8 Sexuelle Beziehungsangebote – Geben und Nehmen134
Geben und Nehmen: Form und Inhalt137
Geben als Haltung140
Die andere Seite des Gebens: Annehmen143
9 Nehmen und Genommenwerden147
Sexualpartner und Sexualobjekt147
Die Unwiderstehlichkeitsfantasie und der149
Objekt: Politischer und sexueller Diskurs151
Männliches Begehren152
Hingabe158
Partner als Subjekt und Partner als Objekt161
10 Sexuelle Fantasien163
Geschlechtsunterschiede163
Funktion von Fantasien: Kompensation, Kreativität, Antizipation169
Von der Perversion zur »normalen« Erregung172
Analyse von Fantasien176
Und wenn keine Fantasien zu erkennen sind?177
11 Bewegungen179
Die schließende Bewegung: von der Mehrdeutigkeit179
Die öffnende Bewegung: von der Eindeutigkeit180
Öffnen und schließen181
Innehalten184
Sex, öffnen, schließen, innehalten: Ein sparsames Schlusswort zu einem großen Gedanken189
Verzeichnis der Tabellen190
Verzeichnis der Interventionen191
Literatur193
Über den Autor202

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